Die Stunde der Pharisäer

Nahostpolitik

Von

Evelyn Hecht- Galinski, 11.12.2013

Nelson Mandela, das Symbol des friedlichen Widerstands gegen Rassismus und Apartheid, hat seinen Weg vollendet. Er stellte die Ikone für Freiheit und Gleichheit dar, fast übermenschlich stilisiert zu einem Übermenschen, der er gar nicht sein wollte. Er, der warmherzige und verzeihende Widerstandskämpfer, der sich mit seinem Kampf gegen das Apartheidsystem großes Ansehen in der ganzen Welt erworben hatte und auch als erster freiheitlich gewählter schwarzer Präsident Südafrikas durch seine Großherzigkeit bestach, verstarb am 5. Dezember.

Mandela wird in die Annalen der Geschichte eingehen als Friedenskämpfer und Verzeiher. Er, der Nationalheld und Gigant der Gerechtigkeit, ein außergewöhnlicher Mensch und Vorbild für alle nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaften, hat bis ihn seine Kräfte verließen für diese Ziele gekämpft. Nach ihm gibt es heute noch Bischof Desmond Tutu, als letzter übrig gebliebener Begleiter, der jetzt diesen Kampf in seinem Sinn weiter führen kann.

Haben ihn andere Nachfolger nicht schon längst vergessen? Denken viele der ANC-Führer nicht inzwischen nur noch an Macht und Geld? Leidet nicht gerade auch Mandelas Heimatgemeinde Qunu unter großer Armut? Er der Mann der Versöhnung, erreichte es mit seinem Engagement einem schier unschlagbaren Machtapparat des Apartheidregimes die Stirn zu bieten und es hinwegzufegen auf den Müllhaufen der Geschichte.

Mandela vergaß auch den Freiheitskampf des palästinensischen Volkes nicht. Er sandte im Jahr 1997 eine Botschaft aus Anlass des Solidaritätstages mit dem palästinensischen Volk, in der er sagte.“ Wir wissen nur zu genau, dass unsere Freiheit nicht komplett ist, ohne die Freiheit für Palästina“. Mandela war eine Ausnahmeerscheinung, wie sie wahrscheinlich für immer einmalig bleiben wird. Amnesty International zeichnete ihn 2006, als „Botschafter des Gewissens“ aus. Ja das war er, daran sollten auch alle Heuchler denken, die ihn jetzt so groß mit Krokodilstränen in Nachrufen betrauern.

Vergleichen wir einmal Mandela und seinen Freiheitskampf, den er 1964 mit einem Todesurteil bezahlte, das dann „großzügig“ in ein viermal Lebenslänglich, wegen Terror, Umsturz-Versuchen und kommunistischen Aktivitäten umgewandelt wurde, mit dem von anderen Kämpfern für Gerechtigkeit. Mit ihm zusammen verurteilt wurde übrigens auch sein Freund und Wegbegleiter im Anti Apartheid-Kampf und ANC-Genosse, Denis Goldberg. Beide mussten auch ihre Haftstrafe getrennt absitzen, der eine, Mandela, auf Robben Island, der berüchtigten Gefängnisinsel, der andere, Goldberg, anders als seine schwarzen Mitangeklagten, in einem segregierten Gefängnis in Pretoria. Mandela lernte sogar Africaans, die Sprache der Buren und eingewanderten Holländer während seiner Haft, um sich besser mit seinen weißen Wärtern verständigen zu können. Goldberg begann ein Jura Studium, wurde 1985, nach 22 Jahren aus der Haft entlassen. Mandela wurde nach 27 Jahren Haft 1990 entlassen. Goldberg war einer der wenigen Juden, die sich gegen das Apartheidregime einsetzten, und dafür büßen musste.

Hamba kahle Madiba. Ruhe in Frieden Nelson Mandela!

