Abdallah Frangi: Die Palästinenser werden ihre Präsenz in ihrem Land niemals aufgeben / Ein eigner Staat bleibt das Ziel / Kritik an Europa und Deutschland
Der frühere Vertreter Palästinas in Deutschland und heutige Gouverneur von Gaza, Abdallah Frangi, der auch Palästinenser-Präsident Abbas in internationalen Fragen berät, hat in einem Interview mit Arn Strohmeyer vom 26.01.2016 die Europäer zu einem stärkeren Engagement für die Lösung des Konflikts Israels mit den Palästinensern aufgefordert. Man dürfe das Problem nicht in eine unbestimmte Zukunft verschieben. Er versicherte, dass die Palästinenser an dem Ziel eines eigenen Staates festhielten. Scharf kritisierte er die westlichen Medien, die nicht wahrheitsgemäß und angemessen über den Konflikt berichteten.
Herr Frangi, Können Sie eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen Situation im Gazastreifen geben?
Frangi: Wir hatten in den vergangenen drei Jahren drei Kriege, die alle furchtbar waren. Ich habe den letzten Krieg als Gouverneur von Gaza (ich bin am 7. Juli 2014 ernannt worden) hautnah erlebt. Die Israelis waren total überlegen und haben den Verlauf der Zerstörung genau vorgegeben. Außerdem haben sie neue Waffen eingesetzt, die zum ersten Mal getestet worden sind. Die Wirkung der Raketen, die aus dem Gazastreifen abgeschossen wurden, war dagegen eher bescheiden. Der Gazastreifen ist zwar nur ein winziges Gebiet, aber seine politische Bedeutung ist sehr groß. Ohne diesen Streifen kann es keinen Lösung für die Palästinenser geben. Denn dann kann es nicht zu zwei Staaten – Israel und Palästina – kommen. Das würde bedeuten, dass man das Problem auch für die nächsten Generationen vor sich herschieben würde.
Nun gab es nach dem letzten Gaza-Krieg eine Konferenz in Kairo, an der auch die EU-Staaten und die USA teilgenommen haben und bei der Gaza Milliarden von Dollars als Hilfe zugesagt worden sind. Was ist denn aus dieser Initiative geworden?
Daraus ist nichts geworden. Das hängt damit zusammen, dass die EU und die europäischen Staaten kein Konzept für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern haben, sie sind sich auch untereinander nicht einig. Das Geld ist irgendwo auf Banken deponiert. Es werden damit Projekte unterstützt, die aber nicht dem Wiederaufbau des Gazastreifens dienen. Das ist eben das Problem. Es gibt keine internationalen Führungskräfte etwa in der UNO, die das unterstützen würden. Es sind eher Privatpersonen wie der frühere britische Premierminister Tony Blair, die sich da ohne Ergebnis engagieren. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier war nach dem Krieg auch in Gaza. Er stimmt aber einem Wiederaufbau des Gazastreifens nur zu , wenn die Sicherheit Israels gewährleistet ist. Aber die Sicherheit dieses Staates wird von einem israelischen Militär festgelegt und nicht von einem deutschen oder europäischen Politiker. Das macht die Lage so kompliziert.
Der Wiederaufbau ist also kaum vorangekommen?
Die Welt hat Geld für den Wiederaufbau zusammengebracht. Aber wenn man einen Blick auf die Straßen in Gaza wirft, sieht man nach wie vor die große Zerstörung der Häuser. Da hat sich nicht viel verändert. Die Menschen haben die Straßen von den Trümmern lediglich gesäubert. Sie haben in dem Krieg ihre Erfahrungen gemacht und verhalten sich sehr dynamisch.
In welchem Ausmaß lässt Israel überhaupt Baumaterial und Lebensmittel in den Gazastreifen hinein, so dass sich die Lage der Menschen verbessern könnte?
Die Israelis bestimmen nach ihren Sicherheitskriterien, was an Hilfsgütern hereinkommen darf und was nicht. Unsere Listen mit den Angaben, was wir brauchen, werden von den Israelis sehr restriktiv und zurückhaltend behandelt, sodass man eigentlich nicht von notwendigen Importen reden kann.
Früher hat die Wirtschaft Gazas auch exportiert. Das ist wohl heute nicht mehr möglich.
Gaza hat eine Landwirtschaft, die exportieren könnte, aber da ist so gut wie nichts möglich, weil die israelischen Sicherheitsbehörden das nicht zulassen.
Es hat Medienberichte gegeben, dass die Israelis mit Flugzeugen aus der Luft Herbizide auf die Ernten der Bauern gestreut hätten, um diese zu vernichten.
Europäische und auch deutsche Journalisten haben über diese Maßnahmen Berichte angefertigt. Sie sind aber nicht veröffentlicht oder gesendet worden. Auch der ARD-Korrespondent Richard C. Schneider hat viele Berichte über das brutale Vorgehen der Israelis in den besetzten Gebieten – über die Angriffe der Luftwaffe, die Schikanen der Siedler und andere verbotene Maßnahmen – gemacht. sie sind aber entweder gar nicht oder nur in Sekundenbruchteilen gesendet worden. Deswegen kann natürlich auch kein Druck auf das israelische Militär entstehen, das bei seinen Aktionen gegen Palästinenser deshalb überhaupt keine Rücksicht nehmen muss.
