Ein Weihnachtswunsch: Dass die Mythen, die sich um das „Heilige Land“ ranken entzaubert werden und Frieden so möglich wird

Nahostpolitik

Von Arn Strohmeyer, 21.12.2015

Der Dalai Lama, der Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, hat kürzlich eine erstaunliche Bemerkung gemacht: Der Zustand der Welt wäre wohl besser, wenn es die Religionen nicht gäbe. Wie recht er hat! Man kann die Mythen hier mit einschließen, denn sie hängen eng mit der Religion zusammen. Religion und Mythen gehen immer Hand in Hand. Palästina, das sogenannte „Heilige Land“, hat drei große Weltreligionen hervorgebracht: das Judentum, das Christentum und den Islam. Diese drei Religionen berufen sich auf den mythischen Stammvater Abraham und erheben alle denselben Anspruch: im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Dieser Anspruch allein hat eine rigide Intoleranz zur Folge gehabt und hat unendliches Leid über die Menschen gebracht und Ströme von Blut fließen lassen: durch Missions- und Eroberungskriege, Zwangsbekehrungen, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse, Kolonialismus und und …

Ein Beispiel aus dem Christentum. Es sei hier an ein historisches Ereignis mit religiösem Hintergrund erinnert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich in Europa herumgesprochen, dass die christlichen spanischen Eroberer in Mittel- und Südamerika bei der „Entdeckung“ und Eroberung dieser Regionen furchtbare Verbrechen an den dort lebenden indigenen Völkern begangen hatten. Im Einvernehmen mit Papst Julius III. beschloss Kaiser Karl V., eine große Konferenz in der spanischen Stadt Valladolid abzuhalten, um über die folgenden Fragen zu debattieren: Gehören die jüngst entdeckten Völker zum Menschengeschlecht oder nicht? Sind sie im Erlösungsplan Christi vorgesehen? Sind sie Geschöpfe des lebendigen Gottes oder eine kaum noch menschliche Unterart der Menschheit? Haben Indianer eine Seele? Ist Christus auch für sie gestorben?

Die Versammlung trat im Jahr 1550 in der spanischen Stadt zusammen – unter ihnen die berühmtesten Theologen der damaligen Zeit: der Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der die Indianer als „Menschen mit einer Seele“ verteidigte, und Juan Ginés de Sepulvéda, der die These vertrat, dass die neu entdeckten Völker „Untermenschen“ seien, also Wesen, die das Wort „Mensch“ nicht verdienten. Da für Kaiser und Kirche auch beträchtliche wirtschaftliche Interessen in Amerika auf dem Spiel standen, war klar, wie die Entscheidung der Versammlung lauten würde: Bei den indigenen Völkern handelt es sich nicht um Menschen, sie sind keine Kinder Gottes und nicht Teil des göttlichen Erlösungsplanes. (Quelle: Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren)

Das ist der religiöse Ausgangspunkt des westlichen Kolonialismus, die „Weißen“ haben die menschenverachtende Philosophie, die in Valladolid beschlossen wurde, in den folgenden Jahrhunderten getreu befolgt und brutal in die Tat umgesetzt: in Amerika, Australien, in Afrika und in Asien. Der Beschluss von Valladolid war sozusagen die theologische Rechtfertigung für das kolonialistische Vorgehen. Ein Rest davon ist auch noch im Zionismus enthalten, der im 19. Jahrhundert in der Hochzeit des Kolonialismus entstand und Elemente des europäischen Nationalismus und Kolonialismus in sich trägt, weshalb Abraham Melzer sagen kann: „Der Zionismus ist eine anachronistische Weltanschauung und gehört auf den Kehrhaufen der Geschichte.“