Kehren wir zurück in die Gegenwart. Marwan Barghouti, die Ikone der palästinensischen Bewegung und des palästinensischen Freiheitskampfes, der Gefangene in Zelle 28, dessen Bild mit seinen über den Kopf erhobenen und gefesselten Händen als Symbol für den andauernden Freiheitskampf des palästinensischen Volks gilt, wird sowohl als Führer aller Fatah-Gefangenen als auch als Kämpfer für alle gefangenen Hamas-Aktivisten anerkannt. Ist er deshalb so gefährlich für die Palästinenserbehörde, wie auch für das israelische Regime? Wäre er nicht der Einzige, der es schaffen könnte, wenn man ihn denn nur lassen würde, diese palästinensische Nation zu einen und ein ernsthaften Verhandlungsführer mit Israel zu werden? Marwan Barghouti, der palästinensische Mandela, muss aber weiter sitzen, weil man ihn fürchtet und um seine einigende Wirkung weiß. Er, der Kommandeur der Fatah-Tanzim Brigaden im Westjordanland war, zählte zu den Anführern der zweiten Intifada, er kämpfte gegen die israelische Besatzung. Im Rahmen der Operation Schutzschild (Defens Shield) verhaftete ihn die israelische „Verteidigungsarmee“ und verschleppte ihn nach Israel. Er wurde zu Beginn ohne Rechtsbeistand verhört, gefoltert und danach nach einem langen juristischen Kampf, wurde er in einem, wie er sagte „politischen Verfahren“, im Mai 2004 zu fünfmal lebenslänglich und vierzig Jahren verurteilt. Er verlangt mit Recht seine Anerkennung als Kriegsgefangener, was ihm bis zum heutigen Tag verwehrt wird, trotz dieses legitimen Rechts laut der IV. Genfer Konvention.

Bei jedem Gefangenenaus-tausch blieb Barghouti unberücksichtigt, nie gehörte er zu den Freigelassenen. Weder Israel noch die Fatah sind an seiner Freilassung interessiert. Gerade die Hamas, die einzige demokratisch gewählte palästinensische Regierung im Gazastreifen, setzte sich mehrfach für Barghoutis Freilassung ein. Natürlich ist auch das ein Grund, dass weder Israel, noch die PA der Hamas diesen Triumph gönnen wollen! Barghouti, der 2009 während seiner Haft in das Zentralkomitee der Fatah gewählt wurde, muss nun auf seine Freilassung warten, bis Israel nach Abbas einen neuen Verhandlungspartner braucht. Doch mehr als unwahrscheinlich erscheint es mir, dass Israel jemals einen ehrlichen palästinensischen Verhandlungspartner akzeptieren wird!

Barghouti meldete sich 2012 anlässlich des „Tag des Bodens“ aus dem Gefängnis und rief überraschend zum Abbruch der Kooperation mit Israel auf, zum Warenboykott und Abbruch aller Verhandlungen der PA mit Israel. In der Tat, wie recht er hat: Die Palästinenser haben das Recht, alle Mittel des Widerstands gegen die andauernde Besatzung einzusetzen, die ihnen möglich sind. Auch forderte er die PA zu verstärkten diplomatischen Aktivitäten vor der UN auf. Was war die Konsequenz? Er kam in Einzelhaft und bekam Besuchsverbot.

Marwan Barghouti, dem politischen Führer und Vordenker des palästinensischen Freiheitskampfes muss endlich Gerechtigkeit widerfahren und er muss sofort freigelassen werden! Er der Kämpfer und Anwalt des Friedens und der Gerechtigkeit für die Palästinenser und Architekt des sogenannten „Gefangenenpapiers“ (prisoners document), das sogar das Existenzrecht Israels anerkannte, ein Recht, das ich als einen „Kampfmittel“-Begriff bezeichne, der immer wieder benutzt wird und eigentlich völlig ohne Sinn ist, da Israel ja seit 1948 existiert. Hat eine israelische Regierung jemals einen unabhängigen Palästinenserstaat anerkannt?

Leider hat das israelische Regime bis heute nicht begriffen, wie man in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann, weil es diesen gar nicht will. So in „Unfrieden“ zu leben mit seinen Nachbarn hat sich für Israel immer positiv ausgezahlt, konnte es doch so immer weiter siedeln und Land rauben, für den zionistischen „jüdischen Staat“ ohne feste Grenzen! Müssen wir nicht in diesem Zusammenhang die zwei einmal so befreundeten Regime vergleichen, nämlich Israel und Südafrika?

Denis Goldberg drückte es sehr richtig aus: Der Boykott gegen Südafrika war ein Boykott gegen ein Regime, nicht gegen Individuen, genauso ist es mit der BDS-Kampagne gegen das israelische Regime, nicht gegen Individuen.

Haben diese beiden unmenschlichen Regime nicht gegen alle Menschenrechtsstandards gehandelt? Israel nennt sich bis heute die „einzige Demokratie“ im Nahen Osten, eine Demokratie, die seit 1967 über 800.000 Palästinenser zeitweilig inhaftierte? Viele von ihnen sitzen seit Jahrzehnten willkürlich und ohne demokratische Anklage in israelischen Gefängnissen. Haben palästinensische Kinder nicht dieselbe Ausgrenzung erfahren, wie südafrikanische schwarze Kinder in Südafrika? Wann wird das israelische Besatzer- und Apartheid-Regime endlich in die Knie gezwungen wie das ehemalige Apartheid-System in Südafrika? Wann wird Marwan Barghouti, das Symbol der palästinensischen Befreiungsbewegung, endlich dieselbe Gerechtigkeit erfahren, wie sie Nelson Mandela dem einmaligen Anti Apartheid-Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit nach seinen leidvollen Erfahrungen zuteil wurde?

