Von Uri Avnery, 19. Dezember 2015
JEDER ISRAELI hat inzwischen mehrfach im Fernsehen den Clip gesehen, der ein 14 jähriges totgeschossenes arabisches Mädchen zeigt, das in der Nähe des Zentralmarkts in Westjerusalem lag.
Die Geschichte ist wohl bekannt: zwei Schwestern, 14 und 16 Jahre alt haben sich entschieden, Israelis anzugreifen. Der Clip, von einer Sicherheitskamera aufgenommen, zeigt eines von ihnen, in arabische Tracht gekleidet. Sie springt auf dem Gehweg herum und wedelt mit einer Schere herum.
Das ganze sieht fast wie ein Tanz aus. Sie springt ziellos umher, schwenkt die Schere, bedroht niemand besonders. Dann zielt ein Soldat mit dem Revolver auf sie und schießt. Er kommt und tötet das Mädchen, das hilflos auf dem Boden liegt. Das andere Mädchen ist schwer verletzt.
Der Soldat wurde wegen seiner Tapferkeit vom Verteidigungsminister, einem früheren Stabschef bei der Armee, und von seinem Nachfolger gelobt. Im politischen Establishment erhob sich keine einzige Stimme gegen das Töten. Selbst die Opposition war still.
IN DIESER WOCHE erhob eine Person ihre Stimme. Avigdor Feldman, ein Anwalt informierte den Staatsanwalt, dass er zum Obersten Gericht gehen wird, um sich dafür einzusetzen und beim Gericht, um eine gerichtliche Untersuchung gegen den Soldaten zu beantragen. Er wünscht vom Gericht, dass die Behörden alle Fälle untersuchen, in denen Soldaten und Zivilisten „Terroristen“ erschossen und getötet haben, nachdem sie schon unfähig geworden waren, zu handeln.
In Israel ist dies ein Akt von unglaublichem Mut. Anwalt Feldman ist kein Verrückter. Er ist ein wohl bekannter Anwalt, besonders prominent auf dem Gebiet der zivilen Rechte.
Ich lernte ihn schon zu Beginn seiner Kariere kennen. Er war noch ein „Praktikant“ – ein Anwalt, der seine Studien beendet hat, aber noch nicht ein voll anerkannter Anwalt war. Er arbeitete im Büro eines Freundes. Er vertrat mich bei mehreren kleinen Gerichtsfällen, und selbst dort bemerkte ich seinen scharfen Verstand.
Seitdem ist Feldman ein prominenter Anwalt für Zivilrechte geworden. Ich habe ihn mehrfach bei Verteidigungen vor Gericht gesehen und bemerkte die Reaktionen des Gerichts. Wenn Feldman spricht, beenden die Richter ihre Tagträumerei und Kritzeleien und folgen seinen Argumenten mit gespannter Aufmerksamkeit, unterbrechen ihn mit scharfen Fragen und genießen offensichtlich die juristische Rangelei.
Jetzt hat Feldman getan, was kein anderer zu tun wagte: Die Armee bei den Hörnern nehmen und das oberste Kommando herauszufordern.
In Israel ist das nahe an Majestätsbeleidigung.
SEIT ANFANG Oktober erfährt Israel eine Gewalt-Welle, die noch keinen offiziellen Namen erhalten hat. Zeitungen nennen sie die „Woge des Terrorismus“; einige reden von der „Intifada der Individuen“.
Ihr herausragendes Kennzeichen ist, dass jede Organisation fehlt. Sie wird von keiner Gruppe geplant, keine Befehle kommen von oben, keine Koordination zwischen Zellen ist nötig.
Ein arabischer Teenager nimmt ein Messer aus der Küche seiner Mutter, sucht nach einem Soldaten auf der Straße und sticht ihn nieder. Wenn kein Soldat oder Polizist erreichbar ist, sticht er in einen Siedler. Sieht er auch keinen Siedler, sticht er in irgendeinen Israeli, den er finden kann.
Wenn er ein Auto fährt, schaut er sich nach einer Gruppe Soldaten oder Zivilisten um, die trampen wollen und überfährt sie
Viele andere werfen auf ein vorüber fahrendes israelisches Auto Steine, in der Hoffnung, dass dies zu einem tödlichen Unfall führt.
