Von Arn Strohmeyer, 09.01.2019
Eins muss man dem Staat Israel lassen: Seine Chuzpe (laut Duden: Dreistigkeit) kennt keine Grenzen. Gemeint sind in diesem Fall die jetzt erhobenen Forderungen an die arabischen Staaten, insgesamt 250 Milliarden Dollar „Entschädigung“ für die „Vertreibung“ von Juden aus diesen Ländern im Jahr 1948/49 zu zahlen. Als Grund wird neben der „Vertreibung“ die Ablehnung des UNO-Teilungsplans von 1947 durch die Araber bzw. die Palästinenser angegeben. Israel argumentiert: Die Palästinenser hätten ja damals ihren Staat haben können, und sie seien selbst schuld, wenn sie das Angebot nicht angenommen hätten.
Was die israelische Seite natürlich nicht sagt, ist, wie dieser UNO-Teilungsplan aussah. Die Juden, die damals nur ein Drittel der Bevölkerung stellten, sollten 56 Prozent Palästinas bekommen, die Palästinenser (zwei Drittel der Bevölkerung) aber nur 42 Prozent und dazu noch das qualitativ schlechtere Land. Jerusalem sollte internationalen Status erhalten. Es versteht sich von selbst, warum die Palästinenser diesen Beschluss, der sie so benachteiligte, ablehnten. Dazu kommt ein völkerrechtliches Problem: Die UNO muss nach ihrer Charta das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten, darf also gar keine Staaten gründen. Es hätte also ein Referendum über die Zukunft Palästinas stattfinden müssen. Das hat es aber nicht gegeben, was heißt: Die Palästinenser sind gar nicht gefragt worden. Man wollte ihnen verweigern, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Der Zionistenführer und erste israelische Ministerpräsident Ben Gurion hat im Übrigen immer wieder bekannt, dass jede „Lösung“ für ihn nur eine „Zwischenlösung“ sei, denn Ziel der Zionisten sei es, ganz Palästina in Besitz zu nehmen. Was inzwischen ja auch geschehen ist.
Die Vertreibung der Palästinenser (Nakba) wird heute von keinem ernsthaften Historiker mehr bestritten. Selbst der zum rechten zionistischen Lager gehörende Benny Morris gibt die Zahl der Vertriebenen mit 750 000 bis 800 000 an, bedauert heute nur, dass die Zionisten damals das Problem nicht vollständig gelöst hätten, das heißt: Man hätte eben alle vertreiben müssen. Unumstritten ist auch, dass Plünderungen, Raub und Zerstörungen die Vertreibung der Palästinenser begleiteten. Ihr ganzer Besitz wurde beschlagnahmt.
1950 wurde sogar ein Gesetz bezüglich des „Besitzes Abwesender“ erlassen, mit dem die Regierung ermächtigt wurde, alles Eigentum von den Palästinensern in Beschlag zu nehmen, die nicht nachweisen konnten, dass sie am 29. November 1947 vor Ort zugegen waren. 1953 wurde die Anwendung dieses Gesetzes auf die Armee ausgedehnt, die somit ermächtigt wurde, palästinensischen Grund und Boden, palästinensische Häuser und ganze Dörfer zu nutzen.
Wenn Israel heute Entschädigungszahlungen von den Arabern verlangt, dann ist das wohl mehr ein zynisches Ablenkungsmanöver von der eigenen Schuld den Arabern und Palästinensern gegenüber. Man argumentiert: Israel hat Hunderttausende von Palästinensern vertrieben (wenn nicht gar behauptet wird, sie seien „freiwillig“ gegangen), aber dafür hätten die Araber im Gegenzug Hunderttausende von Juden aus ihren Ländern vertrieben und diese Menschen hätte Israel aufnehmen müssen, was dem jungen Staat nicht leichtgefallen sei. Mit anderen Worten: Beide Seiten haben vertrieben und damit gleicht sich die Sache aus.
Hier handelt es sich eindeutig um einen Mythos. Einmal davon abgesehen, dass man ein Unrecht nicht mit einem anderen aufrechnen kann, die historische Wahrheit sieht ganz anders aus. Zwei Historiker – der Israeli Tom Segev und sein österreichisch-jüdischer Kollege John Bunzl – haben intensiv über dieses Thema gearbeitet und kommen zu ganz anderen Ergebnissen. Die Zionisten hatten im Krieg von 1948/49 große Gebiete erobert und die meisten der bis dahin dort lebenden palästinensischen Einwohner vertrieben. Dadurch waren große „entarabisierte“ Gebiete in den Machtbereich Israels geraten. Israel fehlte es daher an Menschen, denn durch den Völkermord an den Juden durch die Nazis blieben Millionen Menschen aus – vor allem osteuropäische Juden – , die für die Besiedlung eigentlich vorgesehen waren. Juden aus anderen Teilen der Welt zeigten aber wenig Interesse, in den neuen Staat überzusiedeln.
