Wie der antideutsche Autor Thomas Haury „Aufklärung“ für Schulen betreibt
Von Arn Strohmeyer, 06.03.2020
Die Antideutschen haben Einzug in deutsche Lehrerzimmer gehalten. Nun weiß vermutlich kaum ein Lehrer, was sich hinter diesem Namen verbirgt, darum sei hier für Aufklärung gesorgt: Die Antideutschen sind eine politische Sekte, die sich aus linken Nach-68er-Gruppen (die meisten aus dem KB) zu einer den Neoliberalismus und seine Kriege bejahenden Bewegung entwickelt haben. Am Anfang stand dabei nach der Wiedervereinigung noch die nachvollziehbare Angst im Vordergrund, dass Deutschland zu alter Macht zurückkehren und in der Zukunft sogar ein „Viertes Reich“ entstehen könnte, wogegen sie sich mit Vehemenz wandten. Daher auch der Name „Antideutsche“.
Die Antideutschen zogen aus der deutschen Einheit aber noch radikalere Schlüsse. Man müsse wegen des Holocaust „gegen Deutschland“ sein, sie leiteten aus dem Mega-Verbrechen Nazideutschlands dann aber die Hauptmaxime ihrer ganzen Bewegung ab: eine bedingungslose Solidarität, ja die totale Identifizierung mit Juden bzw. Israel. Die Kette der Schlussfolgerungen fand hier aber nicht ihr Ende. Denn die nicht hinterfragbare Solidarität mit Juden und Israel musste – nach ihrem Verständnis des Nahost-Konflikts – zu einem abgrundtiefen Hass auf die Palästinenser bzw. alle Araber und Muslime führen, weil diese Israel ja angeblich bedrohen.
Der Golfkrieg 1991 gegen den Irak Saddam Husseins und der Anschlag auf das World Trade Center in New York (9/11) und die anschließenden „Anti-Terror-Kriege“ der USA fanden die volle Unterstützung der Antideutschen, was wiederum dazu führte, dass sie fanatische Anhänger der führenden Weltmacht USA und ihres kapitalistischen Wirtschaftssystems wurden. Was wiederum zur Folge hatte, dass jede Kritik am Kapitalismus und seines Finanzsystems als „Antisemitismus“ verleumdet wurde. Da die Kritik am Kapitalismus in erster Linie von der Linken kommt, wurden die Vertreter dieser politischen Richtung (einschließlich Menschenrechtlern und Friedensbewegung) zum „antisemitischen“ Feind erklärt.
Linke, wenn sie denn wirklich welche sind, denken eigentlich universalistisch, also internationalistisch und humanistisch und können so gesehen – von Ausnahmen und Fehlentwicklungen abgesehen – gar keine Antisemiten sein. Aber die ideologischen Purzelbäume der Antideutschen machten es möglich: Aus den ursprünglichen Kritikern und Gegnern des Kapitalismus wurden fanatische Verteidiger des Kapitalismus und seiner neoliberalen Ausprägung. Ihr Hauptaugenmerk galt und gilt also inzwischen der Erhaltung dieser Wirtschaftsordnung, was natürlich automatisch eine Delegitimierung jeder Kritik am Neoliberalismus bedeutet, und damit ein mit allen Mitteln – auch verleumderischen und denunziatorischen – geführter Kampf gegen die vermeintlichen „Antisemiten“ auf der linken Seite des politischen Spektrums.
Ein Autor aus dieser ideologischen Richtung, der promovierte Soziologe und Historiker Thomas Haury (Freiburg) hat nun eine Broschüre mit dem Titel Antisemitismus von links. Facetten der Judenfeindschaft herausgebracht, die von der Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage in der Trägerschaft der Aktion Courage e.V. verantwortet und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Ministerin Franziska Giffey, SPD) im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben! gefördert worden ist. Was in dieser Broschüre über Antisemitismus und den Nahostkonflikt ausgeführt wird, kann größtenteils nur als hanebüchen bezeichnet werden und soll im Folgenden auch an Hand vieler Originalzitate aus diesem Bereich widerlegt werden. Man kann davon ausgehen, dass es kein Zufall ist, dass ein Ministerium Publikationen wie diese fördert, in denen der auch offiziell in der deutschen Politik vertretene Antisemitismusbegriff propagiert wird.
Haury behandelt sein Thema nach der von ihm vertretenen antideutschen Ideologie mit folgenden Vorgaben: Der heutige Antisemitismus kommt vor allem von der Linken, wobei nicht ganz klar wird, wen oder was dieser Begriff genau meint. Er leugnet natürlich den alten „klassischen Antisemitismus“ nicht, der in der Gesellschaft weiter existiert, sich aber offenbar nicht mehr virulent äußert. Die Antisemitismus-Gefahr kommt eindeutig von links. Um das zu belegen, bedient Haury sich, wie es in der antideutschen Ideologie üblich ist, eines einfachen, aber sehr wirksamen Tricks: Er trennt nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel, was umgekehrt heißt: zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israels Politik.
Um den Sachverhalt zu verdeutlichen, sei hier ein kurzer Definitionseinschub erlaubt. Judentum ist eine kulturelle Gemeinschaft mit bestimmten Vorgaben, von denen die Religion nur ein Teil ist, denn es gibt auch viele säkulare und sogar atheistische Juden. Der Zionismus ist eine ursprünglich säkulare politische Ideologie (die Staatsideologie Israels), die als Reaktion auf den Antisemitismus und die sehr erfolgreiche Assimilation der Juden im 19. Jahrhundert entstanden ist und sich zum Ziel setzte, einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zu gründen, obwohl dieses Land vollständig von Arabern bewohnt war. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist der heutige Staat Israel, dessen anhaltende koloniale Expansion gegenüber den Palästinensern insgesamt und strukturelle Diskriminierung der israelischen Palästinenser weltweit auf Kritik stößt. Diese Kritik wird von Israel selbst und seinen Anhängern offiziell als „antisemitisch“ bezeichnet, was unverständlich ist, denn in einer Demokratie, die Israel zu sein beansprucht, dürfte es kein Tabu für eine solche Diskussion geben.
Für Haury ist klar: Antizionismus ist Antisemitismus
Ohne ein Begriffsklärung vorzunehmen, was Judentum und Zionismus überhaupt sind, ja indem er Judentum und Zionismus in unzulässiger Weise miteinander vermengt, wirft er vor allem linken Kritikern der israelischen Politik und damit auch des Zionismus vor, in dieser Ideologie „das durch und durch Böse“ zu sehen. Der linke Antizionismus sei ein Weltbild, „das komplizierte politische Konflikte nach einem simplen Gut-Böse-Schema sortieren will, gepaart mit dem nationalistischen Bedürfnis, sich mit einem gegen das Böse kämpfenden ‚Volk‘ zu identifizieren.“ Mit dem „Volk“ sind natürlich die Palästinenser gemeint. Nun wird kaum ein wirklich Linker an den Nahostkonflikt mit den moralischen Begriffen „gut“ und „böse“ herangehen, sondern viel eher mit Kategorien wie Siedlerkolonialismus, humanitäres Völkerrecht, Menschenrechte oder UNO-Resolutionen, die völkerrechtliche Gültigkeit haben. Aber darauf geht Haury gar nicht ein. Für ihn steht apodiktisch fest: Antizionismus ist Antisemitismus.
Das zeugt nicht zuletzt von historischer Unwissenheit. Denn seit dem Aufkommen des Zionismus im 19. Jahrhundert haben Millionen von Juden aus den verschiedensten Gründen (religiösen, patriotischen oder internationalistischen) den Zionismus, also die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina abgelehnt. Wer also – wie Haury – behauptet, Antizionismus sei mit Antisemitismus identisch, behandelt Millionen antizionistischer Juden im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und anderswo (darunter auch die Mehrheit der im Holocaust umgebrachten Juden) als Antisemiten.
Durch eine solche Argumentation entsteht bei Haury ein merkwürdig ahistorisches Bild vom Zionismus und seinem Wirken in Palästina. Politik besteht ja immer aus der Dialektik von postulierten oder geschaffenen Fakten und der Opposition, Auflehnung oder sogar Widerstand dagegen. Haury übernimmt die völlig ahistorische Sichtweise der Zionisten auf ihre Geschichte und Gegenwart, die mythisch und mystifizierend ist. Denn der offiziellen Geschichtsschreibung Israels zufolge ist der „Judenstaat“ plötzlich und einigermaßen unerwartet am 15. Mai 1948 entstanden und ist in der Folgezeit aus einer Wüste durch die Pionierarbeit der Zionisten in eine erfolgreiche Demokratie und in einen blühenden Agrar- und Industriestaat verwandelt worden.
Dass man, um diesen Staat zu schaffen, das Land der einheimischen Palästinenser erst vorsichtig und zurückhaltend besiedelte, es dann teilweise aufkaufte und schließlich gewaltsam raubte (bei der Nakba 1948 und im Krieg 1967), einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung ins Exil trieb (1948 rund 800 000 Menschen, 1967 dann 300 000) und die restlichen Einheimischen im Kern-Israel bis heute als Fremde einstuft, bei Haury kommt all dies mit keinem Wort vor. So kann man die Fakten bei einer Analyse des Nahostkonflikts bequem umgehen. Bei ihm ist immer wieder vom Zionismus die Rede, dem die Linken mit ihrer völlig grundlosen Kritik diffamieren.
Da die Geschichtsschreibung in Israel sich sehr eng an die Vorgaben der Staatsideologie Zionismus anlehnte und damit eher „Geschichtsmythologie“ schuf (der israelische Historiker Tom Segev), entstand in den 90er Jahren in Israel unter den Historikern eine Gegenbewegung, die sich die „neuen Historiker“ nannten. Sie gingen in die Archive und suchten dort nach Belegen, was sich vor allem in dem entscheidenden Jahr 1948 wirklich ereignet hat. Zu dieser Gruppe gehören Simcha Flapan, Ben Morris, Avi Shlaim, Ilan Pappe und Tom Segev, aber auch der Psychoanalytiker Benjamin Beit-Hallahmi muss als Vorläufer dazu gerechnet werden.