Gegen solche Aktionen ist die Armee (in den besetzten Gebieten) und die Polizei im eigentlichen Israel (und im annektierten Ost-Jerusalem) fast hilflos.
Während der beiden früheren Intifadas und dazwischen fingen die Sicherheitsorgane unglaublich fast alle Täter. Dies war so möglich, weil die Taten von Gruppen und Organisationen begangen wurden. Fast alle diese Täter wurden früher oder später von israelischen Agenten infiltriert. Ist einmal ein Täter erwischt worden entweder durch Bestechung, – oder durch „moderaten, physischen Druck“, (wie unsere Gerichte Folter nennen) und Ähnliches.
All diese bewiesenen Maßnahmen sind ganz sinnlos, wenn eine Tat von einer einzelnen Person ausgeführt wird oder von zwei Brüdern, die ganz spontan in einem Augenblick handeln. Keine Spione. Keine Verräter, keine vorherigen Anzeichen. Nichts, an das man sich halten kann.
Die israelischen Sicherheitsdienste haben versucht, ein typisches Profil von solchen Tätern herzustellen. Ohne Ergebnis. All diesen oder den meisten von ihnen ist nichts gemeinsam. Da gibt es mehrere 14Jährige Teenager, aber auch einen Großvater mit Kindern und Enkeln. Die meisten erscheinen nicht in irgendeinem Anti-terroristischen Datenspeicher. Einige sind religiöse Radikale, aber viele andere sind überhaupt nicht religiös. Einige sind weiblich, eine war eine Mutter.
Was bringt sie an diesen Punkt? Die offizielle israelische Antwort ist Verhetzung. Mahmoud Abbas stachelt sie auf, Hamas stachelt sie an. Die arabischen Medien stacheln sie an. Fast all diese „Anstachelungen“ sind Routine-Reaktionen auf israelische Aktionen. Und egal was, ein junger Araber benötigt keine „Anstachelung“. Er sieht, was rund um ihn los ist. Er sieht die erschreckenden nächtlichen Verhaftungen; israelische Soldaten fallen in Städte und Dörfer ein. Er braucht nicht das Lockmittel der Jungfrauen, die auf die Märtyrer im Paradies warten.
DA ES keine unmittelbare Medizin gibt, fallen Politiker und andere „Experten“ auf „Abschreckung“. Vor allem auf Exekutionen.
Dies wurde zuerst im April 1974 entdeckt, als ein Israelischer Bus von vier unerfahrenen arabischen jungen Leuten gestürmt wurde. Er wurde in der Nähe von Aschkelon angehalten und überfallen. Zwei von den vieren wurden beim Schießen getötet; aber zwei wurden lebend gefangen genommen. Drei Photographen machten von den Lebenden Fotos; aber dann verkündete die Armee, dass sie bei dem Kampf auch getötet wurden. Das war eine eklatante Lüge, von der militärischen Zensur geschützt. Als Herausgeber des Haolam Hazeh-Magazins drohte ich, zum Obersten Gericht zu gehen. Es war mir erlaubt, die Fotos zu veröffentlichen – und ein riesiger Sturm brach los. Der Chef des Sicherheitsdienstes (Shin Bet oder Shabak) und seine Assistenten wurden angeklagt, aber ohne Gerichtsurteil begnadigt.
Im Lauf des Skandals kam eine geheime Direktive ans Licht: der damalige Ministerpräsident Yitzhak Shamir hatte eine mündliche Direktive erteilt: „Kein Terrorist sollte am Leben bleiben, nachdem er eine terroristische Tat begangen hat.“
So etwas wie dies besteht jetzt. Soldaten, Polizisten und bewaffnete Zivilisten glauben, dass dies ein Befehl ist: Terroristen müssen an Ort und Stelle getötet werden.
Offiziell natürlich ist es Soldaten und anderen nur erlaubt, zu töten, wenn ihr eigenes Leben und das Leben anderer in direkter unmittelbarer Gefahr ist. Nach den internationalen Kriegsgesetzen als auch nach israelischem Gesetz ist es ein Verbrechen, Feinde zu töten, wenn sie verletzt sind, gefesselt sind oder auf andere Weise nicht in der Lage sind, das Leben anderer zu gefährden.