Einwanderer aus den islamischen Staaten zu gewinnen, war also ein vorrangiges Projekt des jungen Staates Israel. Ministerpräsident Ben Gurion formulierte das 1949 so: „Wir haben Gebiete erobert, aber ohne Besiedlung haben sie keinen entscheidenden Wert, weder im Negev noch in Galilea noch in Jerusalem. Besiedlung ist erst die wirkliche Eroberung. Tausende Jahre waren wir eine Nation ohne Staat. Jetzt besteht die Gefahr, dass wir ein Staat ohne Nation werden.“
Der Historiker isarelische Historiker Halevi schreibt dazu: „Vor diesem Hintergrund beschließen die Führer der Arbeiterzionisten des Jischuw, mit allen Mitteln die Juden der mohammedanischen Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens kommen zu lassen. (…) Aus Marokko, Algerien, Tunesien, Lybien, Ägypten, dem Jemen, Irak Syrien und dem Libanon (…) trafen zwischen 1948 und 1967 eine Million ‚arabischer’ Juden in Palästina ein, wo sie (…) den leeren arabischen Raum bevölkerten. Als Minderheit unter dem Juden der ganzen Welt wurden die Juden ‚Afrikas und Asiens‘, wie sie der offizielle israelische Sprachgebrauch bezeichnet, zur Mehrheit im Staat Israel.“
Es gab aber auch direkte politische Gründe, die Einwanderung orientalischer Juden zu befördern: Ben Gurion wollte sie im Lande haben, um die Armee zu stärken. Und Menachem Begin wünschte ihre Einwanderung, weil er glaubte, dass „diese unwissenden und primitiven“ Massen ihn und seine rechte Herut-Partei schneller an die Macht bringen würden. Um Juden in den islamischen Staaten zur Einwanderung nach Israel zu überreden, sandte Israel Agenten aus, die bei den jeweiligen Regierungen Ausreisegenehmigungen für die Juden erreichen sollten. Die Methoden, mit denen diese Agenten arbeiteten, waren nicht immer legal. So wurden an Beamte und Mitglieder der Regierungen hohe Summen gezahlt – Nuri Said, der Schah des Iran und die Sultane des Jemen kamen auf die Gehaltsliste des Mossad. Wenn Geld nicht die gewünschte Wirkung erzielte, entwickelten zionistische Stellen das Interesse, die Lebensbedingungen der jüdischen Minderheiten in diesen Staaten zu verschlechtern.
Jitzak Ben-Menahem, ein Agent, der in arabischen Ländern viele Operationen ausgeführt hatte, schrieb: „Massenauswanderung wird nur als Folge von Bedrängnis eintreten. Das ist die bittere Wahrheit, ob es uns passt oder nicht. Wir müssen daran denken, die Bedrängnis zu initiieren, sie in der Diaspora herbeizuführen.“ Und Ben Gurion bemerkte: „Selbst Juden, die [ihre Wohnorte] nicht verlassen wollen, müssen gezwungen werden zu kommen.“
Dabei war man sich in Israel sehr wohl bewusst, dass die Einwanderung der Juden aus den islamischen Ländern viele Probleme schaffen würde, denn der Bildungsstandard dieser Menschen war sehr niedrig. In einem israelischen Zeitungsartikel hieß es 1949: „Die Primitivität dieser Leute ist unübertreffbar. Sie haben fast überhaupt keine Erziehung, schlimmer noch ist ihre Unfähigkeit, irgendetwas Intellektuelles zu verstehen. In der Regel sind sie nur etwas weiter als Araber, Neger und Berber. Das Niveau liegt bestimmt unter jenem der vormaligen palästinensischen Araber.“ Aber man brauchte diese Menschen als Landarbeiter, die die palästinensischen Araber ersetzen sollten. Diese Einwanderer wurden wegen ihrer Fremdartigkeit in Israel auch mit Bestürzung und Feindseligkeit empfangen. Ben Gurion verteidigte die Notwendigkeit ihres Kommens aber, er verglich sie mit den Schwarzen, die als Sklaven nach Amerika geholt wurden.
Der israelische Historiker Tom Segev spricht in seinem Buch „Die ersten Israelis“ nur von „Einwanderung“ der orientalischen Juden. Das Wort „Vertreibung“ benutzt er nur ein einziges Mal – im Zusammenhang mit dem Irak. Aber dort war die Situation sehr kompliziert und Segev belegt, dass die zionistischen Agenten bei der „Vertreibung“ der irakischen Juden kräftig nachgeholfen haben. Auf jeden Fall ist die These der zionistischen Geschichtsschreibung, dass die Sehnsucht dieser Menschen nach dem Heiligen Land und die grausame Verfolgung dort sie zum Verlassen des Landes bewogen hätten, nicht haltbar. Segev beschreibt eine sehr aktive Tätigkeit von Mossad-Agenten im Irak, ja spricht sogar von einem „zionistischen Untergrund“. Es seien nur Juden im Irak verfolgt worden, die mit diesen Untergrundtätigkeiten zu tun gehabt hätten.