Haury nimmt die Erkenntnisse dieser Gruppe, die für die Geschichte des Zionismus von so großer Bedeutung sind, überhaupt nicht zur Kenntnis, sie passen eben nicht ins Weltbild. Um zu demonstrieren, was Zionismus ist und was diese Ideologie aus dem arabischen Palästina gemacht hat, sollen hier zwei von den genannten Historikern und zusätzlich der israelische Soziologe Baruch Kimmerling zu Wort kommen.
„Die Palästinenser waren für die Zionisten gar nicht vorhanden“
Benjamin Beit-Hallahmi beschreibt das Vorgehen der Zionisten gegen die Palästinenser so: „Sie waren nicht Teil einer Gleichung. Sie waren für die Zionisten eigentlich gar nicht vorhanden, waren ‚unsichtbar‘ und kamen in den Visionen und Plänen der Zionisten gar nicht vor. Die einheimische Bevölkerung musste ausgesondert und ausgeschieden (eliminated) werden (…) Der Krieg gegen die Eingeborenen (natives) war schlicht und einfach ein Teil der Umwandlung der Natur des Landes, und sie waren ein anderes Element der Natur, man musste sie [die Eingeborenen] erobern und sie bekämpfen wie die Sümpfe, die Hitze und die Malaria.“
In dieser frühen Zeit der Besiedlung Palästinas erschienen die dort lebenden Araber den Zionisten nicht einmal als eine Herausforderung, sondern lediglich als ein Ärgernis, ein Missstand. Wenn sie Widerstand gegen ihre Verdrängung von ihrem Land leisteten, dann betrachteten die Zionisten das schlicht als „kriminelle Gewalt“. Dieser Widerstand war immer „illegal“. Palästinensische Widerstandskämpfer wurden als „Gangster, Räuber und Banditen“ bezeichnet. Oder man prangerte sie als „Invasoren und Aggressoren“ an. Mit Blick auf die Verfolgungen in der jüdischen Geschichte sah man in palästinensischen Widerständlern auch „heidnische Antisemiten“, die Pogrome gegen friedliche Juden begingen, sogar der Vergleich mit der spanischen Inquisition wurde benutzt. (Original sins. Reflections on the History of Zionism and Israel, London 1992; S. 63f, 130.)
Der Soziologe Baruch Kimmerling (Universität Jerusalem, 2007 verstorben) führte für Israels Politik den Begriff Politizid ein und definierte ihn so: „Mit Politizid meine ich einen Prozess, an dessen Ziel das Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe steht. Dieser Prozess kann auch eine teilweise oder vollständige ethnische Säuberung des ‚Landes Israel‘ beinhalten. Diese Politik wird das Wesen der israelischen Gesellschaft unausweichlich zerstören und die moralische Basis des jüdischen Staates im Nahen Osten untergraben. So gesehen wird das Ergebnis ein doppelter Politizid sein – das Ende der Palästinenser, aber auf lange Sicht auch das Ende der jüdischen Gemeinschaft. Die wichtigsten Werkzeuge dafür [für den Politizid] sind Mord, lokal begrenzte Massaker, Eliminierung der Führung und der intellektuellen Elite, die physische Vernichtung der Infrastruktur und der Gebäude politischer Institutionen, Kolonisierung, künstlich erzeugte Hungersnöte, soziale und politische Isolation, Umerziehung und gebietsweise ethnische Säuberungen.“ (Politizid, Kreuzlingen/ München 2003, S. 7f.)
Ilan Pappe bilanziert die „ethnische Säuberung Palästinas“ folgendermaßen: „Im März 1948 treffen sich David Ben Gurion (später der erste Ministerpräsident Israels) und elf führende Vertreter der jüdischen Einwanderer in Tel Aviv; sie beschließen die ethnische Säuberung Palästinas. Noch während des britischen Mandats beginnen die Angriffe, geführt von Moshe Dayan (später Verteidigungs- und Außenminister), Menachem Begin (später Ministerpräsident und Außenminister) und Yitzhak Rabin (später Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger). Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer werden zwangsgeräumt, viele dem Erdboden gleichgemacht; 800 000 Menschen fliehen. Es kommt zu Vergewaltigungen, zu Plünderungen und Massakern auch an Frauen und Kindern. Heute bedecken Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen die einstigen Dörfer.“ (Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt/ Main 2007, Abspann des Buches)
Die Beispiele des unmenschlichen Vorgehens der Zionisten gegen die Palästinenser ließen sich beliebig verlängern. Zudem dauern die Unterdrückung und Vertreibung dieses Volkes bis heute an. Es fällt deshalb schwer zu verstehen, dass Israel-freundliche, antideutsche Autoren wie Haury die Realitäten Zionismus, Siedlerkolonialismus und Besatzung überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, sondern den Spieß umdrehen und Kritiker dieses völlig inhumanen Systems des Antisemitismus bezichtigt werden. Sie müssen sich dann von einem Israeli, dem sehr renommierten Philosophen Omri Boehm sagen lassen, dass der Zionismus nicht mit humanistischen Werten vereinbar sei. (Interview DLF, 8.02.2015)
Man muss also fragen, warum Intellektuelle wie Haury sich die Ideologie des Zionismus vollständig zu eigen machen und jeder Empathie und jedem Verständnis für die unterdrückten Palästinenser eine Absage erteilen, das Leiden dieses Volkes gar nicht sehen wollen. Man muss dafür eine missglückte Verarbeitung der deutschen Vergangenheit verantwortlich machen. Es gab zwei Möglichkeiten der Reaktion auf die Verbrechen der Nazis – die universalistische „Das darf nie wieder passieren – keinem Menschen auf dieser Welt!“ und die partikularistische „Das darf uns – den Juden – nie wieder passieren!“. Israel hat sich für die zweite Version entschieden und die deutsche Mainstream-Politik und Autoren wie Haury haben sich dem weitgehend angepasst.
Vollständige Identifizierung mit Juden
Der israelische Soziologe und Philosoph Moshe Zuckermann sieht als Grund für eine solche völlige Identifizierung mit „Juden“ und Israel (wie sie Haury und seine antideutschen Mitstreiter betreiben) auch eine missglückte Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit. Er fragt, mit welchem Israel sich die Antideutschen identifizieren und antwortet: Es ist ein abstraktes, seiner Wirklichkeit quasi enthobenes Israel, das man sich als ideologische Zufluchtstätte zurechtkonstruiert hat, dabei werden die Verbrechen Israels an den Palästinensern aber völlig ausgeklammert. Die Antideutschen nehmen also Israel in seiner Realität gar nicht wahr, dieser Staat ist für sie nur eine Projektionsfläche ideologisch verformter deutscher Befindlichkeiten.
Zuckermann fragt: „Sollte sich etwa die abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich verkommenen und verbrecherischen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen erweisen? Man misst diese Möglichkeit normalerweise der deutschen Solidarität mit den Palästinensern bei. Muss man nicht annehmen, dass sie sich viel gravierender, wenngleich auch glänzend kaschiert, in der überbordenden Solidarität mit dem Judenstaat niedergeschlagen hat?“ Totale Identifizierung mit Israel also, um das eigene Schuldgefühl abzutragen. Zuckermann sieht in der Überidentifizierung mit „Juden“ also eine Schuldabtragung, eine selbst erteilte Vergebung.: „Wenn man selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘, sondern ‚Opfer‘, hat also etwas nagend Quälendes an sich selbst ‚wiedergutgemacht‘.“ (Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit, Frankfurt/ Main 2018, S. 177f.)
Im Folgenden soll auf die wichtigsten Argumente Haurys, die ja zugleich massive Antisemitismus-Vorwürfe gegen „Linke“ darstellen, eingegangen werden. Zunächst der Antisemitismus. Was Haury über den modernen Antisemitismus (den vor Auschwitz) schreibt, ist sicher richtig, aber auch längst Gemeingut: dass die Juden in dieser Weltanschauung als absolute Feinde und als Gegenbild zur Moderne gesehen wurden, als „Ausbeuter“ und „Parasiten“, die über Geld, Handel und Banken „raffendes Kapital“ schaffen würden, das im Gegensatz zum „schaffenden Kapital“ der ehrlichen Arbeit eines Volkes stehe. Dass man die Juden kollektiv dämonisierte, weil sie angeblich (über Plutokratie und/ Bolschewismus usw.) die „Weltherrschaft“ anstrebten, dass sie hinter den Kulissen überall die Fäden für ihre Interessen ziehen würden, dass sie der Inbegriff alles Bösen seien, weil sie eine „andere“ Rasse sein sollten. Solche Verschwörungstheorien sind hinlänglich bekannt. Das ist das antisemitische Weltbild des 19. Jahrhunderts, das dann unter Hitler seinen völkermörderischen Höhepunkt fand.
Was hat ein solcher ideologischer Irrationalismus aber mit der ‚Linken‘ zu tun? Im Wesentlichen erhebt Haury folgende Hauptvorwürfe gegen die ‚Linke‘: Sie verkehre erstens die Rollen von Tätern und Opfern – Juden würden von unschuldigen Opfern zu Tätern umgedeutet, die mit Nazis identisch seien. Das Vorgehen der Israelis selbst rufe zudem Antisemitismus hervor. Letzten Endes behaupte die ‚Linke‘ das, um die Schuld der Täternation zu minimieren und sich selbst von ihrer Geschichte zu entlasten. Dann wird zweitens der Kritik der ‚Linken‘ am Finanzsektor und am Kapitalismus eine bedenkliche „Nähe“‘ zum Antisemitismus unterstellt. Genannt werden ausdrücklich die Kritik des damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering am Vorgehen der großen Hedgefonds, die dieser als „Heuschrecken“ bezeichnet hatte, weil sie Firmen und Industriebetriebe aufkauften, sie in Teile zerlegten und dann mit Profit verkauften, wobei sehr viele Menschen um ihren Arbeitsplatz gebracht wurden. Für Haury ist eine Kritik an solchen Methoden Antisemitismus.
Auch die Kritik Gewerkschaften verdi und der IG-Metall sowie der occupy-Bewegung-Wall-Street an einem solchen „Raubtierkapitalismus“ enthält für Haury eine „deutliche strukturelle Nähe zur antisemitischen Weltsicht“, vor allem wegen der Verwendung von Tiermetaphern wie „Heuschrecken“, Raubtiere“ und „Stechmücken mit langem Saugrüssel“. Drittens stößt sich Haury an dem Begriff einer „proisraelischen“ oder „zionistischen Lobby“, auch das ist für ihn ein Beispiel für Antisemitismus. Schließlich gehört hierhin viertens auch noch der Komplex BDS.
