Warum kann man Ilan Pappes Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ nicht mehr kaufen?

Nahostpolitik

Arn Strohmeyer, 02.01.2014

Es ist wohl eins der wichtigsten Bücher zum Verständnis des Nahostkonfliktes überhaupt: das Werk des israelischen Historikers Ilan Pappe „Die ethnische Säuberung Palästinas“, das in Deutschland im Jahr 2007 bei Zweitausendeins erschienen ist. Der Autor dekonstruiert darin die israelischen Mythen, die die zionistische Geschichtsschreibung über die Zeit von 1947 – 49 (den sogenannten „Unabhängigkeitskrieg“) bis heute verbreitet. Zuvor hatte sein israelischer Kollege Simcha Flapan mit seinem Buch „Die Geburt Israels“ diese Aufgabe schon in Angriff genommen, die deutsche Ausgabe kam 2006 heraus. Flapan ist 1987 gestorben. Er hatte zwar auch schon wichtige und bisher unbekannte Fakten ans Licht gebracht. Pappe hatte aber gegenüber seinem Vorgänger den Vorteil, dass die Israelis inzwischen in den Militärarchiven Zugang zu wichtigen Dokumenten gewährt hatten. Pappe schildert in seinem Werk das dunkle Kapitel der gewaltsamen Eroberung und Machtergreifung der Zionisten in Palästina.

Noch während der britischen Mandatszeit – kurz nach dem Teilungsbeschluss der UNO im November 1947 – hatten auf Geheiß der zionistischen Führung die Angriffe gegen die palästinensische Zivilbevölkerung begonnen. Nennenswerten Widerstand von dieser Seite gab es nicht. Die Bilanz dieser militärischen Aktionen der Untergrundarmee Hagana sowie der Terrorgruppen Irgun und Stern-Gruppe war furchtbar: 531 palästinensische Dörfer und elf Städte wurden zwangsgeräumt und zum großen Teil zerstört, 800 000 Menschen wurden vertrieben. Es kam zu Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen. Heute befinden sich an diesen Orten der Verwüstung, um jede Erinnerung an sie auszumerzen, Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen.

Das Erstaunliche an dieser ethnischen Säuberung, die die Palästinenser „Nakba“ (die „Katastrophe“) nennen, ist, dass es der zionistischen Bewegung gelang, diese Verbrechen vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen. Pappe schreibt über diesen Vorgang: „Aber jenseits der Zahlen ist die tiefe Kluft zwischen Realität und Darstellung das wirklich Bestürzende am Fall Palästina. Es ist tatsächlich schwer zu verstehen und somit auch kaum zu erklären, wieso ein Verbrechen, das in unserer Zeit und an einem kritischen Punkt der Geschichte begangen wurde, der die Anwesenheit ausländischer Reporter und UNO-Beobachter verlangt hätte, so vollständig ignoriert wurde. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass die ethnische Säuberung von 1948 nahezu vollständig aus dem kollektiven globalen Gedächtnis gelöscht und aus dem Bewusstsein der Welt getilgt wurde. Man stelle sich einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die Hälfte der gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres zwangsweise vertrieben, die Hälfte der Städte ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht wurden. Man stelle sich einmal vor, diese Taten würden niemals Eingang in die Geschichtsbücher finden und sämtliche diplomatische Bemühungen um eine Lösung der Konflikte, die in diesem Land ausbrächen, würden diese katastrophalen Ereignisse völlig außer Acht lassen, wenn nicht gar ignorieren. Ich habe vergebens in der uns bekannten Weltgeschichte nach einem solchen Fall und einem solchen Schicksal gesucht.“

Es ist zu vermuten, dass der Holocaust den Zionisten den politischen Kredit verschafft hatte, dass die ethnische Säuberung Palästinas von der Welt bereitwillig ignoriert, verleugnet und verdrängt wurde – ähnlich wie der Mord an den europäischen Juden auch schon den Teilungsbeschluss der UNO 1947 möglich gemacht hatte. Ohne den Mitleidsbonus der beteiligten Staaten hätte es ihn vermutlich nicht gegeben. Wie Simcha Flapan hat auch Ilan Pappe immer betont, dass die Darstellung der historischen Wahrheit dieser Ereignisse und damit auch die Entmythologisierung der Mythen für ihn eine moralische Entscheidung sei, ein erster Schritt, um die Spirale der Gewalt zu beenden und zu Versöhnung von Israelis und Palästinensern beizutragen. Er schreibt: „Es ist die einfache, aber entsetzliche Geschichte der ethnischen Säuberung Palästinas, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die Welt vergessen machen wollte. Es ist unsere Pflicht, es aus der Vergessenheit zu holen, und zwar nicht nur als längst überfällige historiographische Rekonstruktion oder professionelle Aufgabe; meiner Ansicht nach ist es eine moralische Entscheidung, der allererste Schritt, den wir tun müssen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance haben und der Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel Fuß fassen sollen.“

Simcha Flapan hatte zuvor ähnlich argumentiert, warum die Mythen über das zionistische Vorgehen gegen die Palästinenser entmythologisiert werden müssten: „Es geht darum, die propagandistischen Denkstrukturen aufzulösen, die so lange verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte des Friedens an Boden gewinnen konnten. Die Aufgabe, die den Intellektuellen und den Freunden beider Völker zufällt, besteht nicht darin, Ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen des Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu tauchen, in der Hoffnung, dass man es auf diese Weise schafft, die Verzerrungen und Lügen, die mittlerweile zu sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu schaffen.“ Und warnend fügt er hinzu: „Wenn die Klischees und falschen Mythen ihren Platz im Denken behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich.“  Mit anderen Worten: Versöhnung und Frieden sind erst dann möglich, wenn die historische Wahrheit und die Leiden des jeweils Anderen von beiden Seiten anerkannt werden.

