Niemand spricht von den Ursachen für den Hass

Nahostpolitik

Nach den Anschlägen in Paris schlug die Stunde der Heuchler

Von Arn Strohmeyer, 12.01.2015

Der Anschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo war ein furchtbares Verbrechen, ein schrecklicher Mord an Unschuldigen. Er war auch ein Anschlag auf ein wichtiges Element der westlichen Kultur: auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die ein hoher Wert ist und für die viele Generationen in Europa gekämpft haben. Dieses beste Erbe der Aufklärung zu schützen und zu bewahren, ist die Pflicht jedes denkenden Menschen. Ein Journalist schrieb dieser Tage: „Das zentrale Merkmal der Aufklärung ist, alles hinterfragen zu dürfen. Das Licht der Vernunft soll in jeden Winkel scheinen, um Unterdrückung, Aberglauben, Intoleranz und Vorurteile zu überwinden. Und das stört all jene, die manchen Bereich lieber im Dunkeln lassen wollen.“ Charlie Hebdo hat die aufklärerische Freiheit bis zur Blasphemie ausgereizt und dabei niemanden geschont – weder Christen, Muslime und Juden. Das ist oft vielleicht bitter, aber man muss es ertragen. Die Freiheit des Wortes und des Bildes sind der höhere Wert.

Wenn man dann aber die Fotos von dem großen Protestzug am Sonntag in Paris sieht, wo da in der ersten Reihe viele Lenker bedeutender Staaten für Solidarität, Toleranz, Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung – mit einem Wort für die sogenannten Werte der westlichen Staatengemeinschaft – und gegen den Hass demonstrierten, musste man sich doch verwundert die Augen reiben. Denn sind nicht viele von den Damen und Herren in der ersten Reihe der großen Demonstration für den Hass mitverantwortlich, gegen den sie da protestieren? Ist es nicht die Politik des Westens insgesamt – der USA und Europas – , die durch ihre Jahrzehnte langen politischen und militärischen Interventionen die nah- und mittelöstliche Region erst ins Chaos gestürzt und damit den Hass gesät hat, der heute als „Fluch der bösen Tat“ (Peter Scholl-Latour) auf ihre Verursacher zurückschlägt?

Man muss diese Sätze von Jürgen Todenhöfer in Erinnerung rufen: „Nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert Jahren hat ein muslimisches Land den Westen angegriffen. Die europäischen Großmächte und die USA waren immer Aggressoren, nie Angegriffene. Seit Beginn der Kolonialisierung wurden Millionen arabische Zivilisten getötet. Der Westen führt in der traurigen Bilanz des Tötens mit weit über 10:1. Die aktuelle Diskussion über die angebliche Gewalttätigkeit der muslimischen Welt stellt die Fakten völlig auf den Kopf. Der Westen war und ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt. Nicht die Gewalttätigkeit der Muslime, sondern die Gewalttätigkeit einiger westlicher Länder ist das Problem unserer Zeit. Wer den muslimischen Extremismus verstehen will, muss versuchen, die Welt wenigstens einmal aus der Sicht eines Muslims zu betrachten. Unser Horizont ist nicht das Ende der Welt. Ein junger Muslim, der die Fernsehnachrichten verfolgt, sieht Tag für Tag, wie im Irak, in Afghanistan, in Palästina, im Libanon, Somalia und anderswo muslimische Frauen, Kinder und Männer durch westliche Waffen, westliche Verbündete und westliche Soldaten sterben.“

Wo also liegen die Wurzeln des Hasses? Die Grausamkeit westlicher Kriegsführung steht – auch wenn das äußerst provokativ klingt – der des ISIS in Nichts nach. Im Irak-Krieg der USA 2002/03 sollen über eine Million Menschen ums Leben gekommen sein. Die „gezielten Tötungen“ westlicher Drohnen im Jemen, Afghanistan, Pakistan, Palästina, Irak, Somalia und Sudan sollen schon etwa 5000 Todesopfer gefordert haben, darunter sehr viele Zivilisten. Die gezielt Hingerichteten sind nie vor ein Gericht gestellt worden, um ihnen Schuld nachzuweisen. Allein diese Morde sollen 300 000 direkt betroffenen Hinterbliebene zurückgelassen haben.