Der Zionismus lebt, obwohl er selbst säkular ist, vornehmlich von religiösen Mythen – alten wie neuen: Dass Gott den Juden das Land Palästina bzw. Erez Israel (Groß-Israel) geschenkt hat; dass es dort einst ein großes und mächtiges jüdisches Reich gegeben habe; dass die Juden nach der Zerstörung des Tempels 70 n.u.Z. durch die Römer vertrieben und in alle Welt ins Exil zerstreut worden seien; dass sie immer den Wunsch hatten, in die alte Heimat zurückzukehren und dies dann auch im Zuge der zionistischen Bewegung ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wirklich taten; dass Palästina bei ihrer Ankunft „leer“ und „öde“ gewesen sei und dass das Land nur darauf gewartet hätte, von den Rückkehrern urbar gemacht zu werden und die Wüste nun zum Blühen gebracht werden sollte. Die Zionisten nannten das die „Befreiung“ und „Erlösung“ des Landes.

Es kommen die modernen Mythen hinzu: dass die Palästinenser, die es dort entgegen den zionistischen Behauptungen doch gab, 1947/48 das Land „freiwillig“ verlassen hätten; dass Israel das Westjordanland 1967 zu Recht erobert hätte, weil es das alte Judäa und Samaria der Bibel sei; dass die Israelis stets zum Frieden bereit gewesen seien und den Arabern immer die Hand zur Versöhnung ausgestreckt hätten; dass die Juden die „ewigen Opfer“ und die „anderen“, die Palästinenser, die „Täter“, „Terroristen“ und die „neuen Nazis“ seien. All dies sind Propaganda-Mythen, die zum Teil einen religiösen Hintergrund haben und das israelische Narrativ ausmachen. Israelische Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappe, Avi Shlaim, Israel Shahak, Simcha Flapan und Shlomo Sand, um nur einige zu nennen, haben sie längst widerlegt. Dennoch bilden diese Mythen immer noch den weltanschaulichen und politischen Grund, auf dem der Staat Israel beruht.

Ohne diese Mythen ginge es Israel wie im Märchen dem „Kaiser mit den neuen Kleidern“, es stände ziemlich nackt da. Und weil das so ist, behauptete schon der Zionistenführer und erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, dass starker Glaube an den Mythos ihn in historische Wahrheit verwandeln könne. Die historische und politische Wirklichkeit heute ist aber eine ganz andere. Israels ist ein Erbe des Kolonialismus – ihm verdankt es seine Entstehung (der Hilfe der imperialistischen Mächte England, Frankreich und den USA) und es ist bis heute ein siedlerkolonialistischer Staat in dem Sinne, wie Petra Wild ihn definiert hat: „Der reine Siedlerkolonialismus, für den Israel ein Beispiel ist, strebt danach, die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen. Die Grenzen werden stets weiter nach vorne verschoben und die einheimische Bevölkerung wird auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt, um ihr Land und ihre Ressourcen für die Siedlerbevölkerung freizumachen. Charakteristisch für siedlerkolonialistische Gebilde sind neben territorialer Expansion ein ausgeprägter Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler kamen.“

Damit sind die Geschichte und die gegenwärtige Politik Israels mit all ihrer Gewalt und ihrer Menschenverachtung gegenüber den Palästinensern genau beschrieben.

Wie verzerrt und irreal im Sinne des eigenen selbstherrlichen Mythos das Bild ist, das die Israelis von sich selbst haben, hat die israelische Psychoanalytikerin Ruchana Marton am Beispiel der Mauer beschrieben. Sie nennt dieses von Israel gebaute Monstrum zu den Palästinensergebieten eine „metaphorische Blende“, deren Sinn und Funktion es ist, die „Existenz des palästinensischen Volkes insgesamt auszublenden“. Sie begründet das so: „Von einer psychologischen Warte aus ermöglicht diese Blende es den jüdischen Israelis, das Leid und die Menschlichkeit der Bewohner auf der anderen Seite zu vergessen“. (…) Ein brauchbarer Ansatz, einige der psychologischen Mechanismen zu verstehen, die mit der Mauer zu tun haben, ist das Prinzip der Spaltung. Es lässt zwei Extreme zu, die Welt ist in ‚gut‘ und ‚böse‘ gespalten, ohne ein Mittleres. Spaltung ist der primitivste Abwehrmechanismus, auftretend bei übergroßer Verängstigung und einem Bedürfnis, unerträglich starke positive und negative Emotionen voneinander zu trennen. Ironischerweise fordert diese begriffliche Verarbeitung laufend psychische Energie und ist als Langzeitlösung nicht sehr effektiv, denn die Ängste werden eher blockiert als erforscht, verarbeitet und schließlich abgebaut.“