Können Juden keine „Täter“ sein?
Zur Umdeutung der Rollen von Opfern und Tätern hat der Israeli Moshe Zuckermann – wie oben angeführt – eigentlich alles gesagt. Gerade der Linken (wenn der Begriff weit gefasst ist und damit auch die Kritiker der israelischen Politik gemeint sind) kann man eine mangelnde Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit nicht vorwerfen. Wenn die NS-Verbrechen überhaupt aufgearbeitet worden sind, dann von links, denn auf der Rechten überwog immer das Schlussstrich-Denken.
Zu der Behauptung, dass sich die jüdischen Israelis nicht als Täter an den Palästinensern versündigt hätten, kann man nur kommen, wenn man die Geschichte des Zionismus leugnet und den zionistischen Staat mit seiner völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik als Unschuldslamm betrachtet, was Haury tut. Es waren zudem ja auch nicht alle in Israel lebenden Juden Opfer des Holocaust, sondern etwa zwei- bis dreihunderttausend Überlebende aus den Lagern, die aber in Israel wenig willkommen waren, weil diese geschundenen und gebrochenen Menschen nicht dem Ideal des „neuen Juden“ entsprachen, eines jungen, tatkräftigen und wehrhaften Pioniertyps, der den neuen Staat aufbauen sollte. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina (der Jischuw) vor der Staatsgründung hatte zudem wenig oder gar kein Interesse am Holocaust gezeigt, während dieser in Europa stattfand, weil der Aufbau des Staates absoluten Vorrang genoss und man durch den grassierenden Antisemitismus in Deutschland und Europa weiteren Zulauf von jüdischen Einwanderern erhoffte. Tom Segev hat diese Fakten in seinem Buch Die siebte Million (das sind die Überlebenden) ausführlich beschrieben.
Zum Beleg, dass keineswegs alle Israelis sich als Opfer fühlen oder den Opferstatus für sich beanspruchen (was Haury offensichtlich glaubt), ja diesen sogar als Gefahr ansehen, seien hier kritische Stimmen angeführt. Abraham Burg, ehemaliger Vorsitzender der Jewish Agency und Sprecher des israelischen Parlaments (der Knesset) sieht es als eine Fehlentwicklung Israels an, dass es aus der Opferrolle eine staatliche Ideologie gemacht hat und sieht für Israel nur eine Zukunft, wenn es sich vom Holocaust löst.
Er schreibt: „Die zionistische Reaktion [auf den Holocaust, genau gesagt aber erst nach dem Eichmann-Prozess 1961] erfolgte umgehend. Israel erklärte sich zum Erben der Opfer, zu ihrem alleinigen offiziellen Vertreter in der Welt und ernannte sich zum Sprecher der ermordeten Millionen. Wir bürgerten sechs Millionen Tote ein. Das junge Israel, das als gesunde Alternative zur kranken Diaspora gedacht war, hielt den Holocaust-Opfern posthum vor: ‚Wir haben es euch gesagt‘ und transplantierte ihre abgetrennten Organe in seinen jungen Körper. Von einer neuen Alternative zur Diaspora verwandelte sich das junge bahnbrechende Israel in ein Land mit der Mentalität einer alten jüdischen, für immer verfolgten Kleinstadt.“ (Hitler besiegen. Warum sich Israel endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt/ New York 2009, S.90.)
Der israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard sieht in der von seinem Staat vertretenen Rolle des ewigen Opfers die Gefahr eines Nicht-Wahrnehmen-Könnens der Realität: „Was können wir aus Israels Pathologie lernen? Dass es ein bestimmtes, tiefes, unterdrücktes Gefühl gibt, über das wir zwar häufig reden, aber das wir noch lange nicht aufgearbeitet haben, so dass man uns immer noch zu unterdrückten Handlungen drängt. Ich nenne das Gefühl unser ‚Schaudern‘, es ist unsere existentielle Bedrohung. Dieses Schaudern gründet nicht nur auf dem Wunsch der Araber, uns zu vernichten, der ja teilweise noch existiert, sondern auch auf unserer Vergangenheit: dem Holocaust und zahlreichen Pogromen. Das Schaudern macht es uns schwer, zwischen einer realen, die Existenz bedrohenden Gefahr und unserer verzerrten Wahrnehmung unterscheiden zu können. Wir weigern uns, Dinge in einem anderen Licht zu sehen als in dem unserer schwierigen Vergangenheit.“ (Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonflikts, Düsseldorf 2001, S.107.)
Moshe Zuckermann sieht in der israelischen Ideologie, ewig das Opfer sein zu wollen, sogar einen Verrat an den Opfern des Holocaust: „Zentral wirkt sich dabei die instrumentelle Vereinnahmung der Opferkategorie aus: Man basiert die Selbstviktimisierung [sich selbst zum Opfer erklären] auf der paranoiden Grundannahme, dass ‚alle Welt gegen uns‘ sei, auf dem religiös begründeten Fundamentalglauben, ‚dass wir allein in der Welt‘ seien, mithin uns ‚in alle Ewigkeit auf Waffengewalt‘ werden stützen müssen – ohne aber Rechenschaft darüber ablegen zu wollen, welchen gravierenden Anteil man an der Genese der beklagten Einsamkeit selbst hat beziehungsweise wie blind man mittlerweile gegenüber dem unabweisbaren Kausalnexus zwischen der israelischen Gewaltanwendung gegen die Palästinenser und der weltweiten Verurteilung Israels angesichts dieser verbrecherischen Okkupationspolitik geworden ist.
Sich selbst als Opfer zu wähnen, während man sich historisch zum Täter gewandelt hat, ist letztlich nichts weiter als moralischer Verrat an den historischen Opfern des eigenen Kollektivs, deren (beziehungsweise deren ‚Andenken‘) man sich perverserweise bedient, um die eigene, gewaltdurchwirkte, immer neue Opfer erzeugende Politik zu rechtfertigen. Denn genau das bedeutet ja, der Opfer im Stande ihres Opferseins nicht gedenken zu wollen. Wer sich selbst bewusst einmauert, darf sich nicht wundern, wenn es ihm im eigenen Gemäuer einsam werden mag, unter Umständen sogar lebensbedrohlich einsam; wenn er diese Einsamkeit zur Ideologie erhebt, mithin das eigene falsche Bewusstsein mit der Erinnerung an die Verfolgungsgeschichte des eigenen Kollektivs verfestigend begründet, dann instrumentalisiert er nicht nur das Andenken der Opfer nämlicher Verfolgungsgeschichte, sondern pervertiert es aus letztlich narzisstischen Beweggründen und Bedürfnissen.“ (wie oben, S. 20f.)
Plädoyer für das Vergessen
Der Diskurs über die Umkehrung von Täter- und Opferrolle (was ja nicht gleich eine Gleichsetzung von Zionisten und Nazis bedeutet) ist in Israel offenbar kein Tabu, ist in den Augen von Haury und Vertretern seiner Richtung reiner Antisemitismus. Angeregt wurde diese Diskussion im Übrigen von Jehuda Elkana, einem Auschwitz-Überlebenden, der 1988 einen Aufsatz mit dem Titel Für das Vergessen (Haaretz 16.3.1988) vorlegt hatte, in dem er die Frage zu beantworten versuchte, wie Israelis zu Tätern werden könnten. Der Artikel erschien im Gefolge mehrerer Presseberichte über Exzesse israelischer Soldaten in den besetzten Gebieten. Elkana fragte sich, was die israelischen Soldaten zu ihren brutalen Taten veranlasst habe, und kam zu dem Schluss, dass es nicht etwa individuelle Frustration gewesen sei, sondern eine tiefe existentielle Furcht, die von bestimmten Interpretationen des Holocaust genährt werde und auf dem Glauben basiere, dass die ganze Welt gegen das jüdische Volk – dieses ewige Opfer – eingestellt sei.
Er schrieb: „In diesem uralten Glauben, dem sich viele Menschen auch heute verschreiben, sehe ich Hitlers paradoxen und tragischen Sieg.“ Hätte der Holocaust das Bewusstsein des Volkes nicht so tief durchdrungen, hätte der Konflikt zwischen den Juden und den Palästinensern nicht zu so vielen „anormalen“ Reaktionen geführt und wären die diplomatischen Bemühungen wahrscheinlich nicht im Sande verlaufen.
Elkana geht dann auf die Gefahren des Erinnerns ein: „Eine Atmosphäre, in der eine ganze Nation ihre Beziehung zur Gegenwart und ihre Gestaltung der Zukunft von den Lehren der Vergangenheit abhängig macht, ist eine Gefahr für die Zukunft einer jeden Gesellschaft, die wie in anderen Ländern, in relativer Gelassenheit und relativer Sicherheit leben will. (…) Sogar die Demokratie selbst ist bedroht, wenn die Erinnerung der Nazi-Opfer im politischen Prozess eine aktive Rolle spielt. Alle faschistischen Regime mit ihren Ideologien haben das sehr wohl verstanden. (…) Wenn man vergangene Leiden als politisches Argument gebraucht, ist das so, als erwecke man die Toten zu Partnern im demokratischen Prozess der Lebenden.“
Er sehe keine größere Gefahr für die Zukunft Israels als die Tatsache, dass der Holocaust tief und systematisch im Bewusstsein der israelischen Öffentlichkeit eingepflanzt werde. Er plädiere deshalb für das Vergessen. Es gelte, sich für das Leben einzusetzen, die Herrschaft der historischen Erinnerung dürfe nicht das Leben der Menschen in Israel bestimmen, was aber nicht Geschichtsvergessenheit bedeuten dürfe. Natürlich stießen die Ausführungen Elkanas nicht nur auf Zustimmung, sie zeigen aber, dass selbst in diesem Staat ein kritischer Diskurs über die Rolle von Tätern und Opfern möglich ist, der für Haury reiner Antisemitismus wäre. Nur der jüdische Publizist und Zionist Hendryk M. Broder fällt da aus der Rolle, auf den sich Haury des Öfteren positiv beruft. Denn er bekannte zynisch: „Es stimmt, Israel ist heute mehr Täter als Opfer. Das ist auch gut und richtig so, nachdem es die Juden fast 2000 Jahre lang mit der Rolle der ewigen Opfer versucht und dabei nur schlechte Erfahrungen gemacht haben. Täter haben meistens eine längere Lebenserwartung als Opfer und es macht mehr Spaß, Täter als Opfer zu sein.“ (Jüdische Allgemeine 17.03.2005, S.3.)
