Von Arn Strohmeyer, 16.10.2018
Der israelische Historiker Ilan Pappe schreibt über die offizielle Geschichtsschreibung des Staates Israel, die die Zeit um 1948 behandelt, sie sei geprägt von „einer tief sitzenden Angst vor einer Debatte über die Ereignisse von 1948, da Israels ‚Behandlung‘ der Palästinenser in jener Zeit zwangsläufig beunruhigende Fragen nach der moralischen Legitimität des gesamten zionistischen Projekts aufwerfen würde. Für Israelis ist es daher von entscheidender Bedeutung, einen starken Verleumdungsmechanismus aufrechtzuerhalten, der ihnen nicht nur hilft, die von den Palästinensern in den Friedensverhandlungen gestellten Forderungen abzuwehren, sondern auch – und vor allem – jede eingehende Debatte über den Charakter und die moralischen Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.
Die Palästinenser als Opfer israelischer Taten anzuerkennen ist für Israelis in mindestens zweierlei Hinsicht zutiefst beunruhigend. Da eine solche Anerkennung bedeutet, sich dem historischen Unrecht zu stellen, das Israel mit der ethnischen Säuberung Palästinas 1948 begangen hat, stellt sie die Gründungsmythen des Staates Israel in Frage und wirft eine Fülle ethischer Fragen auf, die unausweichliche Folgen für die Zukunft des Staates haben.
Die Palästinenser als Opfer anzuerkennen, ist mit tief verwurzelten Ängsten verknüpft, da es von den Israelis verlangt, ihre Wahrnehmung der ‚Vorgänge‘ von 1948 in Frage zu stellen. Aus Sicht der meisten Israelis – und nach der Darstellung, die die israelische Mainstream- und Populärgeschichtsschreibung immer wieder verbreitet – konnte Israel sich 1948 als unabhängiger Nationalstaat auf einem Teil des Mandatsgebietes Palästina etablieren, weil es den frühen Zionisten gelungen war, ‚ein leeres Land zu besiedeln‘ und ‚die Wüste erblühen zu lassen‘.(…)
Was die Palästinenser verlangen und was für viele von ihnen eine conditio sine qua non wurde, ist, dass man sie als Opfer eines fortdauernden Unrechts anerkennt, das Israel bewusst an ihnen begangen hat. Das zu akzeptieren würde natürlich für israelische Juden ihren eigenen Opferstatus beschädigen. Es hätte politische Auswirkungen auf internationaler Ebene, würde aber auch – was vielleicht weitaus entscheidender wäre – moralische und existenzielle Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden zeitigen: Sie müssten sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild ihres schlimmsten Alptraums geworden sind.“
Das ist eine äußerst scharfe Kritik an der zionistischen Geschichtsschreibung. Aber sie bringt das Problem auf den Kern: Weil das Unrecht, das die Zionisten den Palästinensern zugefügt haben, so ungeheuer groß ist, müssen sie ihre eigene Geschichte verdrängen und sich in politisch bewusst geschaffene Mythen flüchten. Die Wahrheit würde das ganze zionistische Projekt in Frage stellen, wie Ilan Pappe schreibt. Mythen haben zwar mit der historischen Wahrheit nur sehr entfernt etwas zu tun (bisweilen haben sie einen historischen Kern), aber sie erfüllen wichtige Funktionen: Sie schaffen ein Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühl, was ein junger Staat wie Israel, dessen Bewohner aus der ganzen Welt zugewandert waren, dringend braucht. Der Zionismus musste zudem Mythen schaffen, weil sich historisch, anthropologisch und juristisch keine sicheren und überzeugenden Gründe für den Anspruch auf das Land Palästina finden ließen, denn Mythen haben in diesem Fall Rechtfertigungscharakter.
Der zionistische Staat Israel lebt von solchen künstlich erzeugten Mythen. So ging der Zionistenführer und erste Ministerpräsident Israels David Ben Gurion sogar so weit zu behaupten, dass ein starker Glaube an den Mythos ihn in Wahrheit verwandele. Sein enger Berater Jitzhar verstieg sich sogar zu der Behauptung: „Ein Mythos ist nicht weniger wahr als Geschichte, er ist jedoch eine zusätzliche Wahrheit, eine andere Wahrheit, eine Wahrheit, die neben der Wahrheit besteht: eine nicht objektive menschliche Wahrheit, und doch eine Wahrheit, die zur historischen Wahrheit wird.“ Diese Sätze sind insofern „wahr“, als Menschen durchaus bei der gewaltsamen Durchsetzung von Zielen von Mythen motiviert sein können und sich dabei auf Mythen stützen – und eben dadurch historische Tatsachen schaffen.