Weiter schreibt Ruchama Marton: „Indem man sowohl die äußeren wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist es psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen‘, d.h. die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann man die projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun dem ‚Anderen‘ angehören. Die Trennmauer wird so ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt dem zionistischen israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv, gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als Verletzer von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“

Die Mauer ist also nicht nur eine physische Barriere, sie trennt auch – in den Augen der Israelis – das fortschrittliche, zivilisierte und demokratische Israel von den rückständigen, barbarischen und gewalttätigen Palästinensern. Die Mauer erlaubt es den Israelis, diese ‚Anderen“, die vor allem als Terroristen wahrgenommen werden, ohne Empathie und Miterleben des menschliche Leids auszublenden. Ruchama Marton schreibt: „Sie [die Mauer] ist undurchsichtig, um den Blick auf das Elend und Leid auf der anderen Seite zu verhindern. Wäre sie durchsichtig, könnten wir tatsächlich das beunruhigende Leid der Menschen auf der anderen Seite sehen. Sie ist hässlich – denn sie soll die Illusion stützen, auf der anderen Seite lebe ein böses, ein hässliches Monster und keine normalen Menschen. Die palästinensische Existenz jenseits gilt als minderwertig, hässlich, schmutzig, gewalttätig und gefährlich.“ Durch diese Abschottung und die Verweigerung des Blicks auf die andere Seite stumpfen die Israelis aber ab, denn sie verdrängen ja einen Teil ihrer eigenen Psyche, die sie nicht mehr wahrnehmen. Das Getto kommt so wieder und mauert auch die Israelis ein.

Das Selbstbild, das sich die Israelis in Bezug auf die Palästinenser machen, hat also wenig mit der Realität zu tun – man kann es in seiner heroischen Selbsterhöhung auch als eher dem Reich des Mythos angehörig bezeichnen. Aber solche Mythen sind sehr gefährlich, wie gefährlich hat der israelische Historiker und Publizist Simcha Flapan für sein Land schon vor Jahrzehnten formuliert: Es gilt, „die propagandistischen Denkstrukturen aufzulösen, die so lange verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte des Friedens an Boden gewinnen konnten. Die Aufgabe, die den Intellektuellen und den Freunden beider Völker [Israelis und Palästinensern, d.Verf.] zufällt, besteht nicht darin, Ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen des Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu tauchen, in der Hoffnung, dass man es auf diese Weise schafft, die Verzerrungen und Lügen, die mittlerweile zu sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu schaffen.“ Und warnend fügt er hinzu: „Wenn die Klischees und die falschen Mythen ihren Platz im Denken behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich.“

Gemessen an diesem Kriterium steht es nicht gut um das „Heilige Land“ und seine Zukunft. Denn es ist klar: Ohne Abschied von den Mythen ist eine Annäherung zwischen Israelis und Palästinensern unmöglich. Dazu würde vor allem die Erkenntnis gehören, dass Gott (welcher auch immer) den Juden dieses Land nicht geschenkt hat, sondern dass heute dort zwei Völker leben, die ein gerechten und friedlichen Ausgleich miteinander finden müssen. Israel ist der Kolonist, Besatzer und Unterdrücker, deshalb trägt dieser Staat die Hauptlast der Verantwortung für eine Lösung des Konflikts – und man kann nachfühlen, dass es eine gewaltige Aufgabe ist, sich von den Mythen, die bisher seine Identität ausgemacht haben, zu trennen. Das ist deshalb so schwer, weil es hier um das Selbstverständnis des Zionismus geht – vor allem was das Jahr 1948 angeht, in dem die Nakba (die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser) stattfand.

