Beitrag von
Luz María De Stefano Zuloaga de Lenkait, Juristin und Diplomatin a.D., 24.08.2015
Wir stehen vor der größten Menschen-Flucht seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar sieht Heribert Prantl die enorme Dimension und Tragik dieses Problems: „Es geht um das Überleben von Millionen Menschen“; er unterlässt es aber, die Ursache des Flucht-Phänomens zu signalisieren, nämlich die EU-USA-Interventionspolitik im Nahen und Mittleren Osten, die Chaos, Tod und Verwüstung mit sich gebracht hat. „Flucht hat Ursachen – aber die Bekämpfung der Fluchtursachen ist zu einer Floskel geworden…“ erkennt Prantl. Da kann man etwas tun, indem die EU-Verantwortungsträger ihre falsche Außenpolitik korrigieren, und zwar grundsätzlich. „Beschleunigen muss sich ein neues Denken,“ sieht zutreffend Prantl auch ein.
Der wiedergewählte Präsident in Syrien, Baschar Al-Assad, mit überwältigender Mehrheit der syrischen Bevölkerung am 3.Juni 2014, ist nicht weiter nach US-amerikanischen Codex zu dämonisieren, sondern er ist von Berlin anzuerkennen und von allen anderen europäischen Hauptstädten. Einen diesbezüglichen EU-Gipfel sollte die deutsche Kanzlerin einberufen, um die erforderliche Wende zu schaffen: Die europäischen Regierungen sollten einsehen, dass ihre Interventionspolitik mit Gewalt, durch Bewaffnung und Finanzierung des Terrors gegen die Regierung Syriens eine falsche unzulässige und gescheiterte Außenpolitik ist, deren Folgen Europa mit der dramatisch zunehmenden Flucht von Menschen schon stark zu spüren bekommt. Es ist armselig für die europäischen Medien, dass lediglich „Financial Times“ und „The Guardian“ (beide am 14.8.) auf die Ursachen der Flüchtlingsströme kritisch aufmerksam machen. Heribert Prantl mahnt zu Recht: „Man wird das 21.Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist…. Man wird es daran messen, was es getan hat, um die Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen ihre Heimat wiederzugeben. Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Wirtschaft ein radikales Umdenken verlangt… … Es gibt ungeheuer viel zu tun. Aber es wird so wenig davon angepackt. Die Fantasien der Politik erschöpfen sich in Abwehr- und Abschreckungsmaßnahmen…>
Diese unermessliche Menschenwanderung, die auf Europa zukommt, und nebenher die Installation und der Einsatz von US-Raketen in der Türkei (Incirlik) sind die jüngsten Alarmglocken für ein fürchterliches Kriegsszenarium an Europas Toren. Nicht zu vergessen, dass während des Kalten Krieges gerade das Aufstellen von US-Raketen in Incirlik, damals sogar mit Atomwaffen, zur Kuba-Krise 1962 führte, die lediglich durch die Vereinbarung gelöst wurde, solche Atomwaffen in Incirlik (Türkei) innerhalb von sechs Monaten abzuziehen. Das vereinbarten damals der Bruder des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy, Robert Kennedy und der sowjetische Botschafter Anatoli Dobrynin in Washington, bevor die sowjetischen Atomwaffen in Kuba zurückgezogen wurden, Waffen, die Moskau dort in der Nähe der USA installiert hatte als Reaktion auf die US-amerikanischen in Incirlik.
Jetzt zeigt sich jedoch, dass die USA aus der damaligen irrsinnigen, fatalen Erfahrung nichts gelernt haben und darauf bestehen, denselben Irrsinn rücksichtslos zu wiederholen. Angesichts des jetzigen Einsatzes von US-Raketen auf demselben türkischen Territorium gegen syrisches Territorium unter der Tarnung, IS-Stellen in Syrien anzugreifen, hat sich das deutsche Verteidigungsministerium entschlossen, die Patriot-Raketen und die Bundeswehrsoldaten von türkischem Territorium abzuziehen.
