Progressive Israelis und Palästinenser haben eine wichtige Aufgabe: eine politische Bewegung aufzubauen, die uns eine wirksame Stimme gibt , um die Zukunft unseres Landes zu formen
Jeff Halper, September 2017
Da wir den 50. Jahrestag von Israels Besatzung erreicht haben, ist es schwer, am Horizont ein durchführbares politisches Programm oder eine konzentrierte politische Bewegung jenseits des ungenauen Slogans: „beendet die Besatzung“ zu finden.
Die von der israelischen Friedensbewegung der letzten 50 Jahre und von der PLO/PA der letzten 30 Jahre unterstützte Lösung – zwei Staaten für zwei Völker – ist ritualisiert und versteinert worden und funktioniert nicht mehr. Sie ist tief unter den israelischen Siedlungen begraben worden, wie auch unter massiven Blocks in Ost-Jerusalem und der Westbank, wo inzwischen 800 000 israelische Siedler wohnen.
Ganz bewusst und systematisch und mit unbegrenzten Ressourcen hat Israel nahezu das große Projekt des Zionismus vollendet: tatsächlich die Judaisierung des Landes und Palästina in das Land von Israel verwandelt. „Ost“-Jerusalem 1967 annektiert, hat längst aufgehört, als eine kohärente, funktionierende städtische Entität zu existieren. Die Westbank ist zu Judäa und Samaria geworden. Mehr als 90% der Palästinenser sind auf nur 12% des ganzen Landes eingeschlossen, obwohl sie fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Groß-Israel ist eine Realität, eine unumkehrbare Realität, unleugbar ein einziger Apartheid-Staat. Ein Blick auf die Karte genügt, um die „Matrix der Kontrolle“ zu zeigen, die Israel auf Dauer über die besetzten palästinensischen Gebiete gelegt hat.
Die Karte zeigt, wie jede Regierung absichtlich jede Möglichkeit eines lebensfähigen palästinensischen Staates während der letzten fünf Jahrzehnte eliminiert hat. Zone A und B zeigen bis zu welchem Grad das palästinensische Gebiet in winzige Enklaven zerteilt und durch Siedlungsblocks voneinander getrennt wurden, die Trennungsmauer und ein Labyrinth von israelischen Schnellstraßen. Israel kontrolliert alle vitalen Ressourcen der OPT, seinen Luftraum und die Kommunikations-Sphäre. Indem es Mauern und Genehmigungs-Regime aufrecht erhält, hat es Groß-Jerusalem von der palästinensischen Gesellschaft und Wirtschaft getrennt und so den Palästinensern ihr politisches, religiöses und kulturelles Zentrum geraubt, natürlich auch ihr größtes Touristen-Zentrum, die Quelle von 40% ihrer Wirtschaft.
Die Karte kann den Rest nicht zeigen: die Zerstörung der palästinensischen Wirtschaft und die Verarmung seines Volkes (70% leben unter der Armutsgrenze), Vertreibung (fast 50 000 palästinensische Häuser wurden seit 1967 in den OPT zerstört , seit 1948 wurden mehr als 70 000 innerhalb Israel zerstört) eine traumatisierte Bevölkerung, die Jahrzehnte lang eine unerbittliche, unterdrückerische Militär-Besatzung erduldet hat, 800 000 von ihnen waren in Gefängnissen und wurden gefoltert, Beschränkungen der Bewegung und sogar der Familienzusammenführung, veranlasste Emigration und anderes mehr.
Geben wir es zu : Keine israelische Regierung der letzten 50 Jahre hat ernsthaft die Aussicht auf einen echten, souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staat gestellt, auch nicht während der glänzenden Tage des „Oslo-Frieden-Prozesses“. Was heute besteht, ist eine Apartheid. Ein einziger Staat – Israel – beherrscht das ganze Land und ein ganzes Volk ohne zivile, humane oder nationale Rechte.
Eine effektive Regierung, eine Armee, eine Wirtschaft, eine Infrastruktur und eine unmittelbare territoriale Siedlungsnachbarschaft beherrscht das palästinensische Leben politisch, wirtschaftlich, militärisch und physisch, während die palästinensische Bevölkerung – die Hälfte des ganzen Landes – auf Dutzende von winzigen Enklaven von nur 10 % des Landes begrenzt sind.
