Recht auf Geheimhaltung von Regierungskriminaltät?

Nahostpolitik

Von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait, Juristin und Diplomatin a.D., 13.04.2019

Betr.:  Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 12.4.19: „Klare Botschaft“ von Silke Bigalke, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer und Nicolas Richter, SZ-Leitartikel vom 13.4.19: „Der Radikale“ von Nicolas Richter

Verhaftung von Julian Assange in London

Eine ganze Seite (Seite 3) widmet die Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 12.4. der Verhaftung von Julian Assange in London am 11.4. Aber worum es eigentlich geht, sind die vier dazu gemeinsam publizierenden SZ-Journalisten nicht fähig oder nicht willens klarzustellen („Klare Botschaft“ von Silke Bigalke, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer und Nicolas Richter, SZ 12.4.19). Doch die Sachlage, wie sie sich von Anfang an darstellt, ist genau zu beschreiben, denn es ist diese Sachlage, die den Fall Assange zu Recht in ein weltpolitisches Drama verwandelt.

Veröffentlichung von Dokumenten über Kriegsverbrechen der US-Regierung

Es geht um die Veröffentlichung von Dokumenten über Kriegsverbrechen der US-Regierung, und zwar um die Veröffentlichung von diplomatischen Depeschen, geheimen Militärdokumenten und Videos der US-Regierung zu den Kriegen in Afghanistan und im Irak 2010. Ein Video zeigt, wie US-Soldaten im Irak dabei auf Zivilisten und Journalisten schießen. Weitere Dateien stammen nicht nur aus dem Verteidigungsministerium (Pentagon), sondern auch aus dem Außenministerium. Die stichhaltige heikle Frage lautet: Ist es ein Verbrechen, die Wahrheit zu veröffentlichen? Sollen in einem demokratischen Rechtsstaat Regierungsverbrechen geheim gehalten werden, wo die Täter in den Regierungen mit Namen und Addresse bekannt und identifiziert sind? Macht es SZ-Journalisten nicht stutzig festzustellen, dass gerade, als die Internetplattform „Wikileaks“ von Assange Dokumente veröffentlicht hat, die die US-Regierung schwerer Verbrechen belastet, ein sexueller Vorfall hinsichtlich Assange in Schweden konstruiert wird, um die Öffentlichkeit von den Regierungsverbrechen abzulenken und Assange zu kriminalisieren? Im November 2010 erstellte eine schwedische Staatsanwältin einen Haftbefehl gegen ihn. Die Presse hatte damit eine Sensationsaffaire, um sich mit ihr in aller Ausführlichkeit zu befassen und die US-Regierungskriminalität, die wahren Verbrecher unbeachtet zu lassen. Wegen fehlender Beweise wurden Mitte 2017 die Ermittlungen gegen Assange in Schweden eingestellt.

Und jetzt plötzlich, als Julian Assange wieder im Weltrampenlicht, im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit steht und sich damit das Weltinteresse erneut auf die von Assange enthüllten US-Regierungsverbrechen und -Verbrecher richtet, erscheinen wieder dieselben schwedischen Frauen, um den Prozess gegen Assange erneut zu eröffnen. Reiner Zufall?

Ohne Prozess keine Auslieferung

Selbstverständlich muss Großbritannien als Rechtsstaat dem Druck der US-Regierung widerstehen, um nicht einen verfolgten Mensch an ein Land auszuliefern, wo gegen ihn nicht einmal ein Prozess existiert und die Todesstrafe herrscht. Eine hegemoniale Macht, die sich über Recht und Gesetz stellt, um die Kontrolle der Welt als Weltherrscher zu halten, weil sie Sicherheit mit ihrer Weltbeherrschung verwechselt und alle persönlichen Rechte unterminiert, ist gewiss kein sicherer Ort für einen Journalisten, der sich um die Verbrechen dieses US-Hegemons gekümmert hat. Der liberale US-Intellektuelle Gore Vidal hat Recht: London muss dem US-Druck widerstehen und darf Assange nicht ausliefern.

Er war gewiss ein Stachel im Fleisch der USA und ihrer EU/NATO Verbündeten, die Komplizen der USA geworden sind bei unsäglichen US-Verbrechen während wiederholter terroristischer Kriege.

Im Gegenzug Schuldenerlasss für Ekuador

Die politische Wende in Ekuador stellt den neuen Staatschef Lenin Moreno als hoch korruptes Staatsoberhaupt bloß, was auch den Schutz Assange vor einer ungeheuerlichen Macht betrifft. „New York Times“ berichtete, dass es zwischen dem neugewählten ekuadorianischen Präsidenten und Washington einen Deal gab: Eine Auslieferung Assanges gegen finanzielle Zugeständnisse der Amerikaner. „Moreno hat faktisch angeboten, Assange im Gegenzug für Schuldenerlasss auszuliefern.“ Der korrupte Lenin Moreno ist von der ekuadorianischen Bevölkerung abzuwählen als eine Schande nicht nur für Ekuador, sondern für ganz Lateinamerika. „Das ist ein nicht zu akzeptierendes Verhalten seitens der ekuadorianischen Regierung. Es geht um die Veröffentlichung von Informationen über Kriegsverbrechen“. So klipp und klar kritisierte der isländische Journalist Kristinn Hrafnsson die Verhaftung. Hrafnsson übernahm von Assange im September 2008 die Arbeit als Wikileaks-Chefredakteur. Zu Recht löst die Festnahme von Assange, die in der Londoner Botschaft Ekuadors stattfand, große Wut aus, Zorn, der sich in Protesten gegen den korrupten gekauften Präsidenten Ekuadors Moreno manifestiert (ARD-Mittagsmagazin am 12.4.19)