Ist Kritik am Kapitalismus antisemitisch?
Es ist ein antideutsches Credo und deshalb auch für Haury, dass jede Kritik am Kapitalismus und dem internationalen Finanzsektor leicht in antisemitisches Fahrwasser geraten kann oder sogar direkt antisemitisch ist. Hier wird im Grunde behauptet, dass es auch Antisemitismus geben kann, in dem der Begriff „Jude“ oder „Juden“ gar nicht vorkommt, dass sich also der Antisemitismus schon in gewissen Anspielungen oder Codewörtern versteckt wie Kapitalismus, Börse, internationales Finanzsystem oder Wall-Street. Auch die Antideutschen und Anhänger des israelischen Mainstreams haben also wie die wirklichen Antisemiten ihre Stereotypen und Verschwörungstheorien. Nun muss ja die Frage erlaubt sein, warum das neoliberale Wirtschaftssystem, das derzeit global vorherrschend ist, und der Finanzsektor nicht wie alle anderen politischen und ökonomischen Tatbestände und Probleme einem öffentlichen Diskurs unterliegen sollen.
Es ist kein Geheimnis, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik durch Privatisierung und Deregulierung zum Abbau des Sozialstaats geführt hat und den gesellschaftlichen Reichtum von unten nach oben verteilt hat. Damit verbunden ist eine deutliche Gefährdung demokratischer Rechte. Die Finanzkrise des Jahres 2008, die durch weltweite, zum Teil kriminelle Spekulationen ausgelöst worden war und bei der das globale Finanzsystem völlig aus der Kontrolle geraten war, konnte nur durch demokratisch nicht legitimierte, umfassende finanzielle Hilfsmaßnahmen der Staaten („Rettungsschirme“) beigelegt werden, wodurch viel Geld für andere Bereiche – Infrastruktur, Gesundheit, Soziales, Bildung, Umwelt usw. – verloren ging. Eine nie gekannte und anhaltende Vermögenskonzentration, Steuerhinterziehung, die schamlose Ausnutzung von Offshore oder EU-internen Steuerparadiesen (Panama-Papers, Lux Leaks und andere) gehören zu den Tatsachen.
Sozialwissenschaftler haben diesen Vorgang als „kapitalistische Elitendemokratie“ bezeichnet und kritisiert, dass diese Entwicklung weitgehend unidentifizierbar und damit gleichsam unsichtbar abgelaufen ist. Aber ist Kritik an diesen Vorgängen antisemitisch, weil von dieser Kritik vielleicht auch jüdische Profiteure und Spekulanten betroffen sein könnten? Unterstellungen in dieser Richtung sind absurd, weil sie den öffentlichen Diskurs über die Wirtschafts- und Finanzpolitik und auch die Wissenschaftsfreiheit in Frage stellen. Die Vermutung drängt sich auf, dass Leute wie Haury sich eher abschirmend und schützend vor den internationalen Markt- und Finanzradikalismus stellen wollen und die Interessen der Hauptakteure dort vertreten.
Gibt es eine zionistische Lobby?
Auch der Begriff einer „zionistischen“ oder „jüdischen“ Lobby stößt Haury auf und wird von ihm als antisemitisch angeprangert. Nun hat heute so gut wie jeder Lebensbereich (Wirtschaft, Industrie, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Handwerk, Kirchen und kulturelle Einrichtungen) seine Lobby. Im EU-Transparenzregister in Brüssel waren am 6. August 2020 insgesamt 11 900 Lobby-Organisationen aufgeführt (FAZ 13.08. 2019). Warum sollen das Judentum und die Zionisten, die weltweit vernetzt sind, nicht auch ihre Lobby und deren Vertreter haben? Was wäre daran gleich antisemitisch? Der Lobbyismus ist eine Realität und hängt eng mit dem gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen System zusammen. Dass die Zionisten schon immer in den USA eine starke Lobby hatten und noch haben, ist kein Geheimnis. In jeder Geschichte des Zionismus ist das nachzulesen. Ohne eine zionistische Lobby in den USA wäre es sicher nicht zu dem für Israel so günstigen und für die Araber so unvorteilhaften Teilungsbeschluss der UNO 1947 gekommen und wahrscheinlich auch nicht zur Gründung Israels.
Tom Segev beschreibt das sehr erfolgreiche Wirken der zionistischen Lobby in Washington und New York in seiner Ben Gurion-Biographie ausführlich – und zwar das Wirken dieser Lobby in vorstaatlicher Zeit und nach der Staatsgründung 1948. Immer wenn die Zionisten Geld brauchten – für den Staatsaufbau oder für Waffen – schickten sie ihre Emissäre in die USA (zumeist war es Ben Gurion selbst oder Golda Meir) und trommelten dort wohlhabende Juden zusammen, die dann auch reichlich spendeten. Bei Segev heißt es zum Jahr 1948: „Das meiste Geld stammte aus Amerika. Golda Meir war es gelungen, bei den Juden dort eine für damalige Verhältnisse beinahe fantastische Summe lockerzumachen: an die 50 Millionen Dollar; dreißig Millionen davon waren für Palästina bestimmt. ‚Ohne dieses Geld weiß ich nicht, wie wir den Unabhängigkeitskrieg überstanden hätten‘, sagte sie.“
Ben Gurion sei bewusst gewesen, schreibt Segev, „dass die zionistische Zukunft in hohem Maß vom Geld der amerikanischen Juden abhängig war.“ Als der Krieg gegen die Araber 1948/49 gewonnen war, führte Ben Gurion zwei Gründe für den Sieg an: erstens, dass die Araber „Trottel“ und militärisch außerordentlich schwach gewesen seien und zweitens die Unterstützung, die Israel von den amerikanischen Juden erhalten habe – Soldaten, Militärexperten und Geld.
An anderer Stelle schreibt Segev: „Er [Ben Gurion] wusste auch, dass das zionistische Aufbauwerk ohne den Einfluss, das Geld und die Wählerstimmen der amerikanischen Juden nicht vorankommen würde und dass viele amerikanische Juden an ihren Wohnorten mehr ausrichten konnten als in ihrer historischen Heimat. (…) Es lag also im Interesse des historischen Aufbauwerks in Erez Israel, dass Juden weltweit in ihren Ländern stark und einflussreich waren. (…) Ähnlich den jüdischen Unterstützern Israels, die nicht selten unter Verstoß gegen amerikanische Gesetze einen Teil des Unabhängigkeitskrieges finanzierten, wurde später auch der Kernreaktor in Dimona durch Spenden von Juden in aller Welt mitfinanziert.“ (Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, München 2018, S. 155, 435, 472, 698f, 497f.)
Die AIPAC und der US-Kongress
Der amerikanisch-jüdische Historiker Peter Novick von der Universität Chicago geht in seinem viel gerühmten Werk Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord [in den USA, muss man ergänzen] ausführlich auf die jüdische Lobby dort ein. Zunächst fragt er, warum Amerika stets hinter Israel gestanden habe. Seine Antwort: Washington habe den zionistischen Staat während des Kalten Krieges unterstützt, weil man einen Verbündeten im Nahen Osten gegen die Sowjetunion und ihre Vasallen gebraucht habe. Später dann habe man Israel unterstützt, um Frieden in der Region mittels eines Gleichgewichts zu bewahren.
Zur Rolle der jüdischen Lobby in den USA merkt Novick an: „Zusätzlich zu den geopolitischen Erwägungen, die Entscheidungen in der Regierung beeinflusst haben, kam noch die lautstarke ‚jüdische Lobby‘ hinzu, ausgehend vom American Israel Public Affairs Committee. AIPAC, das mit Hilfe Hunderter von politischen Aktionskomitees operierte. Es hat diejenigen Kongressmitglieder großzügig belohnt, die Israel unterstützt hatten, und jene unbarmherzig bestraft, die Israels Politik kritisch gegenüberstanden. Der spektakulärste Sieg der AIPAC, aber bei weitem nicht der einzige, war die Niederlage des Senators Charles Percy, Vorsitzender der Foreign Relations Committee (des Auswärtigen Ausschusses), der sich einmal zu oft zugunsten der Palästinenser ausgesprochen hatte. ‚Alle Juden in Amerika, von der einen Küste zu anderen, haben sich verbündet, um Percy des Amtes zu entheben‘, prahlte AIPAC-Direktor Tom Dine. ‚Und Amerikas Politiker haben verstanden.‘“
Für Haury ist es auch ein Kriterium für Antisemitismus, wenn behauptet wird, Juden spielten in den Medien der USA eine entscheidende Rolle. Für Novick ist das überhaupt kein Problem. Er stellt die Frage, warum die amerikanische Regierung es den Bürgern des Landes zur Pflicht gemacht habe, sich den Film Schindlers Liste anzusehen. Er schreibt: „Ein Gutteil der Antwort ist in der Tatsache zu suchen – die dadurch nicht weniger eine Tatsache wird, dass Antisemiten sie zu einem Ärgernis erklären – , dass die Juden eine wichtige und einflussreiche Rolle in Hollywood, in der Fernsehindustrie sowie beim Verlegen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern spielen. Jeder, der die große Aufmerksamkeit erklären möchte, die dem Holocaust während der letzten Jahre in diesen Medien zuteil wurde, ohne diese Tatsache einzubeziehen, wäre naiv oder unaufrichtig. Dieser Teil der Antwort hat natürlich nichts mit einer jüdischen Verschwörung zu tun – die Juden in den Medien tanzen nicht nach der Pfeife der ‚Ältesten von Zion‘.“
Während des Krieges von 1967, den Israel gegen die arabischen Staaten führte, wuchs in den USA unter der jüdischen Bevölkerung die Angst um das Überleben von Israel. Es gab eine Unmenge von Kundgebungen und Spendenveranstaltungen. Um die Rolle der jüdischen Lobby in diesem Zusammenhang deutlich zu machen, zitiert Novick den Funktionär der jüdischen Anti-Defamation-League (ADL) Oscar Cohen, der an einen Freund schrieb, dass das organisierte amerikanische Judentum eine Agentur der israelischen Regierung sei, deren „Instruktionen es von Tag zu Tag befolgt“. Novick fährt fort: „Das allgemeine jüdische Verhalten erfuhr eine gründliche ‚Israelisierung‘. Zum Kennzeichen des guten Juden oder der guten Jüdin wurde die Tiefe seiner oder ihrer Bindung an Israel. Das Versäumnis, religiöse Pflichten wahrzunehmen und eine fast vollständige Unkenntnis des Judaismus waren erlaubt; das Fehlen der Begeisterung für die israelische Sache (ganz zu schweigen von öffentlicher Kritik an Israel) wurde unverzeihlich.“ (S. 198, 222f, 267f.)
