Der Israel-Besuch von Außenminister Sigmar Gabriel musste zum Desaster geraten
Von Arn Strohmeyer, 25.04.2017
Wenn man die politische Wirklichkeit so falsch einschätzt, darf man sich über die fatalen Folgen nicht wundern. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel kennt sehr genau die Realitäten in Israel/Palästina, aber sie offiziell nicht wahrzunehmen, ist deutsche Staatsräson. Vor Jahren schon war Gabriel in Israel gewesen, hatte Hebron besucht und hatte sich erschüttert über die dortigen brutalen Besatzungsverhältnisse gezeigt. Es fiel sogar das Wort „Apartheid“, aber auf Druck der empörten Israel-Lobby knickte der damalige Wirtschaftsminister ein und nahm seine Äußerung zurück.
Gabriel ist diesmal nicht eingeknickt. Er ist „standhaft“ geblieben, weil er das Gespräch mit den israelischen regierungskritischen Nicht-Regierungsorganisationen „Betselem“ und „Breaking the Silence“ nicht abgesagt und Ministerpräsident Netanjahu daraufhin das Treffen mit ihm abgesagt hat. Immerhin, könnte man lobend sagen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, ja es ist geradezu ein Beleg dafür, dass Gabriels Besuch beim „guten Freund Israel“ zum Desaster wurde und alles über den wirklichen Stand der deutsch-israelischen Beziehungen aussagt. Denn zuerst hatte der deutsche Außenminister sich mit dem bevorstehenden Besuch in Israel und Palästina als Vermittler für neue Friedensgespräche angeboten. Da musste er sich von offizieller Seite sagen lassen, dass das gar nicht erwünscht sei: „Wir wissen selbst, was wir zu tun haben,“ fertigte der Botschafter Israels in Berlin Jakov Hadas-Handelsman dieses Angebot arrogant ab.
Dass der Außenminister des größten und wirtschaftlich stärksten EU-Staates, von dem Israel sich gern atomar ausrüstbare U-Boote schenken lässt, bei einem offiziellen Besuch in Israel vom Ministerpräsidenten empfangen wird, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das sah die israelische Regierung aber anders: Sie stellte Gabriel ein Ultimatum: Entweder die Gespräche mit den Vertretern der Zivilgesellschaft werden abgesagt, wenn nicht, gibt es kein Treffen mit Netanjahu. Das war der nächste Affront gegenüber der deutschen Seite. Auch wenn Gabriel tapfer bekannte, dass das Nichtzustandekommen des Treffens „keine Katastrophe“ sei – der Vorgang ist eine Katastrophe für die Beziehungen der beiden Staaten, die angeblich ja so vorbildlich sind. Vielleicht war es auch die Vergeltung dafür, dass Angela Merkel kürzlich die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen wegen Netanjahus Ankündigung, neue Siedlungen zu bauen, abgesagt hatte.
Gabriel hat sich vor seinem Besuch und in Israel selbst nicht nur jedweder Kritik an der in jeder Beziehung völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik des zionistischen Staates gegenüber den Palästinensern enthalten, er hatte anlässlich seines Israel-Besuches einen Namensartikel in deutschen Zeitungen (so im „Bremer Weser-Kurier“ vom 25. April 2017) verbreiten lassen, in dem er die Beziehungen zu Israel in einer Weise lobt und preist, dass es einem angesichts der realen Vorgänge in diesem Land die Sprache verschlägt.
Unter der Überschrift „Gemeinsam gegen Nationalismus. Über Europa und Israel“ schreibt der Außenminister: „Der Staat Israel hatte [bei seiner Gründung] den gleichen Wertekern wie die Gründerstaaten der europäischen Einigung nach der Katastrophe des Weltkrieges: soziale und politische Sicherheit. Das war auch der Traum der jüdischen Einwanderer aus aller Welt. Sie träumten von einem Staatswesen, das menschlich und solidarisch sein sollte und vor allem Schutz und Sicherheit bietet. Es gibt eine moderne Verbindung zwischen Israel und Europa: Die israelische Demokratie ist ein pluralistisches Kaleidoskop. Europa und Israel stehen auf dem Boden einer robusten Demokratie. Europa und Israel wollen nicht wieder Opfer von Autokratie und Nationalismus werden. Europäische und israelische Demokraten kämpfen gegen die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger.“
Und weiter: „Deutschland und Europa stehen auch an der Seite dieses Israel, weil es ein Land sein will, das allen seinen Bürger mit Fairness und Anstand begegnen will. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem europäischen Neuanfang teilen wir Europäer die Werte des jungen israelischen Staates und ein Fundament der gleichen moralischen Prinzipien. Es sind diese gemeinsamen Werte, die Israel, Europa und auch Amerika, trotz aller unterschiedlichen Ansichten, immer wieder zusammenbrachten.“
Wertegemeinschaft mit Israel und Teilung der gleichen moralischen Prinzipien? Behandlung aller seiner Bürger mit Fairness und Anstand? Diese Zeilen erinnern an Angela Merkels fatale Rede vor der Knesset in Jerusalem 2008 anlässlich des 60. Staatsjubiläums. Acht Mal hatte sie in dieser Rede die Wertegemeinschaft mit diesem Staat beschworen, in dessen Herrschaftsbereich (Westjordanland und Gazastreifen) 4,4 Millionen Menschen leben, die keinerlei bürgerliche und politische Rechte besitzen, sondern von einer brutalen Besatzungspolitik unterdrückt werden. Der israelische Historiker Tom Segev hatte nach Merkels Rede gefragt, ob sie den Kontakt zur Realität verloren habe und geistig-politisch immer noch in der DDR lebe. Auch Gabriel macht vor der Brutalität der Besatzung beide Augen zu und belegt damit – allen Widersprüchen zum Trotz – wie unehrlich, ja verlogen und neurotisch – das deutsch-israelische Verhältnis in Wirklichkeit ist.