Niemals gab es eine Gefahr für die Türkei, von Syrien angegriffen zu werden; jedoch galt sie umgekehrt: Ständig war Syrien Attacken von Extremisten ausgesetzt, die in der Türkei trainiert und bewaffnet wurden. Dieses NATO-Land verfolgt offensichtlich seine eigene Agenda gegen Syrien. Absolut unberechenbar hat dieses NATO-Land den Bündnisfall riskiert und mehrmals versucht, ihn zu provozieren. Sevim Dagdelen, Sprecherin für internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion DIE LINKE stellt die Perfidie dieser Gewaltpolitik bloß: <Es ging nie um Gefahrenabwehr, sondern um symbolische Stützung der Gewaltpolitik des jetzigen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayip Erdogan durch die NATO. Die Bewaffnung von Terroristen in Syrien durch Ankara war Teil ihrer Regime-Change-Politik, mit der – gemeinsam mit den Golfdiktaturen Saudi-Arabien und Katar – der Einfluss des Iran in der Region zurückgedrängt werden soll. … Der BND stellte fest: Erdogan liefert Waffen an Terrorbanden… Das brachte die Täuschungsstrategie Berlins ins Wanken. Der „Patriot“-Abzug ist, wenn auch begrüßenswert, nicht mehr als eine Frontbegradigung, um die fortdauernde Unterstützung für Ankara zu verschleiern. … Die Treue zur AKP-Regierung ist so stark wie die Hoffnung, von Erdogans neo-osmanischer Außenpolitik von den Wüsten Arabiens bis in die Berge des Balkan falle auch etwas für den Westen und die NATO ab. Statt seinem Krieg gegen Minderheiten wie Kurden und die Linke im Nahen Osten den Beistand zu entziehen, fällt kein böses Wort über den Völkerrechtsbruch, in Syrien eine Pufferzone einzurichten. … Die syrische Al-Kaido Formation Nusrafront reagiert ähnlich, schweigt zum Vorgehen der Türkei und macht Platz für deren Invasion, die sich gegen die kurdischen Gebiete in Nordsyrien richtet. …> In diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung ihren Entschluss gefasst, die „Patriot-Raketen“ aus der Türkei abzuziehen. Sevim Dagdelen weiter: <Die Bundesregierung ist wegen ihrer andauernden Unterstützung für Erdogans Terrorpolitik zur Rede zu stellen und die Adoption islamistischer Terrorgruppen durch NATO-Verbündete und Golfdiktaturen ist ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Erst wenn Berlin die massiven Lieferungen deutscher Waffen beendet, kann davon die Rede sein, dass die Unterstützung der Gotteskriegerfans ein Ende hat. Deutschland ist in Europa der Hauptlieferant von Rüstungsgüter in die Türkei. Es ist höchste Zeit, den Angriffskrieg Erdogans, den er auch mit ihnen führt, zu stoppen.> („Berlin und Ankaras Terrorpolitik – Frontbegradigung“, Sevim Dagdelen, Junge Welt,17.8.15)
Der Journalist Nick Brauns erläutert die aktuell extrem gefährliche Lage in seinem Artikel „Brüchiges Kriegsbündnis“, Junge Welt,17.8.: < Die Gefahr von Angriffen syrischer Regierungstruppen auf die Türkei sei nicht mehr gegeben, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. „Die Bedrohung in dieser krisengeschüttelten Region hat jetzt einen anderen Fokus erhalten“, erklärte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen… Während bislang die Gefahr eines syrischen Angriffs nicht bestand, könnte die syrische Armee gerade jetzt mit legitimer Selbstverteidigung auf die von der türkischen und der US-Regierung beschlossene völkerrechtswidrige Schaffung einer Flugverbotszone als Aufmarschgebiet von Söldnertruppen im Norden Syriens reagieren. Doch offensichtlich will die Bundesregierung nicht in ein solch unübersichtliches Kriegsszenario verwickelt werden, das auch in Nordsyrien kämpfende kurdische Milizen und Vergeltungsaktionen des „Islamischen Staates (IS) auf die vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus geflogenen US-Luftangriffe einschließt. …> Der Kriegskurs Erdogans und seiner AKP-Regierung macht die Türkei ein unberechenbares NATO-Mitglied, das Deutschland und ganz Europa gefährdet. Das Bündnis sollte ein derart ungezügeltes Land ausschließen, um nicht zu riskieren, in dessen Kriegskurs zu tappen.
In diesem Zusammenhang wirkt die überraschende Reise des US-Außenminister Kerry nach Saudi-Arabien, Katar und in die Türkei sehr verdächtig. Dem US-Außenminister ist überhaupt nicht zu trauen, denn gerade die Obama-Regierung hat Extremisten aus solchen Länder mit dem anmaßenden Zweck bewaffnet, finanziert und gefördert, einen Regime-Change in Syrien zu erreichen. Zudem gab es keine Erklärung aus dem State Department bezüglich dieser merkwürdigen Reise von Kerry. Was wollte er dort anzetteln?
Der perfide Hintergrund der bisherigen Kollaboration der deutschen Regierung mit den USA, die die Mitverantwortung und Mitschuld der Regierung Deutschlands am Flüchtlingsproblem bloßstellt, wird von Heribert Prantl nicht angeprangert. Hat die SZ-Redaktion die entsprechenden Passagen darüber zensiert?