Mearsheimers und Walts aufsehenerregendes Buch über die Israel-Lobby
Den besten Beleg für die Existenz einer sehr einflussreichen jüdischen Lobby in den USA haben die beiden Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer (Universität von Chikago) und Stephen M. Walt (Harvard Universität) mit ihrem Buch Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflusst wird (Frankfurt/ Main 2007) geliefert. Sie demonstrieren ihre Thesen im Detail unter anderem anhand der US-Politik gegenüber Syrien, dem Irak und Iran. Aufschlussreich ist in diesem Buch das Kapitel: Die Lobby gegen die Palästinenser. Der damalige US-Präsident George W. Bush vertrat im Konflikt Israels mit den Palästinensern zunächst eine gemäßigte Linie und setzte sich für die Bildung eines palästinensischen Staates ein. Er hatte offenbar begriffen, dass es im nationalen Interesse der Amerikas lag, den arabisch-israelischen Konflikt so schnell wie möglich zu lösen.
Israels damaliger Ministerpräsident Ariel Sharon und die Israel-Lobby in den USA lehnten eine solche Lösung aber ab und setzten unter Berufung auf den Anschlag von 9/11 in New York voll auf den „Krieg gegen den Terrorismus“, wobei man diesen Krieg mit Israels „Krieg gegen den Terror“ (das heißt gegen die Palästinenser) gleichsetzte und den Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, PLO-Chef Jassir Arafat, als den Hauptakteur des Terrors ausmachte. Er sei das größte Hindernis für eine Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Sharon und die Lobby setzten sich gegen Bush durch: „Sharon und die Israel-Lobby hatten es mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und seinem Außenminister Colin Powell aufgenommen und den Sieg davongetragen.“ Die beiden Autoren zitieren die führende spanische Zeitung El País, die zu der Niederlage Bushs anmerkte: „Wenn das Gewicht eines Landes am Grad seines Einflusses auf Ereignisse gemessen wird, dann ist nicht Amerika, sondern Israel die Supermacht.“ Und Walt und Mearsheimer ergänzen: „Es waren die proisraelischen Kräfte in den USA und nicht Sharon oder Israel, die die Hauptrolle spielten, und Bushs Anstrengungen, eine gerechtere, fairere Politik zu betreiben, zunichtemachten.“
Die Existenz einer jüdischen Lobby zu leugnen und jede gegenteilige und gut belegte Behauptung gleich des Antisemitismus zu zeihen, wie Haury das tut, führt sich selbst ad absurdum. Mearsheimer und Walt haben das natürlich gesehen und antworten darauf: „Die gegenwärtigen Verhältnisse im Nahen Osten stellen für die Hardliner der Israel-Lobby natürlich ein ernsthaftes Dilemma dar. Statt einen schwachen, von Feinden umringten Staat zu verteidigen, der nach einer großen historischen Katastrophe [dem Holocaust] geschaffen wurde, müssen sie heute einen mächtigen, modernen und prosperierenden Staat verteidigen, der seine überlegene Stärke benutzt, um Palästinensern Land wegzunehmen, ihnen umfassende politische Rechte zu verwehren und mit Problemen belasteten Nachbarstaaten wie dem Libanon hart zuzusetzen.“
Und weiter: „Wenn dieses Vorgehen bei vernünftigen, gemäßigten Kreisen Kritik auslöst, sehen sich diese Gruppen gezwungen, Menschen zu verunglimpfen und zu marginalisieren, die offenkundig weder Extremisten noch Antisemiten sind. Neonazis und Holocaustleugner zu verurteilen ist durchaus sinnvoll. (…) Je mehr die Hardliner der Lobby sämtliche Kritiker unterschiedslos angreifen, desto mehr offenbaren sie, dass sie sich von der allgemeinen amerikanischen Verpflichtung auf freie Meinungsäußerung und offene Diskussion verbschiedet haben. Und wenn praktisch jede Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, läuft dieser Vorwurf Gefahr, jeden Sinn zu verlieren.“ (S. 286f, 295, 484f.)
Diese letzten Sätze der beiden Politologen sind zwar auf amerikanische Verhältnisse bezogen, sind aber auf die gegenwärtige Situation in Deutschland gut anwendbar. Haury und die Anhänger Israels tun alles, ihre Sicht auf den Nahostkonflikt mit allen Mitteln durchzusetzen. Die Vertreter der universalistischen Richtung, die sich für die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte – gerade auch für die Palästinenser – einsetzen, haben kaum noch eine Chance, Säle für ihre Veranstaltungen zu bekommen oder in den wichtigen und einflussreichen Medien zu Wort zu kommen. Diese Entwicklung ist durch die BDS-Resolution, die der Bundestag beschlossen hat, noch verstärkt worden. Die Meinungsfreiheit, eine der elementarsten Rechte in jeder Demokratie, ist dadurch in ernsthafte Gefahr geraten.
BDS: Auch friedlicher Widerstand gegen Unrecht soll antisemitisch sein
Der vierte Punkt, den Haury als antisemitisch ausmacht, ist die aus der palästinensischen Zivilgesellschaft kommende BDS-Bewegung – Boykott, Disvestment, Sanktionen. Haury kann sich da auf die Resolution des Bundestages vom 17. Mai 2019 beziehen, die BDS auch als antisemitisch verurteilte. Er muss aber zugestehen, dass sogar israelische Intellektuelle gegen diesen Beschluss protestierten und BDS nicht als antisemitisch ansehen. Der israelische Journalist Gideon Levy von der Tageszeitung Haaretz schrieb zu der Bundestagsresolution: Deutschland solle sich schämen, es sei nun zum Handlanger der israelischen Politik geworden. Es mag in der BDS-Bewegung vielleicht auch ein paar Antisemiten geben, fuhr er fort, aber die Mehrheit der BDS-Anhänger seien Personen mit Gewissen, die glaubten, dass ein Apartheidstaat es verdient habe, boykottiert zu werden. „Was ist daran antisemitisch?“ fragt er.
Zur Vorgeschichte von BDS: Im Jahr 2004 hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag in einem Gutachten Israels Mauerbau als völkerrechtswidrig verurteilt, soweit er auf palästinensischem Boden stattfinde (die Trennmauer umfasste bereits 2015 680 Kilometer, obwohl die völkerrechtlich anerkannte „grüne Linie“ von 1967 nur 320 Kilometer lang ist). Die Staatengemeinschaft wurde aufgefordert, die illegale Situation, also die Ergebnisse des Mauerbaus nicht anzuerkennen und keine Hilfe dabei zu leisten, die Situation aufrechtzuerhalten, die durch den Bau der Mauer entstanden sei. Doch als die Staatengemeinschaft auf das Gutachten nicht reagierte, riefen 170 Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS auf. In dem Aufruf heißt es: „Die gewaltlosen Strafmaßnahmen müssen so lange aufrechterhalten werden, bis Israel seiner Verpflichtung nachkommt, den Palästinensern das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung zuzugestehen, das zur Gänze den Maßstäben des internationalen Rechts entspricht.“
Was sind außerdem die Ziele von BDS? Sie will erstens die Besetzung allen arabischen Landes beenden und die Mauer abreißen, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv einschränkt. (Hier hätten die Initiatoren allerdings etwas präziser definieren müssen, was unter „arabischem Land“ zu verstehen ist, was später aber erfolgt ist.) Die Bewegung strebt zweitens an, dass das Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bürger/innen auf völlige Gleichheit anerkannt wird. Diese Bevölkerungsgruppe ist durch das neue israelische Nationalstaatsgesetz sogar offiziell zu Bürgern zweiter Klasse geworden. Drittens sollen die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UNO-Resolution vereinbart wurde, respektiert, geschützt und gefördert werden.
Es ist nicht zu erkennen, was an diesen Forderungen antisemitisch sein soll. Sie berufen sich alle auf das internationale Recht. Man kann den Vorwurf nur so erklären: Wenn die Palästinenser Gewalt anwenden, um ihre Rechte durchzusetzen, sind sie „Terroristen“, obwohl das Völkerrecht jedem unterdrückten Volk ein – auch gewaltsames – Widerstandsrecht zu gesteht, wenn die Gewalt nicht gegen Zivilisten ausgeübt wird. Fordern die Palästinenser aber ihre Rechte mit friedlichen und juristischen Mitteln wie BDS ein, sind sie Antisemiten. Auch die Behauptung, BDS käme der Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden!“ gleich, ist unsinnig. Denn sie bedeutete damals, dass ein Terrorstaat die Bevölkerung dazu aufrief, gegen eine Minderheit in der Bevölkerung vorzugehen. Im Fall von BDS versucht ein unterdrücktes Volk seine elementarsten Bürger- und Menschenrechte einzufordern, die ihm von einem Unterdrückerstaat verwehrt werden. Das ist etwas ganz Anderes. Es kann aber nicht antisemitisch sein, von Israel die Einhaltung des Völkerrechts und der universellen Prinzipien der Menschenrechte einzufordern, wenn man nicht völlig sinnenstellend argumentiert.