Leitmedien auf Tiefpunkt: Mangelndes Bewusstsein und Engagement für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit

Auf den deutschen Regierungsbänken dazu eisiges Schweigen: Kein Tweet, kein Ton, keine Erklärung zur Inhaftierung von Assange. Denn willig ist diese Regierung gern und immer, wenn es um den Willen der USA geht. Heike Hänsel, Sevim Dagdelen, Gesine Lötzsch und Diether Dehm von der Partei DIE LINKE forderten auf einer Veranstaltung am 12.4. Freiheit für Assange und die Medien. Er sollte politisches Asyl in Deutschland angeboten bekommen. Aber die Leitmedien sind an einem Tiefpunkt angelangt, was ihr Bewusstsein und Engagement für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht. Der SZ-Leitartikel vom 13.4. zum Thema macht da leider keine Ausnahme.

Ablenkung vom Brexit-Politikversagen

Nebenbei stellt sich die plausible Frage, ob die Verhaftung Assanges von der Londoner Polizei eine Manöver der Tory-Partei und ihrer Premierministerin ist, um die Öffentlichkeit vom Thema Brexit abzulenken, das sich als reines Politikversagen darstellt.

Selbsttäuschung von Politikern und Redakteuren

Es ist höchst bedauerlich und kaum nachvollziehbar, dass sich die USA gegen die menschlichen Errungenschaften der Zivilisation stellen. Ist ein Rechtsstaat etwa nicht dazu verpflichtet, sich an Recht und Gesetz zu halten? Wenn sich die USA verirren, wenn sie wiederholt in Fehlverhalten verfallen, verursachen ihre Untaten schwere Hindernisse für normale Beziehungen mit denjenigen Staaten, die sich an Recht und Gesetz halten. Umso unverständlicher die Illusion, ja die Selbsttäuschung von Politikern und Redakteuren, die immer noch daran glauben, die USA seien ein funktionierender Rechtsstaat.

Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit verhindern, ein Prinzip der Nürnberger Prozesse

Das Fehlverhalten der USA war und ist zu korrigieren. Das couragierte Engagement von Edward Snowden, Julien Assange, Jacob Appelbaum und dem Guardian-Journalisten Glenn Greenwald trägt entschieden dazu bei. Zutreffend erklärte Edward Snowden: „Ich glaube an das Prinzip, das in Nürnberg 1945 deklariert wurde: <Einzelpersonen haben internationale Pflichten, welche über die Verpflichtungen von nationalem Gehorsam hinausgehen. Daher haben Bürger die Pflicht, lokale Gesetze zu brechen, um Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit zu verhindern>“ (Aus dem Statement von Edward Snowden in der Zeitung der Piratenpartei „Kompass“ 13.7.2013, Junge Welt 15.7.2013) Just darüber sind die vier SZ-Journalisten Silke Bigalke, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer und Nicolas Richter aufgerufen nachzudenken, um zu begreifen, dass Julian Assange als Journalist genau dafür verfolgt wird, was ein Journalist immer tun sollte.

Regierungskriminalität aufklären und bestrafen

Innerhalb des US-amerikanischen Senats ist die Regierungskriminalität, die vom Militärindustriekomplex herrührt und der die US-Außenpolitik oftmals entscheidend brandmarkt, schon vor langer Zeit erkannt worden. 1975 bildete der US-Senat unter dem Vorsitz des mutigen und klugen Senators Frank Church aus Idaho eine spezielle Untersuchungskommission, um zu klären, welcher Mittel sich die Außenpolitik der USA bedient, um ihre Ziele durchzusetzen. <<“Wir glauben, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat zu erfahren, welche Instrumente ihre Regierung einsetzt“, erklärte die Untersuchungskommission des US-Senats in der Einleitung zu ihrem äußerst brisanten Bericht. „Die Wahrheit über Mordversuche muss ausgesprochen werden, da die Demokratie von einer gut informierten Wählerschaft abhängig ist. Aber dieses Land hat die Kraft, diese Geschichte anzuhören und daraus zu lernen. Wir müssen ein Volk bleiben, das seine Fehler sieht und das fest entschlossen ist, sie nicht zu wiederholen. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir untergehen. Aber wenn wir es schaffen, wird unsere Zukunft strahlend sein.“ >> (Daniel Ganser „Illegale Kriege – Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren“, Verlag Orell Füssli, Zürich, 2016, S.84) Wie sieht es mit der Aufklärung und Bestrafung der Regierungskriminalität heute in den USA und bei ihren Verbündeten, ihren Komplizen, aus? Wird der Deutsche Bundestag es schaffen, eine Untersuchungskommission dazu einzurichten? Was ist mit der deutschen Staatsanwaltschaft?