Zudem: Was für ein „pluralistisches Kaleidoskop“ die israelische Demokratie ist, belegt der Gabriel-Besuch mehr als deutlich: Der deutsche Außenminister darf nicht einmal mit Vertretern der außerparlamentarischen zivilgesellschaftlichen Opposition sprechen, wenn er auch einen Termin beim Ministerpräsidenten haben will. Das hat nicht einmal die kommunistische Diktatur China hohen deutschen Besuchern versagt. Und die „gemeinsame Ablehnung des Nationalismus“, die Gabriel anpreist? Weiß er oder sieht er nicht, dass es kaum einen nationalistischeren Staat auf der Welt gibt als das zionistische Israel? Dass gerade aus diesem Ultra-Nationalismus die Probleme resultieren, die den Konflikt mit den Palästinensern so unlösbar machen? Der Artikeltext des deutschen Außenministers ist eine einzige devote Ergebenheitsadresse. Dass so etwas in Israel nicht belohnt und gewürdigt wird – die Quittung dafür bekam er postwendend.
Die deutsche und die EU-Außenpolitik gegenüber Israel will trotz aller Affronts und Rückschläge nicht erkennen und wahrhaben, was couragierte Kenner und Kritiker der zionistischen Politik seit Jahren sagen – etwa der amerikanisch-jüdische Wissenschaftler und Publizist Henry Siegman, der früher Direktor des American Jewish Congress war und heute das US/Middle East Project leitet. Er bezeichnet die Europäer, die so eng – wie Angela Merkel (und jetzt auch Sigmar Gabriel) – hinter Israel stehen als „falsche Freunde“, weil sie glaubten, aus Sühne für den Holocaust müssten sie alle Taten des jüdischen Staates akzeptieren – in Wirklichkeit schadeten sie ihm damit. Er spricht auch das Wegsehen oder die Heuchelei der sogenannten internationalen Gemeinschaft an: „Der eigentliche Skandal ist, dass die Völkergemeinschaft zwar genau weiß, wo die Probleme liegen, aber nicht genug Mut aufbringt, sie zu benennen, geschweige denn sie zu lösen. (…) Erstaunlich ist, dass die Völkergemeinschaft so tut, als nehme sie Israel die Behauptung ab, das Opfer zu sein, die von ihm besetzten Menschen aber die Aggressoren. Deshalb erlaubt sie weiterhin die Enteignung der Palästinenser, sodass hier die Gesetze des Dschungels walten.“
Und weiter: „Aber die Erwartung, unkritische Unterstützung werde zu einer größeren Bereitschaft Israels führen, für den Frieden Risiken auf sich zu nehmen, steht im Widerspruch zur Geschichte dieses Konflikts. Diese hat vielmehr gezeigt: Je kleiner der Widerspruch ist, den Israel von seinen Freunden im Westen erhält, desto kompromissloser wird sein Verhalten gegenüber den Palästinensern. Auf der anderen Seite aber: Barrikaden und Checkpoints der Armee, Kampfhubschrauber und Düsenjäger, gezielte Ermordungen und militärische Übergriffe, ganz zu schweigen vom massiven Diebstahl palästinensischen Landes. Ist es nicht vollkommen unehrlich, so zu tun, als wäre Israels Besetzung nicht selbst ein unerbittlicher Akt der Gewalt gegen drei Millionen palästinensische Zivilisten? Könnte die Besetzung auch nur einen Tag länger währen, wenn Israel seine Gewalt aufgeben würde?“