Die israelische Geschichtsschreibung ist heute noch weitgehend von Mythen und Legenden bestimmt, das heißt, sie passt sich den ideologischen Vorgaben der zionistischen Ideologie an – etwa, dass die Juden ein „historisches Recht“ auf Palästina haben, weil es in einer fernen Vergangenheit ihre „eigentliche Heimat“ war; dass das Land „öde“ und „leer“ war, als die zionistischen Siedler dort ankamen und sie erst „die Wüste um Blühen“ gebracht haben; dass die palästinensischen Araber 1948 „freiwillig“ das Land verlassen haben, weil ihre Führer sie dazu aufgefordert haben; dass die jüdischen Einwanderer gewillt waren, friedlich mit den einheimischen Palästinensern zusammenzuleben, sich aber gegen deren ständige Gewaltausübung wehren mussten; dass Frieden möglich ist, wenn die Palästinenser denn wie Israel dazu bereit wären
Das sind alles zionistische Mythen, die gerade von israelischen Historikern längst widerlegt sind. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstand eine neue Bewegung in der israelischen Geschichtswissenschaft, die sogenannten „neuen Historiker“, die kritisch und aufklärend gegen die Stereotypen und Klischees der zionistischen Geschichtsschreibung vorgegangen sind, was nicht zuletzt dadurch möglich wurde, dass die israelische Regierung wenigstens zum Teil Dokumente in den Archiven freigegeben hat. Aber auch die mündliche Befragung der letzten Überlebenden der Ereignisse hat hier eine bedeutende Rolle gespielt. Die wichtigsten Vertreter der neuen Historiker-Generation sind Simcha Flapan, Benny Morris, Ilan Pappe, Avi Shlaim und Tom, Segev, aber auch Shlomo Sand, Dan Diner und Moshe Zuckermann müssen dazu gerechnet werden. Sie alle haben wichtige Beiträge dazu geleistet, die zionistischen Mythen zu entmythologisieren.
Man kann hinter die Ergebnisse der Arbeiten dieser Historiker nicht mehr zurückgehen. Wenn Zweifel an den Resultaten ihrer Forschungen bestehen, muss man sie widerlegen. Von einem solchen rationalen Diskurs lebt die Wissenschaft und nur so macht man Fortschritte. Die Ausstellung „1948. Die Ausstellung zur Staatsgründung Israels“, die von einer Israel nahestehenden Organisation „DEIN e.V. Verein für Demokratie und Information“ (München) zusammengestellt wurde und in verschiedenen deutschen Städten gezeigt wird, genügt einem solchen Anspruch in keiner Weise. Sie nimmt die Arbeiten der neueren israelischen Geschichtswissenschaft überhaupt nicht zur Kenntnis, tut so, als gebe es sie gar nicht – und fällt so in eine von zionistischen Mythen bestimmte Geschichtsauffassung zurück.
Zwar werden im Begleitkatalog der Ausstellung hohe Ansprüche vorgebracht: Da ist im Vorwort davon die Rede, dass man in dem Gezeigten die Vergangenheit „korrekt“ beschreiben und sie nicht „verzerren“ wolle. Man versichert: „Was die 32 Tafeln der Ausstellung zeigen, überwindet weit verbreitetes Halbwissen, Vermutungen und Desinformationen im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels.“ Und: „Die Ausstellung ist ein historisches Korrektiv. Ihre Bedeutung geht aber weit über das Jahr hinaus. Sie bildet das Modell für eine erstrangige demokratische Verpflichtung: Bei Propaganda, Hassinformationen und Verzerrungen nicht zu schweigen.“
Das klingt gut, ist aber selbst reine Propaganda (hebräisch: Hasbara, die in der israelischen Politik eine große Rolle spielt), denn die Ausstellung wird den von ihr selbst gesetzten Kriterien in keiner Weise gerecht. Ganz im Gegenteil: Man wundert sich, mit welchen Geschichtsfälschungen die Organisatoren der Ausstellung an die Öffentlichkeit gehen. Offenbar ist es ihre Absicht, ein völlig uninformiertes und ahnungsloses Publikum anzusprechen, das solche Mythen und Legenden akzeptiert, ohne zu widersprechen.
