Von Arn Strohmeyer, 20.12.2013
Es gibt eine Karikatur, die Weihnachten heute in der Geburtsstadt Jesu darstellt. Die hochschwangere Maria und ihr Mann Josef stehen auf der Suche nach einer Herberge vor der riesigen, acht Meter hohen israelischen Mauer, die Bethlehem umgibt, und begehren an einem Tor Einlass, der ihnen aber von den wachhabenden Soldaten Israels verweigert wird. Maria wird ihr Kind wohl irgendwo auf einem Feld oder unter einem Olivenbaum zur Welt bringen müssen. Diese Karikatur ist von hoher Symbolkraft, weil die „Mauer“ oder „Mauern“ ganz allgemein– reale oder politische, religiöse, soziale und rassische – trotz aller Globalisierung und Fortschritte bei den Kommunikationstechniken immer noch das Leben auf der Erde weitgehend bestimmen.
Die Mauer bei Bethlehem umgibt ja nicht nur diese Stadt, sondern wird sich, wenn sie fertig gebaut ist, über 700 Kilometer über geraubtes palästinensisches Land hinziehen. Sie sperrt ein ganzes Volk als überflüssig weg, schränkt seine Bewegungsfreiheit auf ein Minimum ein, trennt Dörfer in zwei Teile, reißt Familien auseinander und lässt Bauern nicht zu ihren Feldern und Wasserstellen gelangen. Kinder können nicht zu ihren Schulen kommen, Tagelöhner nicht zu Arbeitsplätzen und Kranke nicht in die Kliniken. Frauen haben deshalb schon ihre Kinder auf der Straße an den Checkpoints vor den Augen der Militärs zur Welt bringen müssen, weil diese sie nicht passieren ließen. Maria würde es heute nicht anders ergehen.
Weihnachten ist in den Kirchen der Welt wieder viel von der frohen Botschaft, von Liebe, Heil, Erlösung und Christus dem Retter die Rede. Aber die Wahrheit ist: Auch nach 2000 Jahren Christentum ist die Welt weiter ein Dschungel – überall die Drohung von Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt, Krieg, Terror, Folter und Angst. Und Mauern – nicht nur die im sogenannten Heiligen Land – sorgen dafür, dass es so bleibt. „Wie ist es möglich, dass weit über zwei Milliarden Christen diese Welt so wenig verändern?“ hatte schon Heinrich Böll gefragt. Auschwitz und das, wofür dieser Begriff steht, hatte er den größten Friedhof des „christlichen Europa“ genannt. Genozide finden heute nicht mehr in eigens dafür erbauten Vernichtungsfabriken statt, aber es gibt sie noch.
Und was sagen die Christen zu dem barbarischen Unrecht, das – obwohl mit dem Holocaust nicht zu vergleichen – heute im „Heiligen Land“ geschieht? Einige wenige wagen sich nach vorn und erheben mutig ihre Stimme zum Protest. Aber die Mehrheit und vor allem das Kirchenestablishment schweigen, wie damals, als sie im „Dritten Reich“ angesichts der Diskriminierung, Verfolgung, und zuletzt der Vernichtung der Juden schwiegen und damit schwere Schuld auf sich luden wie davor schon durch die Jahrhunderte des christlichen Antijudaismus. Die Zionisten haben, obwohl selbst säkular orientiert, den Begriff Israel religiös so mystifiziert, dass in kirchlichen Kreisen immer noch der Glaube existiert, man könne eine direkte Anknüpfung vom Alten Testament zum heutigen Israel herstellen. „Die Juden sind ja das Volk Gottes!“ hört man Christen oft argumentieren. Diese ideologische Basis dient Vertretern der Kirche immer noch als Rechtfertigung, die völkerrechtswidrige Machtpolitik Israels zu unterstützen.