Vor Gericht gehört deshalb nicht BDS, sondern ein System, das der israelische Filmemacher Eyal Sivan zusammen mit seiner französischen Partnerin, der Dokumentarfilmerin Arnelle Laborie so beschreibt: „Die israelische Demokratie befindet sich seit der Geburt des Staates quasi permanent in einem Ausnahmezustand. Das Land untersteht einer Fülle von Gesetzen und Verordnungen, die von der Armee oder der Regierung im Rahmen eines vorübergehenden Notstands beschlossen wurden, der jedes Jahr von einer absoluten Mehrheit im israelischen Parlament verlängert wird. Diese auf einen Teil der Bevölkerung angewandte, permanent gewordene vorübergehende Situation erlaubt einem nicht-demokratischen Regime also, im Namen der Demokratie fortzubestehen.“
Und weiter: „Trennmauer, Kontrollposten, Militarisierung der Polizei, bewaffnete Patrouillen in den Straßen, Gesichtsprofil und Gesichtskontrollen, Überwachung und Einteilung der Bevölkerung gemäß ihrer vermuteten Gefährlichkeit, unverhältnismäßige Vollmachten der Geheimdienste, exzessive Expertenpräsenz in den Medien und Verehrung des Gottes Sicherheit sind integrale Bestandteile dieser Demokratie im Ausnahmezustand. Kontrolle sozialer Netzwerke, militärische Zensur, Inländervorrang, ausgewählte Immigration, Aufenthaltsbewilligungen und Passierscheine, nächtliche Hausdurchsuchungen, Hausarreste, Aberkennung der Nationalität oder des Aufenthaltsrechts, Administrativhaft, parallele Gesetzgebungen und Justizinstitutionen, Auffang- und Abschiebezentren für Flüchtlinge, die Ausschaltung von Verdächtigen und außergerichtliche Tötungen sind in der israelischen Demokratie Alltag.“ Man muss hinzufügen, dass sich alle die hier aufgeführten Maßnahmen (mit Ausnahme der Abschiebezentren für Flüchtlinge, womit vor allem Afrikaner gemeint sind) nur auf Palästinenser beziehen und nicht auf jüdische Bürger Israels, wodurch der Apartheidsvorwurf seine Berechtigung erhält. (Eyal Sivan/ Arnelle Laborie: Legitimer Protest. Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels, Wien 2018, S. 143f.)
War auch die DDR – ein Hort von „Antisemiten“
Es ist unmöglich, auf alle Punkte einzugehen, die Haury als „antisemitisch“ anprangert. Es soll aber noch auf folgende Behauptungen entgegnet werden: der angebliche Antisemitismus der 68er, der DDR insgesamt und der Hamas. Außerdem ist auf den Vorwurf, die ‚Linke‘ verweigere Israel die Anerkennung des Existenzrechts, einzugehen. Übergangen werden soll der Antisemitismus-Vorwurf gegen die sogenannten K-Gruppen oder „neue Linke“, Gruppen, die in den 70er und 80er Jahren in der Nachfolge der 68er standen, großenteils aber eine ganz andere Entwicklung genommen und in der deutschen Gesellschaft nur eine sehr marginale Bedeutung gespielt haben.
Dem spätstalinistischen Antizionismus der DDR widmet Haury fast zehn Seiten seiner Broschüre (von insgesamt 60 Textseiten), dieser Themenbereich erscheint ihm also als besonders bedeutsam. Nun ist es nicht schwer, der DDR-Politik Antisemitismus zu unterstellen, wenn man Judentum und Zionismus nicht auseinanderhält, also auch Antizionismus und Antisemitismus nicht voneinander trennt. Bei der Unterstellung des antisemitischen Weltbildes der DDR beruft Haury sich auf die Abhängigkeit dieses Staates von der sowjetischen Vormacht in Moskau.
Dass es in der Sowjetunion und damit im gesamten Ostblock Antisemitismus gegeben hat, ist durch die Schauprozesse gegen Juden zu Beginn der 50er Jahre in Moskau, den Slansky-Prozess in Prag und die Verurteilung Paul Merkers in der DDR belegt. Die Vorwürfe gegen die Beschuldigten, die zumeist Juden waren (Paul Merker aber nicht), lauteten immer: Sabotage und zu große Nähe zum Zionismus. Auch in späteren Jahren war die Politik der Sowjetunion und der DDR antizionistisch, so unterhielt die DDR keine Beziehungen zu Israel, wohl aber sehr enge Kontakte zu den Palästinensern und speziell zu Arafats PLO. Aber war diese Politik deshalb auch antisemitisch?
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Sowjetunion aktiv an der Gründung Israels 1948 beteiligt war und auch 1947 in der UNO für die Teilung Palästinas in zwei Staaten – einen jüdischen und einen palästinensischen – gestimmt hat. Erst als man in Moskau wahrnahm, dass sich Israel nicht als sowjetischer Brückenkopf im Nahen Osten aufbauen ließ, konzentrierte sich die Politik der Sowjetunion mehr auf die arabischen Staaten. Haury verschweigt diese Tatsachen, die ja besagen, dass die Nahostpolitik Moskaus keineswegs von Anfang an antizionistisch = antisemitisch war.
Die Politologin Angelika Timm, die das Standardwerk über das Verhältnis der DDR zum Judentum, Zionismus und Israel geschrieben hat, kommt zu einem anderen, etwas differenzierterem Ergebnis als Haury. Sie hat diesen Komplex so zusammengefasst: „Die Staatspolitik und die öffentliche Meinung waren – mit Ausnahme antijüdischer Repressionen im Gefolge des Slansky-Prozesses – nicht antisemitisch im engeren Sinne; Juden wurden in der DDR weder verfolgt noch diskriminiert nur aufgrund der Tatsache, dass sie Juden waren. Dennoch war das Verhältnis des Staates zu den jüdischen Gemeinden des Landes durch Unwissenheit, Ignoranz und zum Teil auch bewusste politische Instrumentalisierung gekennzeichnet. Juden litten wie andere DDR-Bürger unter mangelnder Demokratie, Ungerechtigkeiten, Einschränkungen des realen Sozialismus. Diese Situation war nicht Ergebnis einer antisemitischen Politik, sondern entsprang dem politischen System bzw. war Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Realität.
Auch die proarabische und antiisraelische Positionierung der Führung des ostdeutschen Staates im Nahostkonflikt ist nicht auf eine antijüdische Grundeinstellung zurückzuführen; sie ergab sich vielmehr aus systemorientierter Parteinahme und realpolitischen Interessen gegenüber den sich mit Israel im Kriegszustand befindlichen arabischen Ländern. Das Versäumnis, politische Beziehungen zu Israel herzustellen und Verständnis für die Bürger des jüdischen Staates, deren Interessen, Hoffnungen und Ängste, aufzubringen, ist als ernstes historisches Versäumnis zu werten, das harsche Kritik, jedoch nicht das Attribut ‚antisemitisch‘ verdient. (…)
Archivstudien und Zeitzeugenbefragungen belegen, dass es in der DDR – offensichtlich quer durch die Bevölkerung – Antisemitismus gab. Dennoch kann der Einschätzung, der Antizionismus der Realsozialisten sei in Wahrheit Antisemitismus gewesen, in ihrer Verallgemeinerung nicht gefolgt werden. Die Ablehnung des Zionismus entsprang nicht primär antijüdischem Vorbehalt; sie war Teil der kommunistischen Weltsicht, die Nationalismus nur bedingt für progressiv hielt und ihm den Internationalismus entgegensetzte. Sie stand zum anderen in engem Zusammenhang mit der Außenpolitik der DDR bzw. ihren Nahostinteressen. Israel wurde nicht wegen seines Selbstverständnisses als jüdischer Staat, sondern ob seiner Regionalpolitik und außenpolitischen Bündnisbeziehungen abgelehnt. Das antizionistische Verdikt galt zudem primär der politischen Elite [Israels] und nicht den Bürgern des Landes.“
Das klingt etwas anders und sehr viel differenzierter als Haurys sehr einseitige Polemik gegen die DDR, der diesem Staat pauschal Antisemitismus unterstellt. Er führt im Literaturverzeichnis Helga Timms Buch auch an und zitiert aus ihm, aber wohl nur die Passagen, die seine Thesen stützen. Die hier zitierten Abschnitte kommen bei Haury nicht vor. (Hammer. Zirkel. Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zum Zionismus und dem Staat Israel, Bonn 1997, S. 397f.)
Waren die 68er Antisemiten?
Haury bringt auch die Studenten der 68er-Bewegung in Antisemitismus-Verdacht, was schon deshalb widersinnig ist, denn 68 war der Aufstand der Söhne und Töchter gegen ihre Väter, die die NS-Verbrechen – vor allem den Holocaust – begangen und zu verantworten hatten. Bei Antisemitismus-Vorwürfen gegen diese Studenten muss dann vor allem Dieter Kunzelmann herhalten, der in der Tat einige ungute Äußerungen von sich gegeben und Aktionen inszeniert hat, die man als judenfeindlich auslegen kann. Aber Kunzelmann war kein Vordenker der Bewegung, sondern eher ein APO-Clown. Man darf daran erinnern, dass die Bewegung ganz maßgeblich von jüdischen Denkern und Intellektuellen als Vorbildern getragen wurde – von Karl Marx, Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Theodor Adorno, Max Horkheimer bis zu Herbert Marcuse. Das passt wenig zu dem Antisemitismus-Vorwurf Haurys. Von den überaus populären jüdischen Vertretern der Jugendkultur und neuer musikalischer Richtungen ganz zu schweigen.
Die 68er haben Israel aber zu Recht als nach-kolonialen Staat angesehen, denn der Zionismus war von Anfang an eine siedlerkolonialistische Bewegung. Die Politologin Petra Wild hat den Siedlerkolonialismus folgendermaßen definiert: „Der reine Siedlerkolonialismus, für den Israel ein Beispiel ist, strebt danach, die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen. Die Grenzen werden stets weiter nach vorne verschoben und die einheimische Bevölkerung wird auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt, um ihr Land und ihre Ressourcen für die Siedlerbevölkerung freizumachen. Charakteristisch für siedlerkolonialistische Gebilde sind neben territorialer Expansion ein ausgeprägter Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler kamen.“ (Die Siedlerparole im Zionismus hieß: „Ein Volk ohne Land für ein Land ohne Volk!“)
Die Definition Petra Wilds ist eine realistische Beschreibung dessen, was in Palästina seit über hundert Jahren bis heute geschieht. Könnten die Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen einen eigenen Staat bilden, was durch die Siedlungen auf dem Westjordanland inzwischen unmöglich geworden ist, besäßen sie noch 22 Prozent ihres einstigen Landes. Durch den „Friedensplan“ von US-Präsident Trump sollen sie zusätzlich 60 Prozent des Westjordanlandes an Israel verlieren, was heißt, dass die palästinensische Bevölkerung keinen eigenen souveränen Staat bekommen soll, sondern in nicht zusammenhängende Reservate oder Bantustans abgedrängt werden soll, die – da sie keine eigenen Außengrenzen haben – vollständig unter israelischer Kontrolle stehen würden.