Pappes Buch ist auch noch aus einem ganz anderen Grund hoch brisant, denn es belegt ganz eindeutig, dass die Palästinenser nicht in einem „Krieg“ vertrieben und um ihr Eigentum gebracht worden sind, wie die Zionisten behaupten. Das ist wichtig für die Begründung von palästinensischen Entschädigungsfragen, die in Zukunft anfallen werden. Die Zionisten (etwa Shimon Peres) argumentieren: Das Schicksal der Juden während des Zweiten Weltkrieges und dasjenige der Palästinenser in Palästina könnten in dieser Hinsicht nicht miteinander verglichen werden, denn zwischen Juden und Arabern habe Krieg geherrscht, während die Juden als Bürger in ihrem Land [von den Deutschen] beraubt worden seien. Die Wahrheit ist: Die Palästinenser selbst haben keinen Krieg gegen die Zionisten geführt, von unbedeutenden Scharmützeln kleiner Guerilla-Gruppen abgesehen. Die Menschen wurden ab Februar 1948 aus ihren Städten und Dörfern vertrieben, ihr Eigentum konfisziert – also schon bevor die arabischen Armeen im Mai 1948 (nach der israelischen Staatsgründung) in Palästina einmarschierten. Diese Fakten sind für die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsforderungen der Palästinenser gegenüber Israel von großer Bedeutung. Es geht dabei aber auch um das Recht auf Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat.

Die Israelis hatten in ihrer großen Mehrheit wenig Verständnis für Pappes Enthüllungen. Sie glauben offenbar immer noch zur Beruhigung ihres Gewissens an die zionistische Darstellung der Ereignisse, dass die Palästinenser auf Anweisung der arabische Führer freiwillig ihre Heimat verlassen hätten. Pappe geriet in Israel wegen seiner Veröffentlichungen immer mehr in die Kritik und wurde regelrecht gemobbt, auch von seinen Universitätskollegen. Diese Vorgänge hat er in dem Buch „Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf um die akademische Freiheit in Israel“ ( Laika-Verlag Hamburg 2011) ausführlich beschrieben. Pappe konnte seine Lehrtätigkeit an der Universität von Haifa nicht mehr fortsetzen. Er verließ Israel und lehrt jetzt am Institut für Arabische und Islamische Studien an der Universität von Exeter (England).

Doch wer heute Interesse an Pappes wegweisendem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ hat, der wird enttäuscht. Das Buch ist in Deutschland nicht mehr zu haben, was mit Sicherheit nicht an mangelnder Nachfrage liegt. Hat es Druck von „bestimmter Seite“ gegeben, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen? Angesichts der diffamierenden Kampagnen, die Israel-Freunde und Vertreter der jüdischen Gemeinden gegen die überall in Deutschland gezeigte Nakba-Ausstellung führen, liegt der Verdacht durchaus nahe: Auch nach über 60 Jahren soll über die Geschehnisse im Palästina von 1948 der Mantel des Schweigens gehüllt werden, denn die Kenntnis der Wahrheit würde das Israel-Bild der Deutschen erheblich verändern.

Die Sache ist also ziemlich vertrackt. Bittet man der Verlag Zweitausendeins um Auskunft, kommen gar keine oder nichtssagende Antworten: Man könne nicht sagen, ob das Buch demnächst in diesem Verlag wieder erscheinen werde oder nicht. Der Nachfragende wird darauf verwiesen, immer mal wieder auf der Internet-Seite des Verlages nachzuschauen, ob das Buch da angeboten wird. Es scheint aber so zu sein, dass Zweitausendeins die Lizenz für die deutsche Ausgabe des Buches verlängert hat, also weiterhin in deren Besitz ist. Eine Nachfrage beim englischen Verlag Oneworld Publications in Oxford, der die ursprünglichen Rechte für das Buch besitzt und sie für Deutschland an Zweitausendeins verkauft hat, bestätigt die Vermutung, dass dieser Verlag offenbar das Buch nicht wieder auflegen will. In der Antwort von Oneworld Publications an der Verfasser heißt es: „Die ursprünglichen Verleger der deutschen Ausgabe machen gerade strukturelle Veränderungen durch (they are undergoing structural changes, gemeint ist wohl ein Umbau des Unternehmens). Sie halten ihre Zusage aufrecht, das Buch wieder herauszugeben. Das ist aber bisher nicht geschehen, Wir tun alles, was wir können, die Rechte für das Buch zurückzubekommen, um einen neuen Verleger zu finden.“

Ilan Pappe selbst bestätigt diese Angaben. Er schrieb an der Verfasser: „Ich arbeite mit meinem Verleger in England intensiv daran, dieses Rätsel (conundrum) zu lösen, denn er besitzt die Rechte für das Buch. Gegebenenfalls sorgen wir dafür, dass die deutsche Ausgabe in voller Länge im Internet verfügbar sein wird. Wir werden Sie über die weitere Entwicklung informieren.“ Soweit der letzte Stand in dieser mysteriösen Angelegenheit um ein Buch, an dessen Nichtweitererscheinen es vermutlich von gewisser Seite großes Interesse gibt.

Arn Strohmeyer