Wenn Wissenschaftler als „Verräter“, „Antisemiten“, „Holocaustleugner“ und „Nazi-Kollaborateure“ verunglimpft werden

Nahostpolitik

Ilan Pappe schildert in seinem neuen Buch „Die Idee Israel“ Aufstieg und Untergang der postzionistischen Bewegung, die die Mythen des jüdischen Staates radikal in Frage stellte / Weiterleben im Exil

Von Arn Strohmeyer, 28.09.2015

Das Aussprechen der Wahrheit ist sehr oft eine Provokation, wenn nicht riskant und sogar gefährlich. Diese Erfahrung mussten auch die sogenannten Postzionisten in Israel machen – eine Bewegung von Historikern, Soziologen, Geografen, Philosophen und Publizisten, die Zweifel am Zionismus anmeldeten und es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Kernaussagen dieser Ideologie zu hinterfragen, also letzten Endes die Idee, auf der der Staat Israel basiert. Den Aufstieg und den Untergang dieser wissenschaftlichen Bewegung beschreibt Ilan Pappe in seinem neues Buch „Die Idee Israel. Mythen des Zionismus“. Wobei anzumerken ist, dass es für dieses Thema keinen berufeneren Autor geben kann, denn er hat mit seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas 1948“ eins der Standardwerke des postzionistischen Aufbruchs geschrieben und musste nach dem Ende der Bewegung ins Exil in England gehen, weil für ihn in Israel die berufliche und persönliche Situation unerträglich geworden war.

Die wissenschaftliche Methode des postzionistischen Vorgehens beschreibt Pappe so: „Jedes Medium, durch welches das zionistische Geschichtsbild und das Wesen Israels als Idee verbreitet worden war, wurde untersucht und dekonstruiert und als Text entlarvt, der die anderen, wer immer sie auch sein mochten, ignorierte, verzerrt darstellte und unterdrückte. Ebenso wie ihre Kollegen im Westen, die auf ähnlich kritische Weise ihr eigenes nationales Ethos hinterfragten, versuchten die Postzionisten, die verborgenen oder unterdrückten Stimmen in der israelischen Gesellschaft vor dem Vergessen zu bewahren. Kritische Theorien zum Nationalismus, relativistische Geschichtsphilosophien, postmoderne hermeneutische Techniken und dekonstruktive Methodologien, sie alle kamen zur Anwendung, um zu verstehen, wie die zionistische Interpretation der Realität das Leben aller beeinflusste, die in Israel oder Palästina lebten oder früher dort gelebt hatten.“

Ein sehr anspruchsvolles Unternehmen also. Dass dabei das Jahr 1948 – das Jahr der Nakba, der Gründung des Staates Israel und des Krieges – ganz besonders in den Focus geriet, kann nicht verwundern, denn dieser Zeitabschnitt ist das Fundament der Idee Israels. In diesem Jahr vollendete sich nach zionistischer Darstellung das heroische „Wunder“ des modernen Israel – seine „Wiedergeburt“ und „Erlösung“ in seinem „Heimatland“ nach 2000 Jahren der Gefahr und Verfolgung. Zur Idee des zionistischen Israel, zu seinem Gründungsmythos, gehörte vor allem auch die Darstellung seiner linientreuen Historiker, dass die Palästinenser 1947/48 „freiwillig“ das Land verlassen hätten. Das Leid, das man diesem Volk mit der Vertreibung (der Nakba) angetan hat, wurde vollständig geleugnet. Dem Widerspruch, was denn an dem Jahr 1948 so „heroisch“ gewesen sein soll, wenn die Palästinenser kampflos geflohen waren, konnte sich die zionistische Geschichtsdarstellung nur dadurch entziehen, indem sie die palästinensische Seite gar nicht erwähnte, die Fakten also einfach leugnete. Der Zionismus erhob sich zudem selbst in den Status einer Befreiungsbewegung der Dritten Welt, um so den Eindruck zu vermeiden, man habe einen Krieg gegen die Palästinenser geführt.

Die Geschichte des Jahres 1948 ist auch noch aus einem anderen Grund wichtig. Durch den Zusammenhang mit Krieg und Frieden sowie den Beziehungen zu den Palästinensern stellte sie die Weichen auch zur israelischen Politik von heute. Nicht wenige israelische Politiker und Militärs haben immer wieder betont, dass 1948 noch nicht vollendet sei – was ja bedeutet, dass man die Palästinenser vollständig hätte vertreiben müssen und dass dieser „Transfer“ noch eine Aufgabe für die Zukunft sei. Die postzionistischen Historiker, die sich „Neue Historiker“ nannten, legitimierten in gewisser Hinsicht das Geschichtsbild der Palästinenser und deckten durch ihre Forschungsarbeiten die falschen Annahmen und historischen Fälschungen der zionistischen Geschichtsdarstellung auf, damit untergruben sie aber die Idee und den Gründungsmythos dieses Staates.