Der Siedlerkolonialismus ist heute ein eigenes Forschungsgebiet, auf dem besonders australische, amerikanische und südafrikanische Wissenschaftler arbeiten, weil auch diese Staaten und Gesellschaften aus siedlerkolonialistischen Bewegungen hervorgegangen sind. Der britische Sozialwissenschaftler Martin Shaw sieht die ethnische Säuberung Palästinas 1948 sogar als Beginn eines genozidalen Prozesses an, der bis heute andauere und dessen Hauptelemente der Siedlungsbau und die geographische Kontrolle seien. Die 68er lagen also nicht ganz falsch mit ihrer These, dass Israel ein nachkolonialistischer Staat sei, wofür ja auch spricht, dass er von imperialistischen Großmächten geschaffen und unterstützt worden ist. Aber wenn man wie Haury zwischen Antizionismus und Antisemitismus nicht trennt, dann kann man natürlich auch die 68er in diesen Ruf bringen. (Petra Wild: Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Wien 2013, S. 9, 205.)
Ist die Hamas antizionistisch und antisemitisch?
Natürlich ist für Haury auch die Hamas eine antisemitische Bewegung, weil es in ihrer Charta aus den 80 Jahren einige Sätze gibt, die man so deuten kann. Ihr wird unterstellt, dass sie Israel vernichten will. Dass Israel diese Organisation in den frühen 80er Jahren massiv unterstützt hat, weil es sie als Konkurrenz zur Arafats PLO aufbauen wollte; dass diese Organisation sich längst von ihrer Charta distanziert hat; dass sie im palästinensischen Wahlkampf 2006 offen für die Schaffung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gazastreifen eingetreten ist, wenn die palästinensische Bevölkerung einer solchen Lösung in einem Referendum zustimmen würde und sich so mit 22 Prozent Palästinas zufrieden gegeben hätte; dass sie die „wirklich freien Wahlen“ (US-Präsident Jimmy Carter) in den besetzten Gebieten überlegen gewonnen hat; dass Israel und der Westen das Wahlergebnis nicht anerkannten, weil in ihren Augen die falsche Partei gewonnen hatte; dass Israel dann die frei gewählten Hamas-Abgeordneten sofort verhaftet hat; dass eine von Israel und den USA ausgebildete palästinensische Truppe die Hamas im Gazastreifen stürzen wollte, was aber misslang; dass die Hamas Israel immer wieder auch langfristige Waffenstillstände angeboten hat – darüber findet man bei Haury kein Wort. Das passt eben nicht ins Weltbild.
Zudem ist es absurd, jede arabische Feindschaft gegenüber Israel auf Antisemitismus zurückzuführen, also gegen den „kollektiven Juden“ Israel. Eine solche Argumentation leugnet die gewaltsame Entstehungsgeschichte Israels auf Kosten eines arabischen Volkes – der Palästinenser, also den siedlerkolonialistischen Charakter des zionistischen Staates und dessen Unterdrückungs- und Okkupationspolitik bis heute. Dazu liefert u.a. Gilbert Achcar in seinem Buch Die Araber und der Holocaust wichtige Analysen und Argumente.
Der Arabist Alexander Flores hat erläutert, wie die Feindschaft der Araber gegenüber Israel zu erklären ist und dass sie keineswegs einfach mit dem europäischen Antisemitismus gleichzusetzen ist, wenn sie sich auch oft in antisemitischen Formen äußern mag. Als Hauptgründe nennt Flores: die Verheerungen, die das Vorgehen der Zionisten in Palästina angerichtet hat: Landraub, Vertreibungen, Unterdrückung usw. Dazu kommt der ständig und vehement vorgetragene Anspruch Israels, für alle Juden weltweit zu sprechen und zu handeln. Dadurch wird der Unterschied zwischen Zionismus und Judentum in der Öffentlichkeit weitgehend verwischt. Da der Westen noch die schlimmsten israelischen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen kritiklos hinnimmt, ja sogar billigt, können sich viele Araber eine solche Haltung nur als große Weltverschwörung gegen sie vorstellen, Flores resümiert: Die Entstehung eines modernen Antisemitismus in der arabischen Welt kann angemessen nur verstanden werden als Transfer entsprechender Ideen aus Europa, und zwar im Kontext des Umbruchs der arabischen Welt zur Moderne unter europäischer Dominanz sowie unter Einfluss des Palästina-Konfliktes. (Alexander Flores: Arabischer Antisemitismus in westlicher Perspektive, in: John Bunzl/ Alexandra Senfft (Hg.): Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost, Hamburg 2008, S 152f.)
Der Israeli Moshe Zuckermann fügt dem hinzu, wie die Auseinandersetzung Israels mit der Hamas und der Hisbollah geopolitisch einzuordnen sind: „Israel führt einen erbitterten Kampf gegen Hamas und Hisbollah; dieser hat seinen historischen Ursprung sowie seine aktuelle Begründung in der nahöstlichen Geopolitik und im israelisch-palästinensischen Konflikt, nicht im Antisemitismus als solchen; schon gar nicht in einem dem abendländischen vergleichbaren Antisemitismus. Traditionell war der Antisemitismus primär Erbteil rechter politischer und sozialer Gesinnung; es gab ihn zwar auch in der Linken, aber in keinem mit dem, was er im Nationalsozialismus an Verbrechen gezeitigt hat, annäherndem Ausmaß.“ (Moshe Zuckermann: Von Interessen und Befindlichkeiten. Anmerkungen zu den deutsch-israelischen Beziehungen, in: Wider den Zeitgeist. Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutschland, den Nahostkonflikt uns Antisemitismus, Hamburg 2012, S. 74.)
Muss man Israels Existenzrecht anerkennen?
Haury bezichtigt die Linke (wer auch immer das ist) auch, das Existenzrecht Israels zu leugnen, was natürlich ein zusätzlicher Beleg für Antisemitismus sein soll. Dabei greift er auch den Verfasser dieser Zeilen an, der die Anerkennung des Existenzrechts Israels in Artikeln öfters als „Hirngespinst“ bezeichnet hat. Und das aus gutem Grund. Die Gründe und den Kontext, die ich dabei angeführt habe, lässt Haury natürlich weg, und das sind: Im Völkerrecht gibt es den Begriff des Existenzrechts überhaupt nicht. Wenn ein Staat einen anderen Staat anerkennt, erkennt er automatisch auch dessen Existenzrecht an.
Zudem: Wenn man die Existenz eines Staates anerkennen soll, muss man die geographischen Grenzen kennen, in denen dieser seine Herrschaft ausübt. Israel ist aber wegen seiner Expansionspolitik der einzige Staat auf der Welt, der keine festen Grenzen hat. Und: Wenn Israel die Palästinenser auffordert, seine Existenz anzuerkennen, würde der Vollzug die vollständige Anerkennung aller völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Fakten bedeuten, die Israel geschaffen hat und die heute Apartheidscharakter haben. Die Palästinenser würden ihre vollständige Kapitulation unterschreiben, wenn sie die Existenz Israels in dessen Sinne anerkennen würden. Den Staat Israel haben die Palästinenser im Übrigen (und damit auch die Existenz Israels) längst anerkannt – in den Oslo-Verträgen von 1993.
Es ist aufschlussreich, dass Haury überhaupt nicht darauf eingeht, wie die Politik Israels vom Völkerrecht, dem internationalen Recht und der UNO-Menschenrechtscharta her zu beurteilen ist. Es gibt Hunderte von Analysen von Völkerrechts- und Menschenrechtsexperten sowie UNO-Resolutionen, die das Vorgehen des zionistischen Staates gegen die Palästinenser verurteilen. Aber so wie Haury die Verbrechen Israels so gut wie nicht erwähnt, sondern mit dem Zusatz „angeblich“ versieht, kommen auch die völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Aspekte des Palästina-Konflikts in seinen Ausführungen überhaupt nicht vor.
Haury unterschlägt eine wichtige Studie zum Antisemitismus
Aufschlussreich, aber auch verständlich ist, dass Haury die Studie des Konstanzer Professors Wilhelm Kempf mit keinem Wort erwähnt. Die breit angelegte Feldstudie suchte Antworten auf Fragen wie: Worauf gründet sich der Antisemitismus-Vorwurf gegen die Kritiker Israels [in Deutschland] überhaupt? Ist das rechte Spektrum tatsächlich vernachlässigbar? Ist es wirklich das linke Spektrum, von dem die Gefahr einer Wiedergeburt des Antisemitismus droht? Die Einzelheiten der Studie können hier nicht aufgeführt werden, können aber im Internet nachgelesen werden.
Das Fazit der Studie Kempfs lautet: „Das antisemitische Potenzial in Deutschland ist besorgniserregend. Nicht nur wegen seines Ausmaßes, sondern auch, weil es in der Mitte der Gesellschaft fest verankert ist. Dort und am rechten Rand finden sich nicht nur die antisemitischen Israelkritiker, sondern auch eine Gruppe von Befragten, die sich zum israelisch-palästinensischen Konflikt überhaupt nicht positionieren und des latenten Antisemitismus verdächtig sind.
Unter den aktiven Israelkritikern waren diese Muster dagegen nicht zu finden. Die aktiven Israelkritiker und mit ihnen die überwältigende Mehrheit der Deutschen, die sich zugunsten der Palästinenser positionieren, teilen keinerlei antisemitische Vorurteile, sondern kritisieren die israelische Politik in Folge ihres Menschenrechtsengagements und Pazifismus. Während die aktiven Kritiker dazu neigen, sich trotz ihres ausgeprägten Pazifismus in einem pro-palästinensischen War-fame zu positionieren, sind diese radikalen Spielarten der Israel-Kritik in der allgemeinen Bevölkerung eher selten. Diese radikalen Kritiker wählen die Die Linke oder Bündnis 90/ Die Grünen, und in der Mitte der Gesellschaft (bei den Wählern von CDU, SPD und FDP) finden sie sich überhaupt nicht.
