Michael Lüders hat eine brillante Analyse der westlichen Politik im Orient vorgelegt / „Israel riskiert seine Selbstzerstörung“
Von Arn Strohmeyer, 12.06.2015
Es gibt eine alte Volksweisheit, die besagt, Dummheit ist eine Gabe Gottes, man soll sie nur nicht missbrauchen. Wenn dieser Spruch stimmt, dann tut der Westen, besonders seine Vormacht die USA, außenpolitisch ständig alles, diese Gottesgabe reichlich zu missbrauchen. Belege dafür liefert der Nahost- und Islam-Experte Michael Lüders in seinem neuen Buch „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“ in Hülle und Fülle. Man fragt sich bei der Lektüre dieses außergewöhnlichen Textes immer wieder, wie große Mächte wie die USA und die EU so kurzsichtig auf den eigenen Vorteil bedacht und langfristig so blind gegen eigene Interessen agieren können. Das Handlungsmuster dabei wiederholt sich in schöner Regelmäßigkeit – aus den eigenen Fehlern zu lernen ist offenbar völlig ausgeschlossen.
Der Ablauf, der sich über Jahrzehnte nicht verändert hat, sieht dann so aus: Am Anfang steht die Einteilung in Gute und Böse. Die USA und ihre Verbündeten – also der Westen – stehen natürlich immer auf der Seite der Vernunft und Moral, sie treten für die universellen Werte Freiheit, Menschenrechte und Demokratie ein. Den „Anderen“ auf der Gegenseite wird Irrationalität, Fanatismus und Grausamkeit unterstellt. Der Westen kämpft selbstverständlich stets für die Sache des Guten, was aber nur ein ideologischer Vorwand ist, denn in Wirklichkeit geht es um seine geostrategische Hegemonie, um Absatzmärkte für die eigene Wirtschaft, um Ressourcen und Rohstoffe sowie um die Sicherung der Transportwege zu ihrer Beschaffung. Um dies zu gewährleisten, ist die westliche „Wertegemeinschaft“ dann auch bereit, Allianzen mit den Herrschern übelster Diktaturen einzugehen.
Widersetzt sich ein Land der westlichen Vorherrschaft, wird es zunächst wie der Iran unter den Mullas, Syrien unter Assad und der Irak unter Saddam Hussein, Libyen unter Gaddafi oder z.Zt. auch Putins Russland mit Sanktionen überzogen. Wobei das Ziel immer ist, einen Regimewechsel im westlichen Sinne herbeizuführen, was aber so gut wie nie gelingt. Der nächste Schritt der Bestrafung sind dann Militärinterventionen – siehe Afghanistan, Irak und Syrien. Sind diese Staaten dadurch erst erschüttert oder gar beseitigt, hat man ein politisches Vakuum geschaffen, in das nun die verschiedensten um die Macht kämpfenden Gruppen hineinstoßen. Es beginnen unerklärte schmutzige Kriege unter dem Signum des „Kampfes gegen den Terrorismus“.
Lüders fragt: „Gibt es eine einzige militärische Intervention des Westens, die nicht Chaos, Diktatur und neue Gewalt zur Folge hatte?“ Er gibt die Antwort: „Auf die westliche Einmischung oder Intervention folgt stets die Herrschaft von Militärs, Milizen und Warlords, von Clans und Stämmen, von religiösen und ethnischen Gruppen – mithin Kleinstaaterei, Selbstzerstörung und Barbarei. In diesem Umfeld gedeihen unterschiedliche Gruppen von Dschihadisten, denen der Koran als Rechtfertigung von Willkür, Eroberung und Terror dient. Der sogenannte „Islamische Staat“ ist für die hier geschilderte Entwicklung das beste Beispiel. Ohne die amerikanische Ursünde – den völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak 2003 mit der anschließenden Zerstörung seines Zentralstaates und seiner Sicherheitsorgane – gäbe es heute den „Islamischen Staat“ und seinen Terror im Irak und in Syrien nicht.
Aber nicht nur das: Die USA haben die Terrororganisationen, die sie heute mit allen Mitteln bekämpfen, zum Teil selbst ins Leben gerufen und stark gemacht. Aus den Muhadschedin in Afghanistan, die für ihren Kampf gegen die sowjetischen Eroberer Waffen und Geld aus Washington bekamen, wurden später die Taliban und die Al-Qaida. Ein Ableger von Al-Qaida ist auch der „Islamische Staat“, der sich heute noch aus dem reichlichen amerikanischen Waffenarsenal in Syrien und Irak bedient, das Washington der Gegenseite geliefert hat: den guten „Dschihadisten“ und der irakischen Armee, und die der IS nun auf seinen Eroberungszügen erbeutet.
Michael Lüders kann bilanzieren: „Der Westen und hier besonders die USA haben den Zerfall ganzer Staaten vorangetrieben oder ausgelöst und sie haben zum Erstarken radikaler islamischer Bewegungen maßgeblich beigetragen, von den Taliban und Al-Qaida bis hin zum ‚Islamischen Staat‘. Mit anderen Worten: Der Westen schafft sich seine terroristische Bedrohung zum Teil selbst.“ Die Folge ist ein endloser Krieg, der aber gewollt ist, weil er die Profite der Rüstungsfirmen in die Höhe treibt, den Machtzuwachs von Regierungen und Geheimdiensten absichert und die Überwachung der Bürger legitimiert. Dass der Steuerzahler letzten Endes für diesen Irrsinn aufkommen muss, versteht sich von selbst.
