Ben Gurion: „Wir müssen sie mit Gewalt vertreiben!“

Nahostpolitik

Ein Antwort auf Uri Avnerys Artikel „Die wirkliche Nakba“

Von Arn Strohmeyer, 07./08.06.2015

Uri Avnery ist ein äußerst verdienstvoller Mann, der als Politiker, Publizist und Friedensaktivist sehr viel Mut, Realitätssinn, humanes Engagement und visionäre Weitsicht bewiesen hat. Wenn es nach ihm gegangen wäre und noch ginge, gäbe es keinen Konflikt mehr mit den Palästinensern, und Israel befände sich nicht in der politischen Sackgasse, aus der nun kein Ausweg mehr zu sehen ist und die die Zukunft dieses Staates verdüstert. Aber immer wenn dieser große Journalist sich die Nakba von 1948 als Thema vornimmt, verwundert es sehr, wie einseitig er die Ereignisse beschreibt. Er beruft sich dabei auf sein Augenzeugentum, denn er war im Krieg von 1948/49 Soldat an der Südfront dabei und kämpfte dort gegen die Ägypter.

Die Berufung auf Augenzeugen wirft eine grundsätzliche Frage der Geschichtswissenschaft auf: Wie weit können Augenzeugen wirklich authentische Aussagen über das Gesamt geschehen von historischen Ereignissen machen, denn sie bekommen ja selbst auch immer nur einen kleinen Teil des Geschehens mit. Ihre Sicht – wie die jedes Menschen – ist noch dazu von politischen und ideologischen Prägungen vorbestimmt. Um ein Beispiel für das Gesagte zu nennen: Könnte ein Soldat, der in Hitlers Wehrmacht an der Ostfront gekämpft hat, allein aus dieser Erfahrung heraus die Geschichte des Zweiten Weltkrieges schreiben? Sicher nicht.

Es liegen inzwischen wichtige historische Arbeiten zur Nakba vor – etwa die von Simcha Flapan, Benny Morris, Avi Shlaim und Ilan Pappe. Diese Autoren kommen zu ganz anderen Ergebnissen wie Uri Avnery. Er schreibt, der Krieg von 1948/49 habe eigentlich aus zwei Kriegen bestanden, die ineinander übergingen. Von Dezember 1947 bis Mai 1948 sei es der Krieg zwischen den Arabern und der jüdischen Bevölkerung innerhalb Palästinas gewesen, vom Mai bis zum Waffenstillstand Anfang 1949 der Krieg zwischen der israelischen Armee und den Armeen der arabischen Länder. Kritikwürdig ist der erste Teil des Satzes: Gab es von Dezember 1947 bis zum Mai 1948 wirklich einen Krieg zwischen den palästinensischen Arabern und den Juden? Das klingt nach der Zwei-Seiten-Theorie, aber die zwei gleich starken Seiten in dieser Auseinandersetzung gab es nicht. Die Palästinenser verfügten lediglich über einige kleine Milzverbände, die militärisch bedeutungslos und der zionistischen Armee – der Hagana – weit unterlegen waren. Letztere war seit 1920 systematisch aufgebaut und auch schon von den Briten, die das Mandat über Palästina hatten, mit Waffen und Gerät versorgt worden.

Was sich nach dem Teilungsbeschluss vom November 1947 abspielte, war von den Zionisten gut geplant und wohl vorbereitet worden. Der zionistische Führer und spätere erste Ministerpräsident Ben Gurion ließ verlauten: „In unserem Land [so nennt er Palästina] ist nur für Juden Platz. Den Arabern werden wir sagen: ‚Macht Platz!‘ Wenn sie nicht einverstanden sind, wenn sie Widerstand leisten, dann vertreiben wir sie mit Gewalt!“ Auch Yossef Weitz, ein hoher Funktionär des Jüdischen Nationalfonds, bestätigte schon 1940 die Absicht der Zionisten. Er setzte sich für die Vertreibung der Araber ein, um das Land von ihnen „freizumachen“ und so für die jüdische Besiedlung zur Verfügung zu stellen. Am 31. Dezember 1947 formulierte er das Ziel der Zionisten so: „Ist nicht der Zeitpunkt gekommen, uns von ihnen zu befreien? Warum sollten wir diese Stacheln in unserem Fleisch behalten, wenn sie für uns eine Gefahr darstellen?“ Das Zitat stammt aus dem Tagebuch Ben Gurions.