Doch fast alle arabischen Täter – einschließlich der Verletzten und Gefangenen – werden auf der Stelle erschossen. Wie wird dies erklärt?
Am häufigsten werden die Fakten einfach geleugnet. Aber mit der Verbreitung der Sicherheitskameras wird dies immer unmöglicher.
Ein oft benütztes Argument ist, dass ein Soldat keine Zeit zum Denken hat. Er muss schnell handeln. Ein Schlachtfeld ist kein Gerichtssaal. Oft handelt ein Soldat instinktiv.
Ja und nein. Sehr oft ist tatsächlich keine Zeit, um nachzudenken. Derjenige, der zuerst schießt, bleibt am Leben. Ein Soldat hat das Recht – tatsächlich die Pflicht – sein Leben zu verteidigen. Wenn es Zweifel gibt, sollte er handeln. Das muss mir keiner sagen. Ich war dort. Ich hab es erlebt.
Aber es gibt Situationen, bei denen es keine Zweifel gibt. Wenn ein Gefangener in Handschellen erschossen wird, ist es eindeutig ein Verbrechen. Einen verletzten Feind zu erschießen, der hilflos auf dem Boden liegt wie das Mädchen mit der Schere, ist abscheulich.
Dies sind glasklare Fälle. Wenn der Polizeiminister (jetzt Minister für Innere Sicherheit genannt) in der Knesset sagt, dass der Mädchenmörder keine Zeit zum Denken hatte, dann lügt er.
Ich wage zu sagen, dass dieser Minister Gilad Ardan, ein aggressiver Mann ist, der seinen ruhmreichen Armeedienst als Offizier am Schreibtisch der Personal-Abteilung machte, weniger Schlachtenerfahrung als ich hat. Was er in der Knesset sagte, ist Unsinn.
Die Soldaten schießen und töten, weil sie denken, dass ihre Vorgesetzten dies von ihnen wünschen. Wahrscheinlich wurde es ihnen so gesagt, dies zu tun. Die Logik dahinter ist „Abschreckung“ – wenn der Täter weiß, dass er sicherlich getötet wird, dann mag er zweimal denken, bevor er es tut.
Aber es gibt absolut keinen Beweis dafür. Im Gegenteil, das Wissen, dass (er oder sie,) die Täter, wahrscheinlich auf der Stelle erschossen werden, bringt sie dazu. Ein Shahid, ein Märtyrer zu werden, wird seine Familie und die ganze Nachbarschaft stolz machen.
Ah, sagen die Abschrecker, aber wenn wir auch das Haus des Täters zerstören, dann wird er zweimal denken. Seine Familie wird ihn darum bitten, auf die Tat zu verzichten. Das klingt doch logisch?
Überhaupt nicht. Auch dafür gibt es keinen Beweis. Ganz im Gegenteil. Die Eltern eines Shahid zu werden, ist eine Ehre, die den Verlust des Familienhauses übertrifft. Besonders wenn die finanziellen Mittel von Saudi Arabien und den andern Golfstaaten geliefert werden und die Entschädigung zahlen.
Es ist die eindeutige Meinung der Sicherheitsexperten, dass diese Art kollektiver Strafe nicht reicht. Im Gegenteil, es schafft mehr Hass, der noch mehr Shahids schaffen wird. In einem Wort: kontraproduktiv ist.
Die Armeespitze und die Kommandeure des Sicherheitsdienstes verbergen ihre Opposition gegenüber diesen Maßnahmen nicht. Sie werden von Politikern und Kommentatoren, die Popularität suchen, überstimmt.
SOFORTIGE EXEKUTIONEN und kollektive Strafen sind natürlich genau entgegengesetzt zum Internationalen Gesetz der Kriegsführung. Viele Israelis verachten diese Gesetze und ignorieren sie. Sie glauben, dass solch naive Gesetze unsere Armee nicht hindern sollten, unser Land und uns zu verteidigen.
Dieses Argument gründet sich auf Unwissenheit.
Die Gesetze der Kriegsführung wurden nach dem 30jährigen Krieg, der unerhörtes Elend nach Mitteleuropa brachte, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eingeführt. Als er endlich zu Ende war, waren zwei Drittel von Deutschland zerstört und ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausgelöscht.