Lüders widmet einige Kapitel auch der völlig einseitigen Politik des Westens gegenüber Israel, denn hier werden die absurden Widersprüche vollends zur Methode. Auch hier werden ständig die hehren westlichen Werte verkündet, aber angesichts der nicht nur völkerrechtswidrigen, sondern zutiefst menschenverachtenden Politik Israels gegenüber den Palästinensern werden Begriffe wie Freiheit, Menschenrechte und Demokratie völlig entwertet und entpuppen sich als reine Heuchelei und Doppelmoral. Lüders rückt die Dinge ins richtige Licht, wenn er schreibt: „Müssten irgendwo auf der Welt Menschen jüdischen Glaubens unter ähnlichen Bedingungen leben wie die Palästinenser unter israelischer Besatzung, würden sie Vergleichbares durchleiden wie die Bewohner des Gazastreifens im Sommer 2014, gäbe es einen Aufschrei des Entsetzens in der westlichen Politik und Publizistik.“
Zu der Heuchelei und Doppelmoral im Verhältnis des Westens zu Israel gehört auch die Dämonisierung der Hamas. Denn diese Organisation hat in den letzten Jahren immer wieder versichert, dass sie bereit sei, Israel anzuerkennen, wenn dieser Staat seinerseits bereit sei, den Palästinensern einen Staat und ihre Rechte zurückzugeben. Ein Faktum, das in der westlichen Politik und in den westlichen Medien lieber verschwiegen wird. Was soll die Hamas mehr anbieten? Lüders zitiert in diesem Zusammenhang den israelischen Historiker Avi Shlaim, der die absurde politische Logik und Moral des Westens so beschreibt: „Die internationale Gemeinschaft verhängt Wirtschaftssanktionen nicht gegen den Besatzer, sondern gegen denjenigen, der unter der Besatzung lebt, also nicht gegen den Unterdrücker, sondern gegen den Unterdrückten. Wie schon so oft in der tragischen Geschichte Palästinas würden die Opfer für ihr Unglück selbst verantwortlich gemacht.“ Avo Shlaim nennt eine solche Politik „schamlos“.
Und das geschieht alles unter dem Banner einer Politik, die beansprucht, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einzustehen. Der Gipfel des Zynismus ist dann die israelische Forderung an die Palästinenser, Israel als „jüdischen Staat“ anzuerkennen. Hier wird von den Palästinensern gefordert, die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit anzuerkennen. Oder schärfer formuliert: Die Palästinenser sollen ihrer dauerhaften Entrechtung zustimmen. Lüders schreibt: „Die Kolonialmacht verlangt gewissermaßen von den ‚Eingeborenen‘ ein klares Bekenntnis, dass sie keine Einwände gegen ihren Status als Rechtlose erheben. Auf eine solche Idee wäre nicht einmal das britische Empire gekommen.“ Der Autor sieht Israel auf dem Weg in eine Ethnokratie, in eine Neuauflage der Apartheid unter anderem Vorzeichen, was zur Selbstzerstörung dieses Staates führen kann. Dass Deutschland Israel auf diesem Weg gehorsam begleitet, ist der eigentliche Skandal. Lüders konstatiert: „Somit schließt sich der Kreis: Deutsche Politiker lernen aus der Geschichte, indem sie Israel Waffen zum Freundschaftspreis liefern, die anschließend auf Palästinenser gerichtet werden.“
Der Autor schließt mit einem düsteren Worst-case-Szenario: „Der ‚Islamische Staat‘ erklärt den Kampf um Jerusalem zur Glaubenspflicht, der Konflikt um Palästina verschränkt sich mit dem Vormarsch des ‚Islamischen Staates‘. Sollten jüdische und muslimische Extremisten gemeinsam die Region in Brand setzen, wird alles denkbar. Auch ein großangelegter Angriff auf Israel, ein Land mit Atomwaffen.“ Wenn dieses Szenario Wirklichkeit würde, was nicht zu hoffen ist, hätte der Westen auch hieran ein gerüttelt Maß an Schuld. Seine Unfähigkeit, die Realitäten im Nahen Osten zu sehen, die einseitige Sicht von gut und böse zu überwinden, die Zeichen der Zeit zu erkennen und mit Diplomatie, Interkulturalität und Pragmatismus zu handeln, lässt nicht auf eine Besserung der Situation hoffen. Eher im Gegenteil. Der unendliche Krieg in dieser Region wird zur Regel, aber er kann auch eines Tages sehr schnell zum Weltbrand werden. Diese verhängnisvolle Entwicklung mit analytischer Schärfe aufzuzeigen, ist das große Verdienst von Michael Lüders, der den Mut hat, gegen die Übermacht des Mainstreams anzuschwimmen und viel Unangenehmes mitzuteilen, das aber leider wahr ist.
Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, C.H. Beck-Verlag München 2015, 14,95 Euro