Während der Jahre haben progressive Israelis mit verschiedenen Lösungen gespielt, verschiedene Variationen des Zwei-Staaten-Themas. Die meisten sind „föderalistische Modelle der einen oder anderen Art, indem sie Lova Eliavs Idee eines Staates wiederbelebten, in dem Nationalität vom Gebiet getrennt ist. Eine vorgeschlagene „Heiligland-Union“ sieht 3 Staaten für zwei Völker in einem Land vor. „einen säkular föderalen Staat, der die Herrschaft über das Gebiet und über zwei nicht territoriale Nation-Staaten.“
Eine andere „israelisch-palästinensische Föderation“ bietet 15 föderalen Distrikten, die nach der jüdisch-arabischen Bevölkerungsgrenze getrennt ist. „die Zwei-Staaten/ Ein Homeland“ ist sogar noch mehr verschachtelt. Hier teilen sich zwei nationale Gruppen dasselbe Land, halten aber getrennte Staatsbürgerschaft, politische Systeme und Parlamente, wobei beide Staaten damit einverstanden sind, dass eine verhältnisgleiche Zahl von Bürgern des andern Staates in ihrem Gebiet leben und den Status des permanenten Bürgers erhalten.
Was all diese Versionen der Zwei-Staaten-Lösung verbindet, ist eine felsenfeste Überzeugung, dass Palästinenser und Israelis so unvereinbar sind, dass sie nicht dieselbe Politik teilen können – eine Idee, die ich nicht akzeptieren kann. Ausnahmslos lassen sie die Sicherheit für die voraussehbare Zukunft in israelischen Händen.
Von der Apartheid zu einer multikulturellen Demokratie
Die absichtliche und systematische Eliminierung der Zwei-Staaten-Lösung durch Israel und die Unzulässigkeit der Apartheid lassen nur eine Option für ein gerechtes politisches Abkommen für einen Konflikt, der eine ganze Region destabilisiert und für die Palästinenser zerstörerisch ist: ein einziger demokratischer Staat, der all seinen Bürgern die gleichen Rechte zusichert. Eine Person – eine Stimme. Ein einziges parlamentarisches Regime, die Schaffung einer robusten und integrativen Bürger-Gesellschaft, die volle Integration der Armee und Sicherheitskräften, die Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, die wollen (begleitet von Landumverteilung, finanzieller Wiedergutmachung, Wohnbau und aktive Fördermaßnahmen in der Bildung und Miete) und eine Wirtschaft, die jedem dient.
Wie in vielen anderen Ländern ist auch Palästina/Israel multikulturell. Wie die beigefügte Skizze zeigt, besteht sie aus nationalen Gruppen (palästinensische Araber und israelische Juden), religiösen Gemeinschaften ( Muslimen, Juden und Christen in einer Unmenge von Denominationen, wie z.B. die Hamas, die säkulare Fatah oder religiöse Zionisten, als auch politische Gemeinschaften) und ethnische Gruppen (Mizrahim, Drusen und die asylsuchende Gemeinschaft und andere) Viele dieser Gruppen überschneiden sich.
Während jeder an der größeren Bürgergesellschaft teilnehmen würde, könnten sich die Bürger auch an ihren verschiedenen Identitäten festhalten, ja auch innerhalb ihrer Gemeinschaften. Sicherlich hat eine Gesellschaft, die Jahrhundert lange zivile und nationale Kriege, Siedlerkolonialismus und Besatzung erlebt hat, kollektive Identitäten, die zentral bleiben. Die Leute würden die Freiheit haben, von einem Sektor angezogen zu sein, den sie wünschen. Es ist also ein Hin und Her zwischen den Sektoren möglich.
Religiösere Juden und Muslime mögen z.B. – mehr von ihren eigenen nationalen/religiösen Gemeinschaften hingezogen fühlen. So würden es zurückkehrende Flüchtlinge der ersten Generation und alte Leute tun und vielleicht die Arbeitsklassen. Dieser Multikulturalismus wird vom Staat anerkannt werden und in die Verfassung aufgenommen, die kollektive wie individuelle Rechte garantieren wird, wie auch die Rechte der Sprache, des Erbes und kommunaler Institutionen neben denen der zivilen Gesellschaft.
