Eine Studie des Politologen Ulrich Teusch gibt aufschlussreiche Einblicke in den deutschen Mainstream-Journalismus
Von Arn Strohmeyer, 18.11.2016
Das Wort „Lügenpresse“ hat in Deutschland die Runde gemacht – ein Begriff, der in Pegida- und AfD-Kreisen aufgekommen ist und deshalb mit äußerster Vorsicht zu behandeln ist. Nun wird zweifellos in der Politik und im Journalismus bisweilen gelogen, oder Journalisten verbreiten von Politikern in die Welt gesetzte Lügen. Da die Behauptung einer „Lügenpresse“ aber ein diffuser Vorwurf ist, der ausschließlich polemisierend und diffamierend gemeint ist, taugt das Wort wenig als Beitrag zu einer Debatte, die an sich begrüßenswert und nützlich ist: über den Vertrauensverlust, der sich in der Gesellschaft gegenüber den Medien herausgebildet hat.
Der Politologe und Betreiber eines medienkritischen Blogs, Professor Ulrich Teusch, lehnt den Begriff „Lügenpresse“ denn auch ab und spricht vielmehr von einer „Lückenpresse“. Unter diesem Titel hat er jetzt ein Buch herausgebracht. Die „Lücken“ sind für ihn das eigentliche Problem der heutigen Medienwelt. Er konkretisiert seine Kritik: Lücken entstehen, wenn bestimmte Nachrichten regelrecht und ganz gezielt unterdrückt werden. Der Begriff bezieht sich aber auch auf die Bewertung von Nachrichten. Soll heißen: Die eine Nachricht wird künstlich hoch gespielt, die andere wird irgendwo gemeldet, aber bewusst unten gehalten oder sogar weggelassen. Entscheidend ist auch der Kontext, in dem Nachrichten erscheinen: Die eine Nachricht wird tendenziös eingebettet, mit einem „spin“ versehen, die andere aber nicht.
All diese Mechanismen verstärken sich wechselseitig, und wenn sie regelmäßig auftreten oder sich bei bestimmten Themen zu einem flächendeckenden Phänomen anwachsen, entstehen Narrative, also große journalistische Deutungsmuster oder Erzählungen. In diese Narrative werden dann alle neu einlaufenden Informationen eingeordnet. Wenn sie ins Narrativ passen, ist ihnen Aufmerksamkeit gewiss, falls nicht, trifft sie das Lückenschicksal. Teusch weist auf die Gefahren solcher Narrative hin: „Dass Journalisten solche Narrative bedienen, halte ich für absolut inakzeptabel und indiskutabel.“ Ein Journalismus, der sich Narrativen fügt, ist ein Widerspruch in sich selbst. Er kann schlimme Folgen haben. Aber natürlich erfordert es Courage, sich einem dominanten Narrativ zu widersetzen, womit das Thema Selbstzensur angesprochen ist. Als weiteres Kriterium für die Vertrauenskrise der Medien führt Teusch die „doppelten Standards“ an. Das heißt: Nachrichten werden in tendenziöser Weise bewertet, es wird also mit zweierlei Maß dabei gemessen. Alle diese Merkmale hängen eng miteinander zusammen und verstärken sich wechselseitig. Zudem kommen diese Phänomene nicht zufällig zustande, sondern sind strukturell verankert und natürlich interessengeleitet.
Teusch konkretisiert seine Kritik am Mainstream-Journalismus, indem er die genannten Merkmale vor allem auf die Berichterstattung über Russland und dessen Staatschef Putin sowie die Ukraine anwendet. Dass die Mainstream-Medien ein Russland-Bashing betreiben und sich fast wieder im Kalte-Kriegs-Modus befinden, ist bekannt. Als gutes Beispiel für einen „doppelten Standard“ führt der Autor die Kritik der meisten Medien an Russlands Vorgehen auf der Krim an. Wenn man die Annexion der Halbinsel als „völkerrechtswidrig“ bewerte (was man natürlich könne), die völkerrechtliche Dimension bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten, (bei denen der Westen eine entscheidende Rolle spielt) aber komplett ausblende, dann zeige das das ganze Dilemma auf.
Der Autor geht leider nicht auf die „Lücken“ und „doppelten Standards“ der Berichterstattung über Israels Politik gegenüber den Palästinensern ein, er wäre hier natürlich außerordentlich fündig geworden.
