„To exist is to resist“: Ekkehart Drost hat ein eindrucksvolles Buch über den kulturellen Widerstand der Palästinenser geschrieben

Nahostpolitik

Von Arn Strohmeyer, 29.09.2016

Eines der größten Probleme , mit dem Kritiker der israelischen Politik in Deutschland konfrontiert sind, ist das hartnäckige Leugnen der furchtbaren Realitäten im besetzten Palästina bei den Verteidigern Israels. Die deutsche Schuld gegenüber Juden hat ein so hohes und hehres Ideal- und Wunschbild von Israel geschaffen, das unfähig macht, die Wirklichkeit der brutalen Unterdrückung eines ganzen Volkes durch den zionistischen Siedlerkolonialismus überhaupt wahrzunehmen. Es wird offenbar vorausgesetzt, dass Juden, die in der Geschichte so oft Opfer waren, so etwas nicht tun. Israel ist so das ewige „Unschuldslamm“. Kritikern der israelischen Politik werden dann, wenn sie auf diese monströsen Unmenschlichkeiten der israelischen Besatzung hinweisen, „Lügen“, „Auswüchse von Phantasie“ und „Wahnideen“ unterstellt, was dann natürlich alles in die Diffamierung des Antisemitismus-Vorwurfs mündet.

Der Göttinger Aktivist und Publizist Ekkehart Drost hat genau diese israelische Besatzungsrealität auf mehreren Palästina-Reisen aufgesucht und ist zum unbeirrbaren Augen- und Ohrenzeugen dessen geworden, was dort unter israelischer Verantwortung geschieht. In zwei früheren Büchern hat er schon von seinen Erlebnissen und Erfahrungen berichtet. Jetzt hat er ein neues Buch vorgelegt, in dem er das bewundernswerte Projekt des „Freedom Theatre“ in Jenin beschreibt, das 2006 gegründet und vor allem durch seinen charismatischen Initiator Juliano Mer-Khanis berühmt wurde, der 2011 einem Mord zum Opfer fiel. Ideengeber des Projekts ist heute vor allem der Brite Ben Rivers, der die in Deutschland bekannte Form des „Improtheaters“ in Palästina in Gestalt des „Playback-Theatre“ praktiziert. Eine Aufführung sieht dann so aus, dass Besucher spontan und freiwillig vor das Publikum treten und Ereignisse, Gedanken und Gefühle aus ihrem Leben berichten, die anschließend von den Schauspielern des „Freedom Theatre“ direkt in eine Handlung übersetzt werden.

Eine solche Spielweise hat in einem Land, in dem die Menschen unter dem ständigen Druck einer menschenverachtenden Besatzung leiden, natürlich eine ganz andere Bewandtnis als unter „normalen“ Bedingungen anderswo. Ben Rivers begründet das Konzept, das auch psychotherapeutische Elemente enthält, so: „Durch die Kunst, das ritualisierte und gemeinschaftliche Geschichtenerzählen, erzeugen wir einen Sinn und eine Bedeutung aus dem unergründlichen Leiden und dem Verlust; wir widerstehen der Entfremdung durch Erfahrung von Empathie, Liebe und Solidarität, wir füllen unsere Energie wieder auf durch die Erfahrung von Wut, Sorgen, Freude und Humor; wir kehren zu unseren Wurzeln zurück, sodass die zukünftigen Generationen wieder fest zu ihrer Identität stehen können; wir richten unser Phantasie wieder auf, so dass die Hoffnung und die Kreativität sich durchsetzen werden.“

Durch das spontane Mitteilen in den Aufführungen also können der Schmerz, die seelischen Wunden und vielleicht auch die Traumata der Betroffenen gelindert werden, weil die Leiden besser erkannt und von den Mitmenschen anerkannt werden. Das Mitteilen befreit aus der Isolation, denn andere haben ähnliche Erfahrungen gemacht und teilen sie auch mit. Das Bekennen erleichtert die Verarbeitung des bisher Verdrängten und macht Mut zum Widerstand. Ekkehart Drost schreibt: „Die kollektiv zusammen getragenen Erzählungen werden somit zu einem Werkzeug für kulturellen und geistigen Widerstand: sie dienen zur Bewusstseinsbildung und Stärkung.“

Obwohl ein solcher kultureller Widerstand äußerst friedlich ist, für die Besatzungsmacht ist auch dies schon zu viel – vermutlich sieht sie darin eine Form des „geistigen Terrorismus“. Die Armee schikaniert die Theaterleute, schüchtert sie ein und nimmt Verhaftungen vor. Ein solcher permanenter Staatsterror wirft natürlich die Frage auf, die der Autor auch immer wieder stellt: Können Kunst und Kultur eine nachhaltige Wirkung in einem Land erzielen, für das „normale“ Kriterien nicht gelten? Er gibt auch die Antwort auf diese Frage: „Solange die Mindestforderung nach Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit nicht erfüllt ist, kann das therapeutische Bemühen immer nur fragmentarisch sein. Trotzdem sollte in diesen Zeiten der Not, des Kampfes und der Unsicherheit daran erinnert werden, dass die Umwandlung des täglichen Lebens in Kunst eine wichtigen Beitrag für das Überleben darstellt.“

Eine brutale Besatzung mit Kultur und Kunst bekämpfen – das mag naiv und resignativ klingen, aber was bleibt den Palästinensern übrig angesichts der gewaltigen militärischen Übermacht des Unterdrückers und ausbleibender Unterstützung von außen? Aber die Palästinenser denken in anderen langfristigen Kategorien als Westler. Sie vertrauen auf ihre Entschlossenheit und Standhaftigkeit (arabisch: sumud), die die Besatzungsmacht mit all ihren Schikanen und militärischen Attacken offenbar nicht erschüttern und brechen kann. Sie glauben daran, dass die ersehnte Gerechtigkeit eines nicht fernen Tages kommen wird, kommen muss. Für die Israelis bedeutet das umgekehrt, dass sie den so bedeutsamen Satz begreifen müssen: Ein Volk das ein anderes unterdrückt, ist selbst nicht frei.

Ekkehart Drost hat  das „Play Back Theatre“ aus Jenin auf seiner diesjährigen Freedom-Bus-Tour begleitet, hat mit vielen Mitarbeitern, Freunden und Sympathisanten des künstlerischen Unternehmens gesprochen, ist mit der Theatertruppe in Orte gekommen, die von Israels brutalem Regiment am meisten betroffen waren und noch sind. Er beschreibt diese Plätze der nackten Gewalt mit großer Eindringlichkeit und lässt viele direkt Betroffene als Zeugen auftreten. Am Ende der Lektüre kehrt der schon so oft gedachte Gedanke zurück: Wie ist so etwas möglich in einem Land, das sich selbst zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zählt und von den westlichen Staaten auch so behandelt wird? Ekkehart Drosts Buch ist ein gelungener Beitrag zu zeigen, dass es allerhöchste Zeit für Menschen ist, die es bisher noch nicht getan haben, die Realitäten in Israel/ Palästina zur Kenntnis zu nehmen und daraus die nötigen Folgerungen zu ziehen. Und es ist ein Loblied auf ein Volk, das versucht, unter extremsten Bedingungen der Unterdrückung seine Würde und seine Identität zu wahren.

Ekkehart Drost: Freedom Bus. Ride for Justice. Kunst und Kultur gegen Intoleranz und Gewalt. Zu beziehen ist das Buch über: e1944drost(at)gmx.de, Preis: 15 Euro plus Versandkosten.