Verfassungsmäßig geschützter Multikulturalismus wird die Knesset daran hindern, neue Gesetze zu verabschieden, die die Integrität irgendeiner nationalen, religiösen oder kulturellen Gruppe verletzt oder eine Gemeinschaft einer anderen bevorzugt. Diese würde eine zusätzliche Schutzschicht für israelische Juden liefern, deren kollektive Identität, Sprache und Erbe anerkannt werden wird, wie dies auch auf palästinensischer Seite geschehen würde.
Da die Jahre vergehen und Bürger wie Gemeinschaften ein Gefühl der Sicherheit, des Vertrauens und der Verbundenheit empfinden und da jüngere Generationen auftauchen, für die das Leben in einer allgemeinen zivilen Gesellschaft normal ist, wird eine allgemeine zivile Identität auftauchen und sich erweitern. Zuerst wird vor allem die jüngere Generation angezogen, säkulare Leute und die Mittelklasse, eine bürgerliche Gesellschaft würde allgemeines Leben werden, umgewandelt in die allgemeine Staatsbürgerschaft, ein allgemeines Parlament, allgemeine kollektive Erfahrungen, die sich aus dem täglichen Leben ergeben, wie zivile Heirat, integrierte Gemeinden und Schulen, allgemeine Medien, das Lernen der Sprache des anderen, allgemeine Feiertage und Symbole etc. Es wird nicht nur eine neue politische Entität entstehen, sondern eine neue Gesellschaft, ein Beispiel für andere, wie ethnische Konflikte durch Gleichheit, Demokratie und Multikulturalismus gelöst werden können.
Politische Akteure oder Störenfriede?
Abgesehen vom Formulieren gerechter praktikabler Lösungen haben progressive Israelis und ihre palästinensischen Partner noch eine andere wichtige Aufgabe: eine politische Bewegung innerhalb des Landes und international aufzubauen – ganz unten –als Grassroot – als auch in den Parlamenten, die uns eine wirksame Stimme gibt, um die Zukunft unseres Landes aufzubauen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir politische Akteure sein wollen oder nur Kommentatoren. Wenn das erstere, dann sind meiner Ansicht nach vier Dinge notwendig.
- Müssen wir ein gerechtes und durchführbares politisches Programm formulieren – meiner Meinung nach entlang den oben genannten Linien . Wir müssen es tun, da es keiner tun will: nicht die Regierungen, nicht die Parteien, nicht die NGO’s, kein akademisches Forum, keine Aktivisten, deren Widerstand vor Ort – so wichtig er ist – nicht auf ein aktuelles Programm gerichtet ist. In der Tat sind wir die einzigen Akteure, die (1)kritische politische Analysen mit (2)der „Vor-Ort“-Erfahrung verbinden und (3). der Fähigkeit, die zivile Gesellschaft zu Hause und im Ausland zu mobilisieren — dies alles ist nötig, um ein gerechtes und durchführbares politisches Abkommen zu erreichen. Bewaffnet mit einem politischen Plan haben sogar wenige Leute die Macht, dringend unsere verzweifelten Kräfte in eine mächtige und konzentrierte Bewegung zu bündeln. Dies war es, was unsere Feinde, die Siedler vor 50 Jahren taten. Die Rechte in aller Welt sah sich selbst als Akteur und hat hart gearbeitet, um aus der Verhöhnung und der Finsternis in eine Position der Dominanz von heute aufzutauchen. Die Linke, die einmal das politische Sagen hatte, scheint ihren Glauben an die Fähigkeit zu führen, verloren zu haben. Wir haben uns Es wird Zeit, an die Oberfläche zurück zu kehren – in Palästina/Israel und anderswo.