Dabei ist die zionistische Behauptung, dass die Juden aus dem „Heiligen Land“ stammen, dort um 70 n.u.Z. nach einem Aufstand gegen die römischen Besatzer von diesen ins Exil vertrieben worden sind, um ab dem 19. und 20. Jahrhundert wieder dorthin zurückzukehren, längst als Mythos widerlegt worden. Eine Vertreibung konnte bis heute historisch nicht nachgewiesen werden – sie ist auch höchst unwahrscheinlich, weil die Römer nie Völker vertrieben haben, denn sie wollten von diesen unterworfenen Völkern ja ökonomisch profitieren. Zudem: Schon lange vor dem Jahr 70 n.u.Z. hatten Juden weite Teile des Mittelmeerraumes und Vorderasiens besiedelt. Man denke an den Apostel Paulus, der aus der jüdischen Gemeinde in Tarsus in der heutigen Türkei stammte. Außerdem haben die Juden damals missioniert, was sogar zu großen jüdischen Reichen in Nordafrika, im Jemen und an der Wolga und am Don (die Herrschaft der Chasaren) führte. Die Missionierung wurde erst eingestellt, als das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde und Bekehrungen nicht mehr duldete.
Der israelische Historiker Shlomo Sand hat nachgewiesen, dass die meisten osteuropäischen Juden Nachfahren der Chasaren sind. Die Gründergeneration des Staates Israel stammte aber genauso wie das heutige israelische, immer noch ashkenasische Establishment aus dem polnischen und russischen Raum – auf eine Verbindung zum „Heiligen Land“ können sich diese Menschen also kaum berufen. Sand merkt an diesem Punkt an, dass das Thema Chasaren deshalb in Israel ein absolutes Tabu ist. Sand kommentiert die Abneigung, sich wissenschaftlich mit den Chasaren zu beschäftigen, ironisch so: „Niemand möchte die Steine hochheben, unter denen die giftigen Spinnen herumkrabbeln, die dem Selbstbild der ‚Ethnie‘ und seinen territorialen Forderungen schaden könnten.“
Der amerikanische Jude Mark Braverman hat den Christen ins Stammbuch geschrieben, dass ihr Schweigen zur Politik Israels eine Schande sei. Er wirft ihnen in seinem Buch „Verhängnisvolle Scham. Israels Politik und das Schweigen der Christen“ vor, dass sie erneut schwere Schuld durch ihre Weigerung auf sich lüden, die menschenverachtende israelische Politik beim Namen zu nennen und ihr mit Protest entgegenzutreten. Durch diese Weigerung wollten sie sich von ihrer Schuld von damals befreien. Aber das kann nicht funktionieren. Deshalb ermuntert er besonders die deutschen Christen und ihre Amtskirche: Auschwitz ist zwar das Sinnbild für die große Schuld der Deutschen, aber das Symbol dieses Schreckensortes kann keine Begründung für das Schweigen gegenüber Israels Politik sein. „Ihr seid nicht besser oder schlechter als andere“, mahnt er, „es gibt nicht nur eine Schuld, es gibt auch eine Gelegenheit, jetzt richtig zu handeln.“ Mit anderen Worten: Der bedingungslose Kampf für die Menschenrechte und das „Nie wieder!“ muss die Wiedergutmachung für ihre Verachtung sein, der sich die Generation der Großväter und Väter im Nationalsozialismus schuldig gemacht hat.
Aber wer das auf sich nimmt, muss – so schreibt Braverman – in der Sprache der christlichen Symbolik das Kreuz tragen. Und das heiße heute, sich dem Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen – ob durch Israel selbst, durch die jüdischen Gemeinden in der Diaspora oder die Freunde dieses Staates. Bravermann hat auch das Bild von der Mauer vor Augen. Als er in Israel und Palästina vor diesem abstoßenden Betonmonstrum stand, habe er wie in einer erleuchtenden Eingebung wahrgenommen, dass er selbst eine Mauer in sich habe. Dieses Erlebnis habe sein Leben verändert. In diesem Zusammenhang erzählt er von dem kleinen palästinensischen Mädchen, das ihn dort gefragt habe, warum die Juden hinter einer Mauer leben müssten.
Obwohl es natürlich umgekehrt ist, hat das Kind Recht: Gerade dieses Trennungsmoment, das Sich-Abkapseln von anderen Völkern und Glaubensrichtungen, nicht erst seit 1945, sondern schon über die Jahrhunderte, die Jahrtausende hindurch, macht Braverman den jüdischen Gemeinschaften zum Vorwurf. Für die Juden des 20. Jahrhunderts seien Religion und Politik durch den Zionismus ineinander verstrickt. Jeden Tag beten gläubige Juden für den Schutz und das Wohlbefinden des Staates Israel. Paranoia und die Wiederkehr des Amalek, des biblischen Feinds, der in jedem Jahrhundert wieder aufersteht, um das jüdische Volk zu vernichten, heiße er Pharao oder Hamam oder Hitler, Nasser oder Arafat, prägen noch das Denken. Gegen das Heraufbeschwören dieses Gespenstes der Paranoia setzt Braverman sich zur Wehr.