Dass gerade sie es sind, die so oft des Antisemitismus bezichtigt werden, muss zu denken geben. Zum einen entsteht der Verdacht, dass es bei den erhobenen Antisemitismusvorwürfen gar nicht um die Bekämpfung des Antisemitismus geht, sondern darum, vom tatsächlichen Antisemitismus in Deutschland abzulenken. Zum anderen muss man sich fragen, welche Konsequenzen diese Hexenjagd für die Reanimation antisemitischer Vorurteile haben kann. Wenn man hinreichend naiv ist, fällt es nur allzu leicht, dahinter eine jüdische Weltverschwörung zu sehen. Dass auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israel-Kritik Gefahr läuft, in die Wiederbelebung antisemitischer Vorurteile abzugleiten, lässt sich angesichts unserer Befunde daher nicht von der Hand weisen.“
Die Feldstudie belegt ziemlich das Gegenteil von dem, was Haury behauptet: Antisemitische Einstellungen sind gerade bei eher politisch links eingestellten Personen geringer als bei Personen in der politischen Mitte oder auf der rechten Seite des Spektrums. (Studie: „Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus“ der Universität Konstanz unter Leitung von Professor Wilhelm Kempf)
„Eine historische Revolution im Verständnis des Antisemitismus“
Es gibt eine Interpretation des Antisemitismus, die genauso wenig in Haurys Argumentation passt wie die Kempf-Studie. Sie stammt von dem israelischen Historiker Daniel Blatman von der Universität Jerusalem. Sein Schwerpunktthema ist die Erforschung des Holocaust, er ist auch Chefhistoriker des Ghetto-Museums in Warschau. Batman leugnet nicht die Existenz von Antisemitismus in den westlichen Gesellschaften, schiebt aber der ultrarechten Regierung des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die ursächliche Verbreitung von Antisemitismus zu, was natürlich auf den ersten Blick befremden mag, aber seine Sicht hat viel für sich. Er knüpft in seiner Argumentation sehr kritisch an den Beschluss des Bundestages zu BDS an.
Er schreibt: „Der traditionelle, vertraute Antisemitismus war gekennzeichnet durch eine vielfältige Feindseligkeit gegenüber Juden und Judentum, die Dämonisierung der Juden, die Beschäftigung mit ihren kollektiven Eigenschaften und ihren Geschäftsbeziehungen sowie Mythen und Stereotypen, die den Juden als inkarnierten Teufel darstellten. Der neue Antisemitismus der heutigen europäischen nationalistischen Populisten, deren Definition Deutschland übernommen hat, könnte als funktionaler Antisemitismus definiert werden. Er basiert auf dem Prinzip, dass jeder, den bestimmte Juden als antisemitisch definieren wollen, als solcher definiert wird.
Mit anderen Worten, es handelt sich nicht mehr um einen Antisemitismus, der zwischen Juden und Nichtjuden nach Kriterien wie Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse unterscheidet, sondern um einen, der zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien, die von der israelischen Regierung und von Juden und Nichtjuden, die ihn unterstützen, in Deutschland und anderen Ländern aufgestellt werden.
Was hier geschieht, ist nicht weniger als eine historische Revolution im Verständnis des Antisemitismus: Antisemitische Deutsche definieren nicht mehr, wer Jude ist, der aus der Gesellschaft verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder ein Philosemit ist, und die Deutschen nehmen ihre Meinung an. Funktionaler Antisemitismus definiert Juden und Nichtjuden gleichermaßen als Antisemiten, basierend auf einer Reihe von Eigenschaften, die dem aktuellen Nationalismus Israels entsprechen.“
Blatman spricht von „Hexenjagd“ in Deutschland auf Kritiker der israelischen Politik und schließt seine Ausführungen mit einer wenig schmeichelhaften Feststellung über die deutsche Politik in Bezug auf Israel: „Es gibt eine bittere historische Ironie, jeden in Deutschland, der die gegenwärtige Politik Israels kritisiert, unterschiedslos als antisemitisch zu bezeichnen. So dient Deutschland dem brutalen rassistischen Konzept des Zionismus im heutigen Israel, so wie Deutschland früher [in der NS-Zeit] den Bedürfnissen des Zionismus diente, um den jüdischen Isolationismus zu fördern und zugleich so weit wie möglich auch die jüdische Auswanderung. [Er meint hier das Ha‘awara-Abkommen, das die Nazis 1933 mit den Zionisten geschlossen haben. Es sah vor, dass Juden, die auswandern wollten, ihr Vermögen zum Teil mitnehmen konnten.] Die Abgeordneten des Bundestages sind offenbar blind für den gewaltigen Unterschied zwischen der verzweifelten Situation der deutschen Juden in den 1930er Jahren und dem heutigen jüdischen Staat Israel.“ (Daniel Blatman: Vielleicht existiert, wenn es um Antisemitismus geht, kein anderes Deutschland? erschienen im Palästina-Portal am 3.07.2019)
Damit ist klar, was Haury sowohl unter Antisemitismus als auch unter „links“ versteht. Er ist ein engagierter Verfechter des funktionalen Antisemitismus, so wie ihn Blatman versteht – eines Antisemitismusbegriffs also, der ganz einseitig und parteiisch die nationalen Interessen Israels vertritt. Die Identifikation mit den Interessen dieses Staates ist darin total. Zweck und Ziel dieser Identifikation liegen auf der Hand: Israels inhumane, weil äußerst brutale Politik gegenüber den Palästinensern soll vor Kritik und Angriffen abgeschirmt und geschützt werden. Wer es dennoch wagt sie zu kritisieren, wird als Antisemit verleugnet, diffamiert und an den öffentlichen Pranger gestellt – mit allen verheerenden Folgen, die das für den Einzelnen haben kann. Hier wird dann auch der Holocaust instrumentalisiert, weil Antisemitismus seit diesem Mega-Verbrechen zu Recht tabuisiert ist. Wer heute als Antisemit attackiert wird, wird dann ja sofort assoziativ mit den übelsten Nazi-Schergen in Verbindung gebracht.
Rufmord und Hexenjagd (von der auch Blatman spricht) sind fest eingeplante Methoden des infamen Spiels. Und die „Linken“, denen Haury seinen ganzen Text widmet, sind eben alle Kritiker der israelischen Politik – seien es die Mitglieder oder Sympathisanten der Partei Die Linke oder der Grünen oder Vertreter und Aktivisten von Friedens-, Palästina- und Menschenrechtsgruppen. Das Feindbild hat klare Konturen.
Man kann das Problem auch noch weiter fassen. Das Judentum ist gegenwärtig tief in zwei ideologische Richtungen gespalten: in den Gegensatz zwischen zionistischem, extrem völkischem Nationalismus und den Vertretern der universellen Prinzipien von Völkerrecht und Menschenrechten. Haury ist ein radikaler Exponent des zionistischen Partikularismus. Wie gefährlich eine solche Entwicklung gerade auch für Israel und das Judentum selbst ist, hat die israelische Soziologin Eva Illouz dargelegt.
Sie schreibt: „Wenn die israelische Politik tagtäglich das Völkerrecht und die Menschenrechte missachtet, dann kann die ontologische Unsicherheit, die Juden rund um den Erdball verspüren, nicht länger als moralische Rechtfertigung für die systematische Blindheit gegenüber der massiven Erosion der Demokratie in Israel und gegenüber der moralisch wie politisch unverantwortlichen Unterdrückung entrechteter Palästinenser dienen. Zweifellos ist die Furcht der organisierten jüdischen Gemeinden vor dem Antisemitismus berechtigt, doch darf diese Furcht nicht deren offizielle Politik sein und als Rechtfertigung für den systematischen Angriff auf diejenigen benutzt werden, die sich um die Rechtstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Moralität des Staates sorgen.“
Und weiter: „Wenn jemand, dem die Menschenrechte wichtig sind, damit zum Verräter an Israel und den Juden wird (wie es dieser Tage in Israel und den weltweiten jüdischen Gemeinden so häufig zu hören ist), würde dies den moralischen Bankrott des organisierten Judentums und Israels bedeuten. Die Menschenrechte sind der Mindeststandard, an dem jede Innenpolitik und jede internationale Politik gemessen werden muss – ohne Wenn und Aber. Die Tatsache, dass viele Israelis und Nichtisraelis, die die Menschenrechte in Israel verteidigen, regelmäßig verleumdet und geächtet werden, spricht dafür, dass sich sowohl die jüdischen Diasporagemeinschaften als auch Israel von internationalen Moralnormen abwenden, gerade weil diese Normen an und für sich universalistisch sind.“ (Eva Illouz: Israel. Soziologische Essays, Frankfurt/ Main 2015, S. 9f.) Direkten Ausdruck hat diese gegen den Universalismus gerichtete Einstellung in einer Äußerung der ehemaligen israelischen Justizministerin Ajeled Shaked gefunden, die bekannte, dass der Zionismus nichts mit den individuellen Rechten [also den Menschenrechten und dem Völkerrecht] zu tun habe, da er über seine eigenen Gesetze verfüge. (FAZ 31.08.2017)
Haurys Text dürfte also auch in aufgeklärten jüdischen bzw. israelischen Kreisen auf großen Widerstand stoßen. Seine Ausführungen sind eine „Verzerrung“ des Antisemitismus-Problems (wie Blatman es bezeichnen würde). Sie prangern das Feindbild von „Antisemiten“ an, die gar keine sind und enthalten so keinen emanzipatorischen Ansatz zur Bekämpfung des Antisemitismus als einer schlimmen Form des Rassismus. Da Haury primär mit der Verdrehung und dem Weglassen von relevanten Fakten und Zusammenhängen arbeitet, ist es ein Skandal, Schulen – ob Lehrern oder Schülern – einen solchen Text als Lehr- und Lernmaterial anzubieten. Denn durch seine Methoden behandelt er seine Leser wie unmündige Kinder, die die Wahrheit nicht wissen sollen oder dürfen. Dennoch ist diese Broschüre unbedingt zur Lektüre zu empfehlen, da sie als schlechtes und abstoßendes Beispiel dazu dient zu zeigen, wohin eine missglückte Verarbeitung der deutschen Geschichte führen kann.