In ihrem Sommerinterview im ZDF am Sonntag, 16.8., hat die Bundeskanzlerin öffentlich erklärt, dass die Flüchtlingsproblematik ein viel gravierenderes Problem als Griechenland darstelle, ein Problem, mit dem sich das Bundeskanzleramt gründlich und mit höchster Priorität in den nächsten Tagen befassen werde. Hinsichtlich dieser Äußerungen sollte man sich daran erinnern, dass alle Versuche seit 2012, das Chaos in Syrien durch Friedenskonferenzen zu beenden – erst mit dem damaligen ersten UN-Vermittler Kofi Annan in Genf und dann mit dem zweiten UN-Vermittler, Lakhdar Brahimi – gescheitert sind. Verantwortlich dafür war der Saboteur Nr. 1, nämlich die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton und danach ihr Nachfolger John Kerry. Beide sabotierten die Friedensanstrengungen von Kofi Annan und Brahimi, indem sie obsessiv auf dem Rücktritt des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad bestanden, eine Bedingung, die in keinem Friedensplan festgelegt worden war. Trotzdem maßt sich das US-Außenministerium bis heute an, sie medial zu wiederholen.
Solange das State Department und ihm ergebene Medien und Regierungen an dieser plumpen Zumutung festhalten, gibt es keine Chance für einen Frieden in Syrien. Die USA gehören isoliert, bis sie den Willen der Völker und der Menschheit respektieren lernen. Der UN-Generalsekretär a.D. und damaliger UN-Vermittler Kofi Annan sah sich durch den Boykott der USA und ihre EU-Komparsen in der Falle. Deswegen reiste er im Dezember 2012 nach Berlin, um den deutschen Außenminister Guido Westerwelle persönlich zu sprechen. Sicherlich wollte Kofi Annan die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland bekommen, um die US-Sabotage für den Frieden in Syrien zu brechen. Und wie viel Mut gibt es heute seitens der deutschen Regierung gegenüber dem Weißen Haus?
Ein konstruktiver unentbehrlicher Schritt, um die Diplomatie wieder gerade zu richten und wirken zu lassen, wäre eine Reise des deutschen Außenministers Walter Steinmeier nach Damaskus und Teheran, um diplomatische Beziehungen mit beiden Länder wiederherzustellen, zu aller erst mit Damaskus. Diesen notwendigen Schritt darf das deutsche Außenministerium nicht weiter verschieben.
Die in Syrien akkreditierte Korrespondentin Karin Leukefeld berichtet, <die syrische Regierung fordere als vertrauensbildende Maßnahme von den regionalen Kriegsgegnern die Einstellung der Unterstützung für die Kampfgruppen in Syrien, bevor sie zu einer Zusammenarbeit gegen den IS bereit ist. Damaskus hatte wiederholt die USA und die EU-Staaten aufgefordert, ihre Botschaften in Damaskus wieder zu eröffnen, um die vom Westen gegen den IS offenbar gewünschte Anti-IS-Kooperation auf eine völkerrechtliche Basis zu stellen.> („USA wollen bombardieren“ von Karin Leukefeld, Junge Welt, 11.8.15)
Karin Leukefeld weiter: <Der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, kritisierte die westlichen Staaten, dass sie durch ihre Verschleppungstaktik in Syrien „die Lage verschlimmert haben“. Der Kampf gegen den IS könnte effektiver sein, wenn der Westen mit den syrischen Streitkräften gemeinsam agieren würde. … Die Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin, alle Kräfte der Region, die gegen IS kämpfen, zusammenzubringen, ist zu begrüßen und durchzuführen. „Insbesondere sollen die Streitkräfte Syriens und des Iraks sowie die Kurden und „die bewaffnete Opposition … kooperieren…“ Der russische Außenminister Sergej Lawrow erneuerte am Wochenende 5/6.8. den Aufruf an den Westen, mit dem syrischen Präsidenten Assad gegen den IS zusammenzuarbeiten. Der IS sei ein „gemeinsamer Feind“, erklärte Lawrow. Es sei „merkwürdig“, Assad als legitimen Partner bei der Vernichtung der Chemiewaffen zu akzeptieren, im „Kampf gegen den Terrorismus“ aber nicht.> („USA wollen bombardieren“ von Karin Leukefeld, Junge Welt, 11.8.15)
Die russische Sicht deckt sich mit der Sicht im deutschen Verteidigungsministerium: „Die Bedrohung in dieser krisengeschüttelten Region hat jetzt einen anderen Fokus erhalten. Sie geht heute von der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ aus“. So die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. („Brüchiges Kriegsbündnis“ von Nick Brauns, Junge Welt,17.8.)