Über den Mythos, dass die Palästinenser ihre Heimat „freiwillig“ verlassen hätten, schreibt Simcha Flapan: „Der Mythos vom freiwilligen Auszug der Palästinenser als Antwort auf ‚Weisungen von oben‘ hat sich mit erstaunlicher Zähigkeit gehalten. Rückblickend kann man erkennen, dass der Mythos das unvermeidliche Ergebnis davon war, dass man den Palästinensern ihr Recht auf Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit verweigert hatte, ein Prinzip, das die zionistische Politik von Anfang an geleitet hatte.“

Weiter schreibt Flapan: „Wenn der Mythos anfänglich auch politisch war, wurde er bald zu einem wichtigen Pfeiler des Selbstverständnisses des neugegründeten Staates. Zunächst einmal ließen sich damit die Spuren der unschönen Methoden tilgen, die die israelischen Sieger angewandt hatten – von der Beschlagnahme von Lebensmitteln, Rohstoffen, Medikamenten und Grundstücken bis zu Akten des Terrors, Einschüchterung und Panikmache und schließlich bis zur gewaltsamen Vertreibung – , und auf diese Weise die Schuldgefühle ersticken, die in vielen Teilen der Gesellschaft, namentlich in der jüngeren Generation, vorhanden waren. Viele derer, die Schuldgefühle empfanden, wirkten an den Operationen mit, die die Flucht der Araber auslösten. Sie befolgten selbst die Weisung, ganze Dörfer zu zerstören, Männer, Frauen und Kinder aus ihren Häusern zu treiben und sie in eine ungewisse Zukunft jenseits der Grenzen zu schicken. Viele von ihnen nahmen an Aktionen teil, bei denen alle arbeits- und wehrfähigen Männer eines Dorfes zusammengetrieben und dann zur Deportation in Lastwagen gepfercht wurden. Es war für sie nicht leicht, ihr revoltierendes Gewissen zu beruhigen.“

Und weiter: „Aber der Mythos bewährte sich nicht nur bei der Verdrängung der Schuldgefühle, sondern auch als wirksame Waffe der politischen Kriegführung. Er wurde zur Untermauerung der uralten zionistischen These verwandt, die Palästinenser seien kein Volk mit legitimen nationalen Bestrebungen und Rechten, sondern einfach ein Teil des arabischen Volkes, den man nach Belieben in irgendwelche bewohnbaren Regionen des ausgedehnten arabischen Lebensraumes abschieben könne.

Die Folgen der Nakba 1948 auf die heutige Politik Israels hat Ilan Pappe beschrieben, wobei er zunächst auf eine mögliche Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten in Lagern in arabischen Staaten ein elendes Dasein fristen müssen, eingeht: „Hinter diesen drakonischen Maßnahmen der israelischen Regierung, jedes Gespräch über das Rückehrrecht zu verhindern, steht eine tief sitzende Angst vor einer Debatte über die Ereignisse von 1948, da Israels ‚Behandlung‘ der Palästinenser in jener Zeit zwangsläufig beunruhigende Fragen nach der moralischen Legitimität des gesamten zionistischen Projekts aufwerfen würde. Für Israelis ist es daher von entscheidender Bedeutung, einen starken Verleumdungsmechanismus aufrechtzuerhalten, der ihnen nicht nur hilft, die von den Palästinensern in den Friedensverhandlungen gestellten Forderungen abzuwehren, sondern auch – und vor allem – jede eingehende Debatte über den Charakter und die moralischen Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.“

