„Unkritische Unterstützung Israels behindert den Friedensprozess nur“

Nahostpolitik

Die deutsche Nahost-Politik in der Sackgasse / Einige Anmerkungen zum deutsch-israelischen Regierungstreffen in Jerusalem

Von Arn Strohmeyer, 26.02.2014

Im Juni 1980 –also vor 34 Jahren ! – haben die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft in Venedig eine Nahost-Erklärung beschlossen, die die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes verlangte. Die Gemeinschaft bot sich gleichzeitig als Garantiemacht einer umfassenden Friedenslösung an. Was ist seitdem passiert? Auf Seiten der EU außer neuen Mahnungen, Appellen und Leitlinien so gut wie nichts. Die letzte Leitlinie von Juli letzten Jahres erklärte die israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten wie vorher schon der Internationale Gerichtshof in Den Haag und etliche UNO-Resolutionen für völkerrechtswidrig. Auf Seiten Israels geschah allerdings eine ganze Menge: Der Staat hat neue palästinensische Gebiete in Besitz genommen, neue Dörfer und Städte dort gebaut und hunderttausende Juden dort illegal angesiedelt. Und die brutale Besatzungspolitik der Israelis gegen die Menschen in den besetzten Gebieten geht weiter: tägliche Razzien, Ausgangssperren, Verhaftungen (sogar von Kindern), Zerstörung von Eigentum (Häusern, Feldern, Olivenbäumen und Brunnen), Behinderung der Bewegungsfreiheit und Tötung missliebiger Personen. Mit einem Wort: Siedlerkolonialismus in Reinkultur!

Diese ständigen Menschenrechtsverletzungen waren bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen in Jerusalem natürlich kein Thema. Dafür gab es auf deutscher Seite wieder viel moralisches Pathos in den Reden und Verlautbarungen: die „Verantwortung aus der deutschen Geschichte“ usw. Je öfter man sie wiederholt desto inhaltsleerer werden diese Rituale, was nicht heißen soll, dass es keine Verantwortung aus der deutschen Geschichte gibt. Aber die Begriffe, die in dem Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis dauernd im Munde geführt werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie äußerst unkonkret und vage sind und politisch nicht weiterführen. Was bedeutet eigentlich die „Staatsräson“, für die einzutreten Kanzlerin Angela Merkel 2008 in ihrer Knesset-Rede zur deutschen Pflicht erhoben hat und die sie ständig wiederholt? Heißt das, dass Deutschland in jedem Fall Israels abenteuerliche und friedensfeindliche Kriegspolitik unterstützen und auch für diesen Staat einstehen muss, wenn er durch seine eigenes riskantes Vorgehen in Bedrängnis gerät – wie etwa durch einen (völkerrechtswidrigen) Angriffskrieg gegen den Iran, der ja in Jerusalem immer noch im Gespräch ist? Dann wäre die Staatsräson Merkels nichts weiter als ein Freibrief für Israels aggressive Staatsräson.

Hier sei nur angemerkt, dass der renommierte israelische Militärhistoriker Zeev Maoz in seinem Buch „Defending the Holy Land“ nachgewiesen hat, dass Israel alle bisher von ihm geführten Kriege auch selbst angezettelt hat. Nur beim Krieg von 1948 gegen die Araber meldete er Zweifel an, worauf ihm sofort einige andere israelische Historiker widersprachen: Nein, auch diesen Krieg hat Israel begonnen. Wenn Israel seine Gewaltaktionen als „Selbstverteidigung“ rechtfertigt, dann ist das blanker Zynismus, denn über 20 arabische Friedensangebote seit 1948 blieben unbeachtet und unbeantwortet – das letzte von 2002, das die Anerkennung Israels durch alle arabischen Staaten vorsah, wenn Israel sich bereit erklärte, in den besetzten Gebieten die Gründung eines palästinensischen Staates zuzulassen.

Auch „Existenz“ und „Sicherheit“ sind äußerst schwammige und vage Begriffe. Die Anerkennung der Existenz eines Staates gibt es im Völkerrecht überhaupt nicht. Wenn ein Staat einen anderen anerkennt, dann erkennt er automatisch auch dessen Existenz an. Frühere israelische Regierungen – wie etwa die von Menachem Begin – lehnten es ab, irgendjemanden darum zu ersuchen, Israels Existenz anzuerkennen, weil sie dieses Recht durch den UNO-Teilungsbeschluss von 1947 als gegeben ansahen, als etwas, das völlig außer Zweifel steht. Dieser Meinung war auch Israels früherer Außenminister Aba Eban. Erst die Regierung Netanjahu hat die Anerkennung des Existenzrechtes als Propagandatrick wieder aus dem Zylinder hervorgezaubert, wohl weil sie weiß, dass niemand auf diese Absurdität eingeht, aber Israel durch diese Forderung Zeit gewinnt, neue Siedlungsfakten in den besetzten palästinensischen Gebieten zu schaffen. Außerdem will Israel mit dem Begriff „Existenz“ an seinen Opferstatus gemahnen, aber die vermeintliche Bedrohung nimmt dem Besatzungs- und Atomwaffenstaat kaum noch jemand ab.

Genauso steht es mit dem Begriff „Sicherheit“. Einmal abgesehen davon, dass auch die anderen Staaten und Völker in der nahöstlichen Region ein Recht auf Sicherheit haben und nicht nur Israel – Sicherheit kann überhaupt nur durch das Zusammenwirken mehrerer oder aller Beteiligten zu einem Sicherheitssystem entstehen. Israel schafft durch seine Landraubpolitik aber sein Sicherheits- beziehungsweise Unsicherheitsproblem selbst. Denn je mehr Land es annektiert und seine Grenzen in fremdes, ihm nicht gehörendes Gebiet ausdehnt, desto größer wird sein Sicherheitsanspruch, dieses geraubte Land auch zu behalten. Hat Angela Merkel einmal Benjamin Netanjahu gefragt, warum Israel auch nach 66 Jahren staatlicher Existenz noch keine festen und international anerkannten Grenzen hat?