Können wir überhaupt noch darauf hoffen, dass jemals ein Frieden mit Israel möglich sein wird? Wohl kaum, die Zusammenarbeit mit Israel hat den Palästinensern nichts gebracht, außer immer neue Demütigungen und Schikanen. Jeder neue Ansatz, die Farce des Friedenstheaters in einer neuen Inszenierung aufzuführen, hat nichts erreicht, außer die PA und deren Vertreter ohne Mandat, Präsident Abbas, weiter künstlich an der Macht zu halten.

Das israelische Netanjahu-Regime hat es äußerst erfolgreich geschafft, die Weltöffentlichkeit erneut vom Palästina-Konflikt abzulenken und den Fokus total auf den Iran zu lenken. Im Schatten dieser Politik wachsen die Siedlungen unaufhörlich und das palästinensische Land wird „grüngewaschen und bepflanzt“ vom Jüdischen Nationalfond JNF/KKL, und den Palästinensern und Beduinen wird das Land geraubt, enteignet und zehntausende Olivenbäume und Ernte zerstört. Im blockierten Gazastreifen leiden die Menschen in unvorstellbarer Weise durch die israelische Willkür und Blockade-Politik, Wasser wird ihnen rationiert, Abwasser-Probleme verwandeln Gaza in eine Kloake – und das alles im Schatten des Alleinvertretungsanspruchs von Israel auf Atomwaffen und Sicherheit.

Gerade hat Israel bei der deutschen Regierung angeblich 3 bis 4 Raketenschnellboote angefordert, ein Deal im Umfang von einer Milliarde Euro. Wurden nicht gerade erst sechs U-Boote von Israel gekauft, die sogar nachträglich mit Atomwaffen bestückt werden können? Die Raketenschnellboote sollen zum Schutz von Offshore-Anlagen zur Gasförderung im Mittelmeer eingesetzt werden. Schon bei den U-Booten hatte Deutschland ein Drittel der Kosten als Ausdruck seiner „besonderen Verantwortung“ für die Sicherheit Israels übernommen. So sieht die deutsche Staatsräson für Israels Sicherheit aus, und das ist nur der Anfang. Wie wird es erst aussehen, wenn wir die Kriegs- und Angriffslust unseres „Wertepartners“ Israel mittragen dürfen/müssen?

Das israelische Regime ist heute eines der brutalsten Unterdrücker- und Besatzer-Regime auf der ganzen Welt, unter den Augen der Weltöffentlichkeit und im Bewusstsein des Unrechts, das dort täglich begangen wird. Der Holocaust rechtfertigt absolut nicht. die heutigen Verbrechen im „jüdischen Staat“ zu tolerieren.

Auch sehe ich es mit großem Befremden, dass im kommenden rot/schwarzen Koalitionsvertrag die Bezeichnung Israel und „jüdischer Staat“ steht. Ist das nicht eine Ohrfeige für die nicht-jüdische Bevölkerung? Schon im Apartheid-Staat Südafrika wurden weiße Kinder von schwarzen Kindern getrennt. Heute werden im besetzten Palästina jüdische/israelische von palästinensischen getrennt. Ich kann es bis heute nicht verstehen, dass ehemals rassistisch verfolgte Menschen so menschenverachtend handeln wie sie es heute im „jüdischen Staat“ praktizieren. Ich kann bis heute nicht verstehen, wieso sich gerade ehemals rassistisch Verfolgte so gut mit Diktaturen, wie eben auch mit dem ehemaligen Apartheid-Buren-Staat Südafrika verstanden haben? Vergessen wir niemals: Es gibt keine Neutralität, sondern nur Besatzer und Besetzte und Unrecht und Recht!

Wieder einmal ist die Stunde der Heuchler gekommen, sie alle wollen sich noch einmal sonnen im Glanz von Nelson Mandela. Sie werden alle zur Trauerfeier nach Südafrika reisen und sich in Menschenrechtsbekundigungen übertreffen.

David Cameron war der erste ausländische Regierungschef, der seine öffentliche Anteilnahme nach Mandelas Tod bekundete. Müsste er sich nicht für Margret Thatcher noch heute entschuldigen, die den ANC und Mandela ablehnte?

