Was gilt für einen Wissenschaftler: die Wahrheit oder die Solidarität mit Israel?

Nahostpolitik

Michael Wolffsohn hat sich als Historiker mit einem Kommentar in BILD vollständig disqualifiziert

Von Arn Strohmeyer, 17.08.2017

Michael Wolffsohn ist ein deutsch-jüdischer Historiker und Hochschullehrer, also Wissenschaftler. Wissenschaftler sind von ihrem Berufsethos her zur Suche nach der Wahrheit verpflichtet. Das ist das oberste Gebot für diesen Berufsstand seit den Zeiten der Aufklärung. Natürlich ist das ein hoher Anspruch, und es ist kein Geheimnis, dass Wissenschaft nicht selten zur Dienerin bestimmter Ideologien und Interessen wird. Michael Wolffsohn ist ein Musterbeispiel für einen Wissenschaftler, der das Gebot der Wahrheitssuche offenbar völlig aufgegeben hat und nur noch Interessen dient. Bisweilen tritt er in die Niederungen der öffentlichen Diskussion über den Nahost-Konflikt, und da ist ihm selbst BILD als Medium nicht zu schmutzig.

In diesem Blatt hat er jetzt einen Kommentar geschrieben, der – beurteilt man ihn von der Warte der Wahrheit oder Wissenschaft aus – schlicht ein Offenbarungseid ist. Er behauptet unter der Überschrift „Intifada und Nahostkriege in Deutschland und Europa“, dass der palästinensische Terrorismus (er nennt das „Messer- und Auto-Intifada“) längst Westeuropa erreicht hätte: „Besonders die Methoden der Palästinenser sind zu weltweit angewandten Terror-‚Modellen‘ geworden.“ Da wirft er alle Terrorakte – seien sie nun in Paris, Nizza, Berlin oder Hamburg und von wem auch immer begangen – in einen Topf und macht die Palästinenser dafür verantwortlich. Er schreibt: „Die Messerattacke des Palästinensers in Hamburg und alle Terrorakte des sogenannten ‚Islamischen Staates‘ oder von al-Qaida beweisen zunächst einmal eine Tatsache, die in Deutschland und woanders gern übersehen wird: Ganz offensichtlich haben diese Terrororgien mit Israel eigentlich weniger als nichts zu tun.“

Also: Palästinenser, „Islamischer Staat“ und al-Qaida, das ist für Wolffsohn alles eins, wobei die Palästinenser das „Terror-Modell“ erfunden haben, aber mit Israel hat das alles wiederum gar nichts zu tun. Dann fragt er, was hat den Palästinensern ihr jahrzehntelanger Terror gegen Israel gebracht?

Nichts politisch Positives, dafür jedoch sechshunderttausend und bald eine Million jüdischer Siedler im westjordanischen Palästina.“ Hier versteigt er sich zu der Behauptung, dass nicht die Ziele und die Politik des Zionismus die Ursache für den israelischen Raub an palästinensischem Land sind, sondern der palästinensische Terrorismus. Dann würde ja auch das Gegenteil gelten: Wenn sich die Palästinenser brav und demütig in ihr Schicksal ergeben und sich nicht – auch mit Gewalt – gegen die jüdische Unterdrückung wehren würden, gäbe es keine jüdische Besiedlung des Westjordanlandes.

Glaubt Michael Wolffsohn das wirklich?

Das ist eine solche Verzerrung der Realität des Nahost-Konflikts, wie sie schlimmer nicht denkbar ist.

Kein Wort schreibt er über Israels Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern: Besatzung, Unterdrückung, Demütigungen, Entmenschlichung und Dämonisierung dieses Volkes, das Israel 1948 aus seiner Heimat vertrieben und dabei seine Kultur zerstört hat und dessen Land es täglich weiter raubt. Und die Vertreibung geht auch weiter. Nur eine Zahl, die die wirkliche Situation anschaulich macht: 4,5 Millionen Palästinenser leben im israelischen Herrschaftsbereich (Westjordanland und Gazastreifen) – durch Mauern und Zäune eingesperrt – ohne alle bürgerlichen und politischen Rechte. Die Anwendung von Menschenrechten und des Völkerrechts für dieses Volk ist inzwischen in Israel zu einem verächtlichen Fremdwort geworden. Wer sich auf das internationale Recht beruft, wird als „Verräter“ betrachtet – so die israelische Soziologin Eva Illouz.

Dass der Wissenschaftler Michals Wolffsohn mit keinem Wort auf die reale Lage in Israel/Palästina eingeht und auch nicht nach den Ursachen des palästinensischen Terrorismus fragt, disqualifiziert ihn für seinen Berufsstand vollständig.

Denn auch Terrorismus (es gab und gibt auch jüdischen Terrorismus) hat Ursachen und die hat ein Wissenschaftler aufzuzeigen und einem Millionen-Publikum in einem Boulevard-Blatt nicht demagogische Propaganda vorzusetzen. Aber man kann Michael Wolffsohns Motive sogar verstehen, wenn natürlich auch nicht rechtfertigen oder entschuldigen.

Die oben schon genannte israelische Soziologin Eva Illouz hat darauf hingewiesen, in welchem Konflikt sich jüdische Intellektuelle grundsätzlich befinden. Für sie gilt der Imperativ der Hypersolidarität mit dem Judentum bzw. mit Israel. Der jüdische Gelehrte Gerschom Scholem hat dieses Gebot die „Liebe zur jüdischen Nation und zum jüdischen Volk“ genannt oder auch hebräisch „Ahabath Israel“. Den Mangel an Ahabath warf Scholem in einer berühmt gewordenen Kontroverse Hannah Arendt wegen ihrer Berichterstattung über den Eichmann-Prozess vor, sie berief sich dagegen auf die Unabhängigkeit des Denkens.

Die jüdische geistige Tradition war seit der Aufklärung vorrangig universalistisch gewesen. Der Holocaust und die Gründung des Staates Israel haben diese Tradition unterbrochen oder sogar beendet, weil nun die partikularen Interessen Israels im Vordergrund standen. Was aber die Möglichkeit, Israel oder die jüdische Gemeinschaft zu kritisieren, für jüdische Intellektuelle sehr eingeschränkt hat. Eva Illouz schreibt: „Eine Kritik am jüdischen Volk ist nur dann zulässig, wenn sie in einen Code der Liebe und Solidarität eingebettet ist.“ Was ja heißt: Wer unter den Bedingungen der Hypersolidarität dennoch kritisiert, verliert die Solidarität der jüdischen Gemeinschaft. Oder er setzt sich sogar dem Vorwurf des Antisemitismus oder Antizionismus („selbsthassende Jude“) aus.

Eva Illouz fasst den Konflikt der jüdischen Intellektuellen so zusammen: „Der jüdische Intellektuelle befindet sich in einem noch vetrackteren Dilemma als der nichtjüdische, weil er zwischen zwei gleich mächtigen und explizit moralischen Geboten hin- und hergerissen ist, dem der Wahrheit und dem der Solidarität. Wer die Wahrheitsposition bezieht und die Wahrheit auch ausspricht, unterminiert damit die Solidarität der Gruppe, wie sie sich nicht nur in der Bejahung der Liebe zur Gruppe ausdrückt, sondern auch in der Anteilnahme an ihren kollektiven Mythen und Geschichten.“

Michael Wolffsohn hat sich für die Hypersolidarität, also die Liebe zu Israel entschieden – aber gegen das Ethos seiner Wissenschaft, in erster Linie immer der Wahrheit verpflichtet zu sein.

(Die Zitate stammen aus dem Buch von Eva Illouz: Israel, Frankfurt/ Main 2015)