Was man bei den Regierungskonsultationen in Jerusalem auch vermisst hat, ist ein klares Bekenntnis dazu, dass Deutschland auch eine Verantwortung für die Palästinenser hat, die sich auch aus der deutschen Geschichte ergibt, denn sie sind die „Opfer der Opfer“. Helmut Schmidt hat das übrigens mehrmals in seiner Amtszeit als Kanzler getan. Angela Merkel hätte in Israel einmal unmissverständlich aussprechen müssen: „Die Besatzung ist unmenschlich und völkerrechtswidrig und muss umgehend beendet werden!“ Ansonsten sind ihre permanenten Berufungen auf die „gemeinsamen Werte mit Israel“ völlig unsinnig und wertlos.

In ihrem Beraterkreis ist man da schon viel weiter. So hat der Völkerrechtler Christian Tomuschat, der auch Vorsitzender der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen war und die Bundesregierung mehrmals vor internationalen Gerichten vertreten hat, konstatiert: „Die israelische Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten ist illegal. Israel steht also mit seiner Ansicht, dass seine Siedlungspolitik nicht zu beanstanden ist, völlig allein. Die von Angela Merkel formulierte Staatsräson für die Sicherheit Israels bedeutet auch, eine besondere Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser zu übernehmen, weil beide Gemeinwesen untrennbar miteinander verknüpft sind. Die Sicherheit Israels lässt sich nicht durch Rechtsbrüche zulasten der Palästinenser gewährleisten.“

In den Vorausberichten zu dem Treffen in Jerusalem hieß es: Berlin halte die Regierung Netanjahu für unfähig und unwillig. Der Konflikt zwischen beiden Regierungen gehe inzwischen so weit, dass das durch den Holocaust begründete Sonderverhältnis in Frage gestellt sei. Im Pathos der Reden in Jerusalem hat man davon nichts gemerkt. Es ist die alte Doppelmoral, die die Beziehungen seit langem kennzeichnet: Kritik wird nur im stillen Kämmerlein geübt, aber nicht im politischen Alltag. Geschweige denn, dass etwa zusammen mit der EU politischer Druck auf Israel ausgeübt wird – das einzige Mittel, das die Regierung in Jerusalem wirklich verstehen würde. Aber es läuft andersherum: Wenn Israel U-Boote mit atomaren Trägerwaffen wünscht, die Deutschen liefern und bezahlen auch den größten Anteil. Ein Kommentator hat das „Beihilfe zum Massenmord“ genannt. Folgt eine solche Politik wirklich aus der deutschen Geschichte? Wenn die „besonderen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Israel lediglich dafür herhalten müssen, eine zutiefst unmoralische und völkerrechtswidrige Politik aufrechtzuerhalten, dann ist es höchste Zeit, sie zu überdenken und nach Alternativen zu suchen.

Einer, der auch die deutsche Politik immer wieder genau dazu mahnt, ist der amerikanisch-jüdische Wissenschaftler und Publizist Henry Siegman, der früher Direktor des American Jewish Congress war und heute Leiter des US/Middle EAST Project ist. Er schreibt: „Der eigentliche Skandal ist, dass die Völkergemeinschaft zwar genau weiß, wo die Probleme liegen, aber nicht genug Mut aufbringt, sie zu benennen, geschweige denn sie zu lösen.“ Und besonders an die Europäer und speziell an die Deutschen sendet er den Appell: „Wenn westliche Länder vor dem Hintergrund ihrer Schuld am Holocaust glauben, ihre Hinnahme eines solchen Ergebnisses sei ein Akt der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, so kann es keinen größeren Irrtum geben. Die Palästinenser aufzugeben, kann keine Sühne dafür sein, die Juden Europas aufgegeben zu haben. Und es würde auch nicht der Sicherheit Israels dienen. Die Erwartung, unkritische Unterstützung werde zu einer größeren Bereitschaft Israels führen, für den Frieden Risiken auf sich zu nehmen, steht im Widerspruch zur Geschichte dieses Konflikts. Je kleiner der Widerspruch ist, den Israel von seinen Freunden im Westen erhält desto kompromissloser wird sein Verhalten gegenüber den Palästinensern.“

Ein bisschen von diesen Worten sollte sich die Regierung der Großen Koalition in ihrer Nahost-Politik zu Herzen nehmen. Aber die Chancen dafür sind nicht groß, was auch mit der Person der deutschen Kanzlerin zu tun hat, die sich ja stets als große Israel-Freundin outet. Als der israelische Historiker Tom Segev nach Merkels Staatsräson-Rede in der Knesset 2008 gefragt wurde, was er davon halte, sagte er in einem Interview: „ Das kam mir so vor wie aus den 50er Jahren. Für Frau Merkel ist das Thema relativ neu, weil sie aus der DDR kommt, wo man Israel überhaupt nicht behandelt hat. Ihre Rede ging völlig an der Realität vorbei. Sie hat die Regierung Israels total kritiklos gewürdigt. Dabei bedient sie alle diese [zionistischen] mythologischen Klischees. Das hört sich dann an, als wäre es von der Internetseite des Auswärtigen Amtes abgelesen.“

Diese Sätze Tom Segevs aus dem Jahr 2008 gelten auch nach dem Treffen in Jerusalem in Jahr 2014 uneingeschränkt.

25.02.2014