- Die Palästinenser müssen trotz all ihrer Einschränkungen die Führung übernehmen. Es gibt keinen anderen Weg. Kein andere kann die palästinensische Sache so vertreten und hat das Recht, ein politisches Programm zu formulieren. Ohne ihre Führung, Regie und Leitung sitzen wir fest, nichts wird geschehen. Der weltweiten BDS-Bewegung ist es gelungen, Massen zu mobilisieren, um Palästina zu unterstützen. Sie lässt sie jedoch hängen. Die Massen von Unterstützern für einen gerechten Frieden in Palästina/Israel können mobilisiert werden, sie müssen aber wissen zu welchem Ende. Was verlangen wir von unsern politischen Führern? „Das Ende der Besatzung“ ist ein Anfang, und wie geht es weiter? Die vielen Israelis und Internationalen mobilisierten sich, um Palästina zu unterstützen – sie müssen ermächtigt und von Palästinensern geleitet werden.
- Wir müssen die Dringlichkeit des Augenblicks auf zwei Ebenen verstehen. Zunächst politisch Trump, Netanjahu, Abu Mazan und der Rest kochen ein Regime permanenter, international sanktionierter Apartheid und dies geschieht jetzt. Wo sind wir? Was für eine Alternative bieten wir? Haaretz beschrieb kürzlich (24. Mai) wie die US-Regierung als eine mit „allgemeinen Prinzipien“ nach den Siedlungen schaut. Wir können fünf anbieten:
- Ein gerechter Friede muss eine Balance zwischen kollektiven Rechten (Selbstbestimmung) und individuellen Rechten (Demokratie) sein.
- Ein gerechter Frieden und die Verhandlungen, die dahin führen, müssen mit den Menschenrechten, dem Internationalen Gesetz und den UN-Resolutionen übereinstimmen.
- Ein gerechter Friede fordert, dass das Flüchtlingsproblem voll gelöst wird.
- Ein gerechter Frieden bedeutet, ein politisches System und eine zivile Gesellschaft errichten, die soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Gleichheit zusichert und völlige Integration der Sicherheitskräfte.
- Ein gerechter Friede muss regional im Bereich sein.
Warum werfen wir nicht unsere Prinzipien in die Diskussion?
Wenn wir nicht sofort und wirksam organisieren, was zunächst und vor allem ein eigener politischer Plan bedeutet, werden wir einfach verlieren. Wir haben keine Zeit mehr. Man kann behaupten – wie viele Israelis und sogar Palästinenser tun, dass jetzt nicht die Zeit für eine Lösung ist — lassen wir dies die nächste Generation tun.
Die israelische Apartheid mag eines Tages fallen; aber ist es ein politischer Plan zu warten, nur zu protestieren und unsere Hoffnung auf zukünftige Generationen zu setzen? Oder machen wir einen geheimnisvollen Schritt. Als die Süd-Afrikanische Apartheid fiel, hörten wir oft, so will es Israel. der Trugschluss ist natürlich, dass sie nicht nur wegen des Gewichts seiner eigenen Ungerechtigkeit fiel. Sie wurde von schwerer Arbeit des ANC besiegt.
Die politische Richtung zu liefern, ist auch für interne Bewegungsgründe dringend.
Man beginnt sich, von der palästinensischen Sache zu entfernen. Der politische Kampf verschmäht aber ein Vakuum. Ohne eine empfohlene Endphase, beginnen die Leute wegzulaufen. Wenn sich jahrelang nichts auf der palästinensischen Seite (außer einer immer größer werdenden Besatzung) bewegt, wendet man seine Zeit und Energie dringenderen Problemen zu: Syrische und andere Flüchtlinge, Trump und Theresa May bekämpfen, Klimawandel, lokale Probleme etc. Wir müssen eine Bewegung aufbauen – oder eher die existierende, aber stecken gebliebene Bewegung wachrütteln. Ein gemeinsames politisches Programm ist äußerst dringend.
Wir sollten durch 50 Jahre Besatzung gekennzeichnet sein, aber für uns selbst beschließen, dass dies das erste Jahr effektiven Widerstands, Befürwortung und politischer Bewegung ist. Das Fenster ist im Begriff, sich zu schließen.
(Jeff Halper ist Direktor des israelischen Komitees gegen Hauszerstörung (ICAHD) ein Gründer und ein Gründer von „The People yes-Netzwerkes)
dt. und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs, zugesandt am 15.09.2017