Auch Obama, Clinton und Bush werden nach Südafrika reisen. Haben sie nicht im Gepäck die Reagan- und Cheney-Politik, die den ANC und Mandela immer aufs schärfste bekriegte und als Terroristen verfolgte? Ganz im Sinne auch der heutigen Politik, dass im Namen der sogenannten Terrorbekämpfung alles erlaubt ist? Sollte Merkel nach Südafrika reisen und vielleicht den bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer im Schlepptau haben, dann wäre es doch angebracht, dass dieser sich für seinen Parteigenossen und Ministerpräsidenten zu Apartheid-Zeiten, F.J. Strauss entschuldigt, der die Abschaffung der Apartheid für unverantwortlich und die Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung für nicht wünschenswert hielt. Natürlich hatte Strauss auch immer ausgezeichnete Beziehungen zu Israel. Sollte gar DGB Chef Sommer nach Südafrika reisen, so sollte er sich fragen, ob die heutige so gute Zusammenarbeit des DGB mit Israel nicht fatal an die gute Zusammenarbeit zu früheren Zeiten mit dem Apartheid-System Südafrika erinnert?

Ach ja, ich hörte im DLF noch die rührige Rita Süssmuth, die sich rühmte, vor vielen Jahren, als sie noch Bundestagspräsidentin war, Nelson Mandela eingeladen zu haben, um ihn im Bundestag  sprechen zu lassen. Dann erschrak ich, weil Süssmuth doch tatsächlich von „Farbigen“ sprach, ganz in der Sprache des Apartheidregimes. Aber was soll man auch von deutschen Politikern halten, die in jüdischen/israelischen Stiftungen (z.B. der Galinski-Stiftung) sitzen und sich von diesen Organisationen mit Preisen und Ehrendoktorwürden überhäufen lassen und danach stolz das faschistoid/rassistisch/zionistische Besatzer-Regime unterstützen – alles im Namen der christlich/jüdischen Wertegemeinschaft!

Sollten Netanjahu oder Peres dort erscheinen, dann dürften beide noch von der engen Allianz zwischen dem israelischen und dem südafrikanischen Regime unter Premierminister Balthazar Johannes Vorster träumen, dem Anhimmler von Nazi-Deutschland, und rechtsradikalen Apartheid-Führer, der 1976 in Israel vom damaligen Ministerpräsidenten Rabin freundschaftlich empfangen wurde. Sollte gar Bundespräsident Gauck die Reise nach Südafrika antreten, könnte er ja wieder vollmundig für die Menschenrechte werben. War es nicht die Stunde des Heuchlers, als er am 6. Dezember auf einer Veranstaltung des Bundespräsidialamtes aus Anlass des 65. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sprach? Er wurde sogar persönlich, als er auch noch auf die Verschleppung seines Vaters in der ehemaligen DDR erinnerte, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, der 1946 aus britischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und danach auf der Neptun-Werft in Warnemünde arbeitete. 1951 wurde Gaucks Vater auf Grund seiner Nazi-Vergangenheit (er war Kapitän in der NS-Kriegsmarine) verhaftet, vor ein sowjetisches Militärtribunal gestellt und zu 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Erst 1953 erfuhr die Familie Gauck von diesem Gerichtsurteil. Verständlich, dass Gauck, ebenso wie der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker, der seinen Vater (Ernst von Weizsäcker, der „Diplomat des Teufels“) reinwaschen wollte, sein Jurastudium unterbrach und seinen Vater 1947 vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess mit zu verteidigen half. Aber kann man in diesen Fällen wirklich von der Verletzung von Menschenrechten sprechen?

Warum sprach Gauck nicht während seines Israel-Besuches die Menschenrechtsverletzungen und Militärtribunale für tausende unschuldige Palästinenser an? Gauck fuhr fort in seiner Rede, in der er abermals einen Satz sagte, der mir an Heuchelei nicht zu überbieten scheint: „Wir kennen die Geringschätzung und Marginalisierung von Menschenrechten, wenn es darum geht, wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Wir sehen, dass in der Außenpolitik nationale Interessen nicht selten Vorrang gegenüber der Menschenrechtspolitik eingeräumt wird“. Zitat Ende! Als ehemaligem Pfarrer rufe ich dem Bundespräsidenten Gauck zu: Vergessen Sie nicht, in Anlehnung an das achte Gebot „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen“ – Menschenrechte sind unteilbar und sollten an jedem Ort und auf jeder Reise, die Sie als oberster Vertreter des deutschen Staates machen, angesprochen und deren Einhaltung gefordert werden, auch in Israel!

Evelyn Hecht- Galinski

Hier ein Brief von Marwan Barghouti aus dem Gefängnis an den verstorbenen Nelson Mandela:
http://english.pnn.ps/index.php/prisoners/6333-marwan-barghouti-to-mandela-our-freedom-seems-possible-because-you-reached-yours