1950 beschloss das irakische Parlament ein Gesetz, alle Juden auswandern zu lassen. Segev bringt diesen Beschluss mit „Vertreibung“ in Verbindung, fügt aber hinzu, dass das Gesetz, das die Juden zwang, das Land zu verlassen, eine Folge der subversiven Arbeit des Mossad war. Bei einem Bombenanschlag in Bagdad kamen im Januar 1951 vier Juden ums Leben. Die Täter wurden nie ermittelt, aber Gerüchte gaben dem Mossad die Schuld. Der Anschlag sollte die Juden in Panik versetzen und zur Auswanderung bewegen.
Mit dem Jemen schloss Israel ein Abkommen über die Auswanderung der Juden. Sie wurden zum Exodus überredet, indem man in diesen sehr ungebildeten Menschen messianische Hoffnungen weckte. So glaubten viele, dass es sich bei Israel um ein neues Königreich Davids handele, weil der Regierungschef David Ben Gurion heiße. Die jemenitischen Juden wurden mit einer Luftbrücke nach Israel gebracht, wobei sie die weißen Flugzeuge für die „fliegenden weißen Esel des Messias“ hielten.
In Ägypten herrschte eine ganz andere Situation. Hier hatten islamistische und nationalistische Strömungen seit den vierziger Jahren das Leben von nicht-ägyptischen Minderheiten erschwert – also nicht nur von Juden, sondern auch von Europäern, koptischen Christen und Griechen. Ab Juli 1954 belastete ein von einem israelischen Spionagering begangener Anschlag in Kairo die Beziehungen zwischen der ägyptischen Regierung und den Juden schwer. Die israelischen Agenten hatten Bomben in britischen und amerikanischen Informationszentren, britischen Kinos und ägyptischen öffentlichen Einrichtungen hochgehen lassen. In Israel hieß dieser Anschlag nach einem damaligen Minister die Lavon-Affäre. Ziel des Anschlages war es, „das Vertrauen des Westens in das derzeitige ägyptische Regime zu untergraben.“
Die Briten verhandelten damals mit Ägypten über die Evakuierung der Kanalzone. Die Amerikaner wollten Ägypten Waffen liefern. Es war sogar ein amerikanisch-ägyptisches Bündnis im Gespräch. Israel führte zunächst eine Kampagne, um den Ägyptern die Anschläge „als ein anti-jüdisches abgekartetes Spiel“ in die Schuhe zu schieben. Schließlich kam aber auch in Israel die Wahrheit heraus, dass eine Gruppe im Sicherheitsestablishment die Anschläge ausgeheckt hatte.
Als Israel dann im Oktober 1956 im Suezkrieg zusammen mit Großbritannien und Frankreich Ägypten angriff, verfügte die ägyptische Regierung Massenausweisungen. Rund 100 000 Juden verließen das Land. Aber auch Angehörige anderer Staaten – Griechen, Italiener, Franzosen und Briten – mussten Ägypten verlassen. Die Juden hatten aber auch unter den Folgen der panarabisch-islamischen Ägyptisierung von Wirtschaft und Verwaltung und den Auswirkungen des Palästina-Konfliktes zu leiden. Bunzl betont ausdrücklich: „Die antijüdischen Maßnahmen lagen weder in einer‚ewigen‘ muslimischen Feindschaft antisemitischen Typs noch in der Haltung der Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung begründet – diese war bis in die Mitte das 20. Jahrhunderts durchaus ‚tolerant‘.
Segev notiert denn auch, dass es für die orientalischen Einwanderer in Israel viele Motive gab, ihre alte Heimat zu verlassen. Es gab persönliche, politische und religiöse Gründe. Er schreibt: „Einige Juden wanderten spontan aus, weil sie schikaniert und verfolgt wurden, sei es wegen ihrer zionistischen oder religiösen Überzeugungen. Andere kamen wegen der Propaganda nach Israel, die von Vertretern des Zionismus in ihren Ländern verbreitet wurde. Einige schlossen sich einfach den emigrierenden Massen an, und manche verschlug es tatsächlich gegen ihren Willen nach Israel.“ Aber eins kann man mit Sicherheit sagen: Eine der ethnischen Säuberung, also der Nakba der Palästinenser 1948/49 entsprechende Vertreibung der Juden aus den islamischen Ländern hat es nicht gegeben.