Der amerikanische Jude erkennt an, dass die Christen sich nach Jahrhunderten des Antijudaismus und nach dem Holocaust um ein neues Verhältnis zu den Juden bemüht und auch gewonnen hätten, dieses aber nun von ihnen dazu benutzt würde, eine neues großes Unrecht zu rechtfertigen und Widerstand dagegen zu diffamieren: die ethnische Säuberung Palästinas, die systematische Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts durch den Staat Israel. Es sei der Fehler der Christen gewesen, dass sie den Zionismus übernommen hätten, ihn also mit Judentum gleichsetzten. In ihrer Scham über die Schuld an den Juden gingen sie nun zu viele Schritte zurück, indem sie meinten, dass den Juden dieses Land zustehe. Und er, der Jude aus den USA, sei nun in der merkwürdigen Situation, dass er den christlichen Pastoren in seiner Heimat, in Europa und besonders in Deutschland die universalistische Position Jesu, also seine frohe Botschaft, erklären müsse, die laute: Gerechtigkeit nicht nur für ein Volk, sondern für die ganze Welt!
Aber nicht nur Zionisten bauen Mauern. Zur Illustration des Gesagten sei hier noch eine kleine Episode erzählt – eine völlig unbedeutende Begebenheit angesichts des großen Weltgeschehens und doch typisch für die Haltung der offiziellen Vertreter der christlichen Lehre – in diesem Fall der Protestanten. In Bremen versammelt sich an jedem Samstagvormittag vor den Treppen des Doms für eine Stunde eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Leuten (zu der auch der Verfasser dieser Zeilen gehört), die aus allen politischen und weltanschaulichen Lagern kommen, um stumm mit Transparenten und Schrifttafeln die Freiheit und Selbstbestimmung, die Menschen- und bürgerlichen Rechte für die Palästinenser einzufordern. Natürlich geht das nicht ohne Kritik an der Macht, die diesem Volk seine Rechte verweigert. Zu Anfang des Unternehmens hatte die Gruppe die Kühnheit besessen, auf den untersten Stufen der breiten Domtreppe zu stehen. Daraufhin erhielt sie ein in rüdem Ton verfasstes Schreiben der Domleitung, die den Teilnehmern der Demonstration den Aufenthalt auf den Stufen untersagte. Beigefügt war ein Plan, auf dem das zum Kirchenbesitz gehörende Gelände genau eingezeichnet war, das für die Gruppe zur verbotenen Zone erklärt wurde.
Die Kirchenleitung begründete ihren Schritt mit dem Argument: Das Stehen auf den Treppenstufen könnte von der bremischen Öffentlichkeit so gedeutet werden, dass es sich dabei um eine kirchliche Aktion handele. Die evangelische Kirche habe mit dieser Demonstration aber nichts zu tun und distanziere sich ausdrücklich davon. Die elementarsten Menschenrechte für ein besetztes und unterdrücktes Volk einzufordern, das ist nicht die Sache der evangelischen Kirche der Hansestadt Bremen. Damit will sie nichts zu tun haben. In dem Brief der Domleitung wurde sogar der Antisemitismus-Vorwurf erhoben, dem sich die Jüdische Gemeinde natürlich gleich anschloss.
Da ist es wieder das symbolische Bild von der grauen, acht Meter hohen Betonmauer, wo Maria mit ihrem Mann an einem Tor vergeblich um Einlass bittet. Das Mauerdenken ist auch in den Köpfen sehr vieler Christen fest verankert. Die Hüter der christlichen Lehre in Bremen würden Maria wohl auch trotz aller In-Dulci-Jubilo-Posaunenchöre und feierlichen Predigten zum Geburtsfest des „Erlösers“ den Durchlass verweigern…
Arn Strohmeyer