Die Urheber der Gesetze, besonders ein Holländer mit Namen Grotius, begannen mit der sensiblen Vermutung, dass kein Gesetz gehalten wird, falls es die Durchführung des Krieges verhindert. Eine Nation, die um ihr Leben kämpft, wird sich nach seinem Gesetz richten, das es hindert, dies zu tun. Aber in Kriegen werden eine Menge Gräueltaten getan, die garkeinem militärischen Zweck dienen, nur aus Hass oder Sadismus.
Es sind diese Taten – Taten, die keinem militärischen Zweck dienen – die von den Internationalen Kriegsgesetzen verboten sind. Beide Seiten leiden, wenn sie nicht eingehalten werden. Gefangene töten, Verwundete liegen lassen, zivilen Besitz zerstören; kollektive Strafen und Ähnliches hilft keiner Seite. Sie befriedigen nur sadistische Impulse und sinnlosen Hass.
Solche Taten sind nicht nur unmoralisch und hässlich. Sie sind auch kontraproduktiv. Gräueltaten schaffen Hass, der noch mehr Shahids erzeugt. Getötete Gefangene können nicht gefragt werden und liefern keine Information, die wesentlich ist, um neue Strategien und Taktiken zu bilden. Grausamkeit ist nur eine andere Form von Dummheit.
Unsere Armee kennt all dies. Sie sind dagegen. Aber sie werden von Politikern der schlimmsten Art, von denen wir mehr als genug haben, überstimmt.
MIT DIESEM Thema verbunden, ist die Verfolgung einer Organisation, die sich „Breaking the Silence“(„Das Schweigen brechen“)nennt
Diese wurde von Soldaten gegründet, die nach ihrer Entlassung damit begannen, ihre Erfahrung in den besetzten Gebieten zu veröffentlichen, Dinge, die sie taten und Dinge, die sie sahen. Das ist eine große Operation geworden. Ihr akribisches Festhalten an der Wahrheit hat den Respekt der Armee gewonnen, und das von ihnen gegebene Zeugnis wird vom Büro des Armee-Anwalts respektiert und oft danach gehandelt.
Dies hat nun zu einer wütenden Aufregungskampagne gegen die Gruppe von den Demagogen der extremen Rechten geführt. Sie werden des Verrats angeklagt und wegen „Beschmutzung der Jungs“ beschuldigt; sie würden den Terroristen helfen und sie aufmuntern und Ähnliches. Viele der Ankläger sind Bürosoldaten und Drückeberger. Viele der Beschuldigten waren Kampfsoldaten.
In dieser letzten Woche griffen die rechten Demagogen wütend den Präsidenten Israels, Reuben Rivlin, wegen Verrates an. Sein Verbrechen: Er erschien in einer politischen Konferenz, die in New York von der liberalen israelischen Zeitung Haaretz organisiert wurde, wo auch „Breaking the Silence“ eingeladen war.
Rivlin ist eine sehr nette, sehr humane Person. Als Präsident besteht er auf voller Gleichberechtigung der arabischen Bürger. Aber er vertritt auch sehr rechte Meinungen und ist dagegen, nur einen Zoll Land von „Erez Israel“ für Frieden abzugeben. Aber kein Politiker vom rechten Flügel kam ihm gegen die wilden Anklagen zur Hilfe.
„Breaking the Silence“ steht nicht allein. Faschistische Gruppen – ich benütze den Ausdruck zögerlich – klagen viele Friedens- und Menschenrechtsorganisationen des „Verrates“ an, indem sie auch die Tatsache zitieren, dass mehrere von ihnen Spenden von europäischen Regierungen und Organisationen erhalten. Die Tatsache, dass die israelische Organisation des rechten Flügels und die ausgesprochen faschistische Organisation bei weitem mehr Geld von jüdischen und christlich-fundamentalistischen Organisationen aus dem Ausland erhalten, wird vergessen. Aber das spielt keine Rolle.
ALL DIES zeigt wie mutig der Anwalt Feldman mit seinen Bemühungen ist.
Im Hebräischen sagen wir: alle Ehre gebührt ihm!
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, 18.12.2015, vom Verfasser autorisiert)