Möglich geworden war das „kurze glückliche Jahrzehnt“ (Pappe) des Postzionismus in Israel, weil auch in der Gesellschaft Zweifel an der zionistischen Identität des Landes aufgetaucht waren. Der Autor schreibt: „Die politischen Forderungen der ärmeren Bevölkerungsgruppen, die Besatzung der Westbank und im Gazastreifen und die eingefrorenen Friedensabkommen, das alles trug dazu bei, den Zionismus entweder zum Anachronismus oder zum Konzept einer aggressiven Politik wie der der Siedler zu machen. Dieser Prozess begann 1977, als die Hegemonie der Aschkenasi-Elite in Frage gestellt wurde. Er setzte sich mit dem Libanonkrieg von 1982 und der ersten Intifada fort und erreichte seinen Höhepunkt mit der Ermordung Yitzhak Rabins und den Wahlen von 1996, durch die eine aggressivere Form des Zionismus – die Version des Likud – an die Macht kam.“

Die Oslo-Verträge mit den Palästinensern hatten eine politische Atmosphäre geschaffen, in der plötzlich Frieden mit dem bisherigen Feind und damit auch Kritik und Pluralismus in der israelischen Politik und der Wissenschaft möglich wurden. Es taten sich Wege auf, die es erlaubten, die Realität nicht mehr nur zionistisch interpretieren zu müssen. Die israelische Gesellschaft befand sich infolgedessen in dieser Zeit in einer schweren Identitätskrise, denn Frieden mit dem früheren Todfeind zu schließen, hätte auch bedeutet, dass man den natürlichen zionistischen Konsens hätte untergraben müssen, der auf der Abwehr der Bedrohung durch eben diesen Feind beruhte. Da verwundert es nicht, dass sich Widerstand regte.

Als dann die zweite Intifada ausbrach, deren Initiierung man dem palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat anlastete, und der Gipfel im Jahr 2000 in Camp David scheiterte, auf dem der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak die „endgültige Lösung der Palästina-Frage“ erreichen wollte, gab das offizielle Israel den Palästinensern die Schuld für das Misslingen des Annäherungsprozesses. Die politische Elite und die israelische Gesellschaft gaben an, alles Menschenmögliche für einen Friedensschluss getan zu haben, man sei bei den Palästinensern aber nur auf Extremismus und Unnachgiebigkeit gestoßen, weshalb sich die Regierung nun gezwungen gesehen habe, Krieg statt Frieden zu machen. Dass gerade die Vorschläge Israels in Camp David für die Palästinenser unannehmbar waren, wurde natürlich verschwiegen. Konkrete Einzelheiten dazu wurden nie offiziell veröffentlicht.

Die politischen Ereignisse hatten eine vernichtende Wirkung auf die postzionistische Kritik und sie läuteten das Ende des postzionistischen Jahrzehnts ein. Pappe nennt es nachträglich den „glücklichen Moment in der Geschichte des Staates Israel“. Die Stimmung schlug vollständig um. Nach dem Oktober 2000 kehrte der öffentliche Diskurs innerhalb weniger Wochen zum allgemeinen Konsens zurück. Viele Wissenschaftler, die der postzionistischen Bewegung angehört hatten, legten opportunistisch Reuebekenntnisse ab und versicherten ihre Treue zum Zionismus und zur Gegnerschaft zu den Palästinensern. Gegen die Anhänger des Postzionismus, die nicht reumütig abschwörten, wurde eine Hetzkampagne geführt: sie wurden als „Verräter“, „Antisemiten“, „Holocaustleugner“ und sogar als „Nazi-Kollaborateure“ diffamiert. Pappe schreibt über das Ende der Bewegung: „Seit 2000 war keine Spur der vorher so beeindruckenden Präsenz postzionistischer Sichtweisen mehr zu finden. An ihre Stelle war die neue konsensuelle Interpretation des Zionismus getreten. Dieser neue Konsens stand in Konkurrenz zu einer noch unversöhnlicheren und noch weniger kompromissbereiten Version des Zionismus, die ich als Neozionismus bezeichnen möchte.“