Die Methode des Vorgehens ist kurz gesagt: weglassen, vertuschen, manipulieren. Es ist verblüffend, welche für den Palästina-Konflikt wichtigen Fakten im Katalog der Ausstellung, der immerhin 70 Din A4-Seiten umfasst, gar nicht vorkommen. Bei Zitaten werden grundsätzlich keine Quellen genannt, und die behaupteten Fakten – etwa Gewalt von Seiten der Palästinenser (israelische Gewalt gibt es nur als Verteidigung) – werden so gut wie nie in einen politischen oder historischen Kontext gestellt. Die Grundaussage ist: Die eingewanderten Juden sind friedfertig und versöhnlich, die Palästinenser gewalttätig und brutal.
Selbst die Ziele der eigenen Ideologie, des Zionismus, werden nicht genannt, obwohl es an historischen Dokumenten und Literatur über diese Bewegung nun wirklich nicht mangelt. Zahlen, etwa die Zahl der jüdischen Einwohner in Palästina in der Vergangenheit, sind ungenau oder stimmen nicht – natürlich aus gutem Grund und klarer Absicht: Man will belegen, dass der jüdische Anteil der Bevölkerung immer so groß war, dass er einen berechtigten Anspruch auf das Land hat.
Die Ausstellung ist wegen der israelischen Staatsgründung 1948 natürlich im Jahr 2018 – das Jubiläum 70 Jahre Israel – zeitlich genau platziert, sie soll mit Sicherheit aber auch ein Gegenstück zur Nakba-Ausstellung sein, die die ethnische Säuberung Palästinas durch die Zionisten im selben Jahr darstellte. Im Gegensatz zur jetzigen Ausstellung war ihre Vorgängerin wissenschaftlich exakt aufbereitet. Mir ist bei allen Vorwürfen der „Einseitigkeit“ gegen sie keine wissenschaftlich ernstzunehmende Widerlegung der Darstellung der Ereignisse des Jahres 1948 bekannt. Was auch damit zusammenhängt, dass sie sich auf die Arbeiten der oben genannten „neuen“ israelischen Historiker stützte, was den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus besonders absurd machte.
Eine wirklich seriöse Widerlegung ihres Inhalts hat es nicht gegeben. Was man dagegen hielt, waren die altbekannten Mythen und Legenden, mit denen die Zionisten seit Jahrzehnten hantieren und die auch die jetzige „1948. Ausstellung“ prägen – Hasbara eben. Warum die Zionisten von diesen Mythen nicht herunterkommen, gibt das oben angeführte Zitat von Ilan Pappe in vorzüglicher Weise wider. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Mehrheit der Deutschen neigt aber offenbar dazu, diesen zionistischen Mythen Glauben zu schenken, wohl aus dem Schuldgefühl heraus, das die furchtbare deutsche Vergangenheit der Hitlerzeit bei ihnen hinterlassen hat und das immer noch nicht rational aufgearbeitet ist. Und natürlich ist die Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf groß. In diesen Kontext gehört auch „1948. Die Ausstellung“.
Was diese Ausstellung sogar bedenklich, ja gefährlich macht, hat Ilan Pappe in Bezug auf die zionistische Geschichtsschreibung treffend so beschrieben: „Jeder Versuch zur Lösung eines Konflikts muss sich zuallererst mit dessen Kern auseinandersetzen und dieser Kern findet sich meistens in seiner Geschichte. Eine verfälschte oder manipulative Geschichte erklärt oft gut, warum ein Konflikt nicht beendet wurde, während eine wahrhaftige, umfassende Betrachtung der Vergangenheit zu einem dauerhaften Frieden und einer bleibenden Lösung beitragen kann. Wie die Untersuchung des Falls Israel/Palästina zeigt, kann eine falsch verstandene Geschichte der jüngeren oder ferneren Vergangenheit sogar noch direkteren Schaden anrichten: Sie kann die Unterdrückung, Kolonisierung und Besatzung von heute rechtfertigen. Es überrascht nicht, dass in solchen Fällen auch die Gegenwart verfälscht wird, ist sie doch Teil der Geschichte, deren Vergangenheit bereits entstellt wurde. Diese Täuschungen über Vergangenheit und Gegenwart verhindern das Verständnis des fraglichen Konflikts, erlauben eine Manipulation der Fakten und richten sich gegen die Interessen all jener, die Opfer des Konflikts sind.“
Arn Strohmeyer: Ein klassischer Fall von Geschichtsfälschung. „1948. Die Ausstellung zur Staatsgründung Israels“ ist eine Flucht in Mythen, Gabriele Schäfer – Verlag Herne, ISBN 978-3-944487-60-1, 14,80 Euro