Die Vertreibung der Palästinenser wurde dann auch ganz systematisch mit Gewalt und Terror durchgeführt. Dieses Vorgehen ergab sich also keineswegs – wie Uri Avnery anmerkt – aus der Kriegssituation, und es handelte sich dabei auch nicht um ein „Wunder“, wie später oft behauptet wurde. Die Idee, Palästina zu judaisieren und das Land mit der Umsiedlung der arabischen Bevölkerung zu „befreien“, stand von Anfang an auf der politischen Agenda der Zionisten, es gibt sehr viele Belege dafür. Noch im Jahr 1947 begann das, was heute als die „ethnische Säuberung“ Palästinas bezeichnet wird – ein bis in die Gegenwart tabuisiertes Kapitel im zionistischen Geschichtsverständnis, dem sich das offizielle Israel unter gar keinen Umständen stellen will, denn die brutale Gewalt dieser ethnischen Säuberung mit all ihren Gräueltaten würde das zionistische Selbstverständnis und den Gründungsmythos des Staates in Frage stellen. Vielleicht ist das der Grund, warum Uri Avnery das Thema so vorsichtig mit Samthandschuhen anfasst.

Es kann hier nicht die ganze Geschichte der Nakba dargestellt werden. Aber sie begann nach der Darstellung von Ilan Pappe so: „Am 10. März 1948 saßen elf Männer zusammen – altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten. Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen; Belagerung und Beschuss von Dörfern und Wohngebieten; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen des Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch) und war die vierte und endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen. Die ersten drei Pläne hatten nur vage umrissen, wie die zionistische Führung mit der Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte, umzugehen gedachte. Diese vierte und letzte Blaupause sprach es klar und deutlich aus: Die Palästinenser mussten raus. (…) Ziel des Plans war tatsächlich die Zerstörung ländlicher und städtischer Gebiete Palästinas.“

Das Ergebnis der ethnischen Säuberung war furchtbar: Elf arabische Stadtviertel oder Städte und 531 Dörfer wurden zwangsgeräumt und völlig zerstört, 800 000 Menschen mussten fliehen – die Hälfte des palästinensischen Volkes. Es kam zu zahlreichen Massakern (das schlimmste war das von Deir Jassin mit über 200 Toten), sie sollten die palästinensische Bevölkerung in Panik versetzen und zur Flucht veranlassen, außerdem waren Vergewaltigungen und Plünderungen an der Tagesordnung. Heute bedecken, als sei nichts gewesen, Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen diese Orte des Schreckens. Die Erinnerung an die Nakba soll vollständig ausgelöscht werden.

Sowohl Simcha Flapan als auch Ilan Pappe berichten, dass es kaum Gegenwehr auf der palästinensischen Seite gab. Die Dörfer lagen so friedlich da, dass die zionistischen Soldaten der Hagana zum Teil Skrupel hatten, gegen die Bewohner vorzugehen. Man schickte deshalb Propaganda-Offiziere an die „Front“, die den Soldaten erklärten, dass die Palästinenser einen „neuen Holocaust“ planten und man deshalb mit aller Gewalt gegen sie vorgehen müsse. Das spielte sich gut zwei Jahre nach dem Ende des wirklichen Holocaust ab – ein abschreckendes und erschütterndes Faktum. Ilan Pappe hat deshalb auch alle Tagebucheintragungen Ben Gurions aus dieser Zeit befragt. Von einem „neuen Holocaust“ ist da nirgends die Rede. Die Soldatin Tikva Honig-Parnass, die damals in der Hagana mitkämpfte, fühlte sich später auch getäuscht. Sie hatte fest daran geglaubt, einer „revolutionären“ Armee der Unterdrückten anzugehören und nicht etwa einer Streitkraft, die ein arabisches Land erobern und ihre Bewohner vertreiben sollte.

Sie schrieb später: „Dann begriff ich, das der Zionismus ein kolonialistisches Unterfangen war, das von Anfang an den Aufbau eines exklusiv jüdischen Staates im historischen Palästina angestrebt hatte und dabei auch nicht davor zurückschreckte, das palästinensische Volk gewaltsam zu enteignen.“ Sie habe damals nicht verstanden, fährt sie fort, dass die Werte, die die Zionisten vertraten, nicht für alle Menschen galten: „Ich verstand nicht, dass sich dieser warmherzige Humanismus nur auf diejenigen bezog, die ‚wie wir‘ waren, während wir uns von denen, die ‚anders‘ waren, entfremdeten und sie entmenschlichten.“ An dieser Einstellung gegenüber den Palästinensern hat sich bis heute nichts geändert.

Von der Verabschiedung des UNO-Teilungsbeschlusses bis zu Gründung des Staates Israel (also im Zeitraum von Ende November 1947 bis zum 14. Mai 1948) hatten die zionistischen Verbände nach dem Plan D, also bevor eine einzige arabische Armee palästinensischen Boden betreten hatte, mehr als 200 Ortschaften erobert und ihre Bewohner vertrieben – dazu zählten die großen palästinensischen Städte Tiberias, Haifa, Jaffa und Safed. Außerdem hatten die Zionisten große Teile des Territoriums eingenommen, dass der UNO-Teilungsplan für den palästinensischen Staat vorgesehen hatte. Vielleicht sollte Ur Avnery doch mal zu den Büchern von Benny Morris, Simcha Flapan, Ilan Pappe und Avi Shlaim greifen, Augenzeuge sein allein reicht eben nicht immer, um sich ein Bild vom gesamten Geschehen zu machen.