Diese Richtung definiert Pappe so: „Die Taktik der Neozionisten bestand darin, vorzugeben, sie hätten den Schlüssel zur Vereinigung der desintegrierten und polarisierten israelischen Gesellschaft. Dieser Schlüssel sollte die kristallklare Version des Judaismus als nationale Bewegung sein, wie sie die Intellektuellen des Labourzionismus niemals hatten formulieren können. Die Neozionisten stellten sich als einigende Kraft dar, die das breite Spektrum einander widersprechender Interpretationen des Judaismus sowohl als Religion als auch als nationale Bewegung vereinigen könne.“

Die Folgen des Endes des Postzionismus und der Rückkehr zum Konsens waren auch politisch unmittelbar sichtbar. Der Pluralismus der politischen Ansichten verschwand aus dem Diskurs der Gesellschaft, was bedeutete: Die Unterschiede zwischen den Parteien verwischten sich fast vollständig. Von Frieden war nirgendwo mehr die Rede. Die Zukunft des Staates wurde so definiert: Israel annektiert 40 Prozent des Westjordanlandes, die Palästinenser dürfen in 60 Prozent dieses Gebietes und im Gazastreifen eine autonome Zone bilden, also ein Art Bantustan. „Frieden“ in diesem israelischen Sinne bedeutet also völlige Unterordnung der Palästinenser unter den politischen Willen Israels. Sie bleiben in ihren Großgefängnissen hinter der Mauer eingesperrt. Verhandlungen über einen Kompromiss gibt es nicht, Israel entscheidet allein.

Eine Veränderung hatte die postzionistische Geschichtsschreibung aber doch bewirkt: Es werden gerade in Bezug auf das Jahr 1948 nicht mehr alle Fakten geleugnet. Selbst systematische Vertreibungen werden zugegeben, gleichzeitig aber politisch und moralisch gerechtfertigt. So heißt es jetzt, dass ohne die Beseitigung der Palästinenser kein jüdischer Staat hätte entstehen können. Für den Historiker Benny Morris, der einer der Initiatoren der postzionistischen Bewegung gewesen war, dann aber abgeschworen hatte und ins zionistische Lager zurückgekehrt war, war die ethnische Säuberung 1948 ein „Akt der Selbstverteidigung“, eine Wahl zwischen „vernichten und vernichtet werden“. Der Krieg von 1948 sei einer jener „Umstände in der Geschichte“ gewesen, die eine „ethnische Säuberung rechtfertigen“. Entsprechend dem wachsenden Einfluss der Religion auf die israelische Gesellschaft argumentiert etwa der neozionistische Historiker Alon Kadish theologisch und bezeichnet das Ergebnis des Krieges von 1948 als „Sieg der Gerechten über die Ungerechten“, durch den ein zweiter Holocaust verhindert worden sei. Die neue neozionistische Richtung der Historiker sieht die Inbesitznahme ganz Palästinas – angetrieben von dem Wunsch nach messianischer Erfüllung und aus Furcht vor einer existentiellen Bedrohung – als legitim an. Den Palästinensern wird selbst die Schuld an ihrem Schicksal gegeben.

Pappe resümiert: „Die postzionistische Kritik am Verhalten Israels in Vergangenheit und Gegenwart, die teilweise so weit ging, dass sie die Legitimität und moralische Legalität der zionistischen Ideologie in Frage stellte, wurde durch einen neozionistischen Standpunkt ersetzt, der sich nun strikt an die Grundsätze der klassischen zionistischen Ideologie hält.“Politisch, so fürchtet er, wird es in Zukunft auf die Entstehung eines Apartheidregimes hinauslaufen, das er in großen Teilen schon realisiert sieht.

Der Postzionismus ist dennoch nicht tot. Abgesehen davon, dass er sich eines Tages auch in Israel in welcher Form auch immer wieder zu Wort melden wird, denn Wahrheit hat immer das Bestreben, ans Licht zu kommen, wirkt er nun außerhalb Israels weiter. Tom Segev, der auch zu den „neuen Historikern gehörte, hat die optimistische Hoffnung geäußert, dass der Postzionismus „im Exil“ noch seine volle Wirkung entfalten werde. Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Jeder Historiker, Publizist und Aktivist, der sich kritisch mit der israelischen Geschichte und Politik auseinandersetzt, profitiert direkt von den Forschungsergebnissen der Postzionisten, ja ihre Arbeiten sind für sie unumgänglich und eine Leitschnur. Ilan Pappes hier besprochenes Buch und alle seine anderen Werke sind das beste Beispiel für die große Nachwirkung der Postzionisten „im Exil“. Sein Buch über diese bedeutende Bewegung und seine Kritik an der „Idee Israel“ sollte eine Pflichtlektüre für alle Nahost-Interessierten sein.

Pappe, Ilan: Die Idee Israel. Mythen des Zionismus, Laika Verlag Hamburg, 21 Euro