Pappe geht dann auf den zionistischen Gründungsmythos ein: „Die Palästinenser als Opfer israelischer Taten anzuerkennen ist für die Israelis in mindestens zweierlei Hinsicht zutiefst beunruhigend. Da eine solche Anerkennung bedeutet, sich dem historischen Unrecht zu stellen, das Israel mit der ethnischen Säuberung Palästinas 1948 begangen hat, stellt sie die Gründungsmythen des Staates Israel in Frage und wirft eine Fülle ethischer Fragen auf, die unausweichliche Folgen für die Zukunft des Staates haben. (…) Die Palästinenser als Opfer anzuerkennen ist mit tief verwurzelten Ängsten verknüpft, da es von den Israelis verlangt, ihre Wahrnehmung der ‚Vorgänge‘ von 1948 in Frage zu stellen. Aus Sicht der meisten Israelis – und nach der Darstellung, die die israelische Mainstream- und Propagandageschichtsschreibung  immer wieder verbreitet – konnte Israel sich 1948 als unabhängiger Nationalstaat auf einem Teil des Mandatsgebietes Palästina etablieren, weil es den frühen Zionisten gelungen war, ‚ein leeres Land zu besiedeln‘ und ‚die Wüste erblühen zu lassen‘.“

Und weiter: „Die Unfähigkeit der Israelis, das Trauma anzuerkennen, das die Palästinenser erlitten haben, tritt noch schärfer hervor, wenn man sie mit der nationalen Schilderung der Nakba als traumatische Erfahrung kontrastiert, mit der sie bis heute leben. Hätte der ‚natürliche‘, ‚normale‘ Ausgang eines langen, blutigen Konflikts die Palästinenser zu Opfern gemacht, hätte Israel nicht so große Angst, der anderen Seite den Opferstatus zuzugestehen: Beide Seiten wären ‚Opfer der Umstände‘ – an dieser Stelle lässt sich aber auch jeder andere schwammige, unverbindliche Begriff einsetzen, der Menschen, vor allem Politikern, aber auch Historikern dazu dient, sich von der moralischen Verantwortung freizusprechen, die sie sonst tragen würden.“

Und Pappe schließt: „Aber was die Palästinenser verlangen und was für viele von ihnen zu einer Conditio sine qua non wurde, ist, dass man sie als Opfer eines fortdauernden Unrechts anerkennt, das Israel bewusst an ihnen begangen hat. Das zu akzeptieren würde natürlich für israelische Juden ihren eigenen Opferstatus beschädigen. Es hätte politische Auswirkungen auf internationaler Ebene, würde aber auch – was vielleicht entscheidender wäre – moralische und existenzielle Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden zeitigen: Sie müssten sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild ihres schlimmsten Alptraums geworden sind.

Wie recht Ilan Pappe damit hat, dass Erinnern für eine etablierte Gesellschaft gefährlich sein kann, macht die aktuelle israelische Politik deutlich: Das israelische Parlament – die Knesset – hat im März 2011 ein Gesetz verabschiedet, das das Gedenken an die Nakba verbietet. Das Gesetz stellt öffentliche Gedenkfeiern unter Strafe, die an die Vertreibung der Palästinenser erinnern. Das heißt: Palästinensische Organisationen oder israelische Menschenrechtsgruppen riskieren hohe Geldstrafen, wenn sie das Schicksal der Palästinenser 1948 zum Thema machen. Der Mythos von der zionistischen Unschuld muss also mit allen Mitteln aufrecht erhalten werden. Man sieht, eine wie wichtige Rolle Mythen im israelischen Selbstverständnis spielen. Aber sie sind das erste große Hindernis, das auf dem Weg zum Frieden überwunden werden muss. Ohne eine Entmythologisierung dieser selbst gestrickten Propaganda-Legenden kann es keinen Ausweg aus dem Konflikt mit den Palästinensern geben. Die Situation erinnert an das alte China. Als der Weise Konfuzius in einem kriegerischen Konflikt vermitteln sollte, sagte er: „Um zueinander zu finden, müssen wir erst einmal die Begriffe ordnen und uns darüber einigen.“