Der österreichische Sozialwissenschaftler Hannes Hofbauer folgert aus diesen Fakten: „Es ist die ‚Hilfe‘ der USA, die den Hass gesät hat, der sich jetzt in den grausamen Umgangsformen der Dschihadisten spiegelt. (…) Auch die grausamste Enthauptung [die die ISIS-Kämpfer vornehmen] ist ein Spiegelbild US-amerikanischer oder britischer Drohneneinsätze. Auch die kennen keine Anklage, keine Verteidigung, kein Schuldeingeständnis und keinen Freispruch. Und der ISIS besteht ja auch auf einem Zusammenhang zwischen Drohnen und F-16 auf der einen und Beil auf der anderen Seite.“ Und: „Das Verhältnis von Drohne und Beil macht die Dimension des asymmetrisch geführten Krieges, der übrigens von den USA niemals erklärt worden ist, überdeutlich.“ Wer spricht da noch von westlichen Werten?

Vielleicht wollte der amerikanische Präsident Barack Obama sich gerade vor Vorwürfen dieser Art schützen und kam deshalb nicht zur Protestdemonstration nach Paris. Israels Premier Benjamin Netanjahu hatte dagegen keine Skrupel, in der ersten Reihe mitzumarschieren. So bedauerlich die jüdischen Opfer des Anschlages von Paris sind – wo steht dieser Mann mit seiner brutalen und verhängnisvollen Politik gegenüber den Palästinensern für die oben genannten Werte? Wenn er und der neue Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in den Chor der Klagen über Terrorismus einstimmen und vorbringen, dass schließlich auch Israel ein Opfer dieses Übels sei, dann stellen sie die politische Wirklichkeit auf den Kopf und können ganz offenbar Ursache und Wirkung nicht unterscheiden. Wenn man ein ganzes Volk unterdrückt, wegsperrt und sich jeder gerechten Friedenslösung verweigert, darf man sich über die Reaktionen nicht wundern. Wer wenn nicht die politische Elite Israels und ihre westlichen Verbündeten sind für „Terrorismus“ dort verantwortlich, der in vielen Fällen gar kein Terrorismus ist, sondern vom Völkerrecht erlaubter Widerstand gegen die Besatzungsmacht – vorausgesetzt, er richtet sich nicht gegen Zivilisten.

Aber unter den Vorwurf der Unaufrichtigkeit fällt auch so mancher Muslim, der jetzt öffentlich dicke Krokodils-Tränen über die Anschläge in Paris weint. Viele muslimische Gruppen haben in den vergangenen Jahren gegen Journalisten und Karikaturisten, die den Islam kritisiert oder aufs Korn genommen haben, gehetzt, ihren Feinden den Tod gewünscht und auch Anschläge unternommen. Und im Internet gibt es nicht wenige Muslime, die den feigen Mord in Paris jetzt als großen Sieg feiern. Nach dieser Tat gab es viel ehrlichen Protest und viel wunderbare demokratische Solidarität. Aber dann folgte die Stunde der Unredlichen und Heuchler, die diesem Mord für sich instrumentalisieren und daraus Nutzen ziehen wollen.

Was bleibt nach all den hehren Bekenntnissen zu Humanität und Aufklärung? Vielleicht ein Satz des großen Palästinensers Edward Said aus seinem Buch Orientalismus, die er damals ausdrücklich gegen Bush, Rumsfeld, bin Laden und Sharon richtete, die heute aber genauso auf Obama, Netanjahu und all die anderen passen: „Am wichtigsten ist aber letzten Endes, dass der Humanismus der einzige, vielleicht sogar der letzte Widerstand ist, den wir gegen die inhumanen Praktiken und Ungerechtigkeiten, welche die Menschheitsgeschichte entstellen, aufbieten können.“