Denn noch viel mehr als bei den Themen Russland und Ukraine bestimmen hier die Merkmale „Lücken“ und „doppelte Standards“ die journalistische Agenda, nirgendwo sonst klaffen politische Realität und ihre journalistische Abbildung so weit auseinander. Wohl in keinem anderen Bereich gibt es so fest gefügte, fast schon zu Dogmen gewordene „Narrative“ und „Deutungsmuster“. Fast so gut wie immer werden die politischen Vorgaben und ideologischen Parameter Israels kritiklos übernommen, ohne sie zu hinterfragen: Die einzige Demokratie im Nahen Osten, das Opfer arabischer Gewalt, das sich gegen den palästinensischen Terrorismus wehren muss. Das ist dann auch das vorherrschende Narrativ, in das alles andere eingeordnet wird.
Wann und wo hat es einmal ein objektive und wahrheitsgemäße Berichterstattung deutscher Medien (ob Printmedien, Rundfunk oder Fernsehen) über die Brutalitäten der israelischen Besatzung gegeben, die nächtlichen Razzien mit ihren Demütigungen und Verhaftungen; die Tausende von Gefangenen in israelischen Gefängnissen – darunter Hunderte Kinder; die Zerstörung palästinensischer Dörfer und Häuser sowie die Vertreibung ihre Bewohner; die Schikanen an den Checkpoints; die tägliche Gewalt der Siedler gegen die palästinensische Bevölkerung und den staatlich legitimierten Landraub zum Bau von Siedlungen, der einem ganzen Volk die Existenzgrundlage entzieht. Von dem durch Israels Kriege produzierten Elend der Menschen im völlig abgeriegelten Gazastreifen ganz abgesehen. Wann hat man diese Politik einmal in deutschen Mainstream-Medien mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten konfrontiert? Wann hat man die Dinge einmal beim Namen genannt und Israel als das bezeichnet, was es in Wirklichkeit ist: ein siedlerkolonialistischer Staat? Wann hat man einmal offen ausgesprochen, dass die Unrechtspolitik dieses Staates zu kritisieren nichts mit Antisemitismus zu tun hat?
Wenn ein deutscher Fachmann, der Hydrologe Clemens Messerschmidt, der seit zwanzig Jahren in Israel/Palästina lebt und arbeitet, in einem kurzen Statement in der „Tagesschau“ auf die von der israelischen Besatzungsmacht bewusst herbeigeführte Wassernot der Palästinenser hinweist, dann steht sofort der Antisemitismus-Vorwurf im Raum, die Leitung des Senders entschuldigt sich devot bei der israelischen Lobby für das Missgeschick und verspricht, das Thema noch einmal „ausführlich und objektiv“ zu behandeln. Selbstzensur, mangelnde Zivilcourage, „Lücken“ allergrößten Ausmaßes und „doppelte Standards“ kennzeichnen die Israel-Berichterstattung der deutschen Mainstream-Medien.
Ulrich Teusch hat ein sehr wichtiges Buch geschrieben, vor der konkreten Anwendung seiner Kriterien auch auf Israel ist er aber zurückgeschreckt. Am Schluss seines brillant geschriebenen Textes stellt er einige Regeln auf, die ganz allgemein gelten und die deutsche Israel-Berichterstattung zwar nicht direkt erwähnen, aber sich gut auf sie anwenden lassen: „Guter Journalismus fungiert als gesellschaftliches Frühwarnsystem. Um das zu leisten, darf er keine Tabuthemen akzeptieren, sich keinen Sprachregelungen oder irgendwelchen gerade angesagten Dogmen der politischen Korrektheit unterwerfen. […] Wo immer dominante Narrative auftauchen, haben integere Journalisten die Pflicht, sie auf den Prüfstand zu stellen, die andere Seite zu zeigen, Gegengewichte zu schaffen. Dazu braucht es, zugegeben, ein klein wenig Courage; man macht sich mit so etwas nicht unbedingt beliebter, man eckt an, vermasselt sich vielleicht sogar die Karriere. Aber was wäre die Alternative: einfach mitzumachen?“
Ulrich Teusch: Lückenpresse. Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten, Westend Verlag Frankfurt/ Main 2016, ISBN 978-3-86489-145-8, 18 Euro