Die Palästinenser sind natürlich die Leidtragenden der Situation?
Ja, die Palästinenser leiden darunter, aber sie können sich nicht wehren. Wir haben keinen Einfluss auf die Weltmeinung, um uns zu schützen. Deswegen werden auch die Israelis nicht zur Rechenschaft gezogen, um sie daran zu hindern, solches Vorgehen zu wiederholen. Israel ist eine Besatzungsmacht, wird aber als solche von Europa nicht gesehen. Das ist das Problem der Palästinenser. Man redet in Europa viel vom Frieden, wir müssen aber immer wieder totale Kriege erleben. Man redet von der Zwei-Staaten-Lösung, aber Israel hat bis heute keine festen Grenzen für den eigenen Staat festgelegt, die auch die Sicherheit Israels definieren würden. Europa würde das theoretisch unterstützen. Es gilt dagegen die Sharon-Doktrin, dass diese oder jene europäischen Staaten für die Sicherheit Israels zuständig sind. Israels Sicherheit ist ihnen also wichtiger als ihre eigene. Damit unterstützen sie – bewusst oder unbewusst oder aus Unfähigkeit – die Besatzungspolitik Israels. Das tut weh, solche Erklärungen zu hören, ohne dass man die Ursachen der Zustände in Israel und Palästina berücksichtigt und ohne dass man auf die Tatsache zurückkommt, dass die Besetzung und die Blockaden der Grund dafür sind, dass man in Richtung auf eine Friedenslösung nicht vorankommt.
Wie erklären Sie sich diese Mutlosigkeit oder diesen Opportunismus der Europäer gegenüber Israel?
Die Europäer – genau gesagt England und Frankreich – haben den Nahen Osten 1916 im Sykes-Picot-Abkommen geteilt, nachdem die Araber auf Seiten der Alliierten gegen die Türken gekämpft hatten. Man hatte den Arabern die Unabhängigkeit versprochen, dieses Versprechen aber nicht eingehalten. Man hat neue Staaten geschaffen, dabei spielten Frankreich und England eine große Rolle. Deshalb ist Europa im Grunde bis heute zuständig für die Entwicklung dieser Staaten, für deren Wirtschaft, politischen Systeme usw. Europa handelt auch heute noch nach den Rezepten von damals, obwohl es sich inzwischen um demokratische Staaten dort und nicht mehr um Kolonialmächte handelt. Die Interessen der Europäer sind so groß, dass sie vorschreiben können, wer dort regiert. Der Westen hat versucht, in Afghanistan und im Irak Demokratien zu schaffen. Das Ergebnis war sehr blutig, und man hat dort große Zerstörungen angerichtet. Der Weg zur Schaffung von Demokratien ist aber gescheitert.
Was bedeutet das für Palästina?
Die Europäer haben bis zum heutigen Tag kein Konzept für Palästina. Sie sind alle für die Zwei-Staaten-Lösung: Sie ist die einzige Möglichkeit für die Israelis und Palästinenser, und die Siedlungspolitik ist unannehmbar, heißt es immer wieder. Aber die Siedlungspolitik ist so weit fortgeschritten, dass einige Teile von Syrien [die Golan-Höhen] seit 1967 und andere Teile von den palästinensischen Gebieten annektiert worden sind, ohne dass die Weltgemeinschaft oder Europa Maßnahmen dagegen ergriffen hätten, um diese Annexionen zu stoppen und um auch zu zeigen, dass die Menschenrechte dort eingehalten werden müssen. Genau das ist das Problem: Europa redet mit zwei Zungen. Europa hat uns versprochen uns zu helfen, dass wir eine Demokratie und eine sichere Zukunft bekommen. Wenn es in diesem Zusammenhang aber zu einem Konflikt mit Israel kommt, stellt sich Europa immer auf die Seite Israels. Das ist ein Unglück für die Palästinenser und ruft natürlich große Enttäuschungen hervor.
Sie sprechen jetzt den Aufstand der jungen Palästinenser an.
Das sind junge Menschen, die zur Zeit des Friedensabkommens von Oslo geboren wurden und nun in Jerusalem und Umgebung auf die Straße gehen. Sie erleben nun, dass sie weder Frieden haben noch ihre Land bearbeiten können. Sie können auch die Demütigungen nicht verhindern, die ihren Eltern jeden Tag angetan werden. Sie können auch die öffentliche Meinung in Israel nicht auf ihre Seite bringen, damit man endlich die Zwei-Staaten-Lösung angehen könnte, um dann in einem friedlichen Nebeneinander die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Davon ist keine Rede mehr, Europa hat von den Strafmaßnahmen gegen die israelische Besatzungspolitik Abstand genommen.
Kann man schon von einer dritten Intifada sprechen?
Es handelt sich hier bei den jungen Leuten um eine Reaktion, die noch nicht so organisiert ist wie der Aufstand der Palästinenser 1987 oder die zweite militarisierte Intifada im Jahr 2000. Es ist eine Reaktion von jungen Leuten, die wegen der Besatzung nicht in der Lage sind, ein normales Leben zu führen. Sie sind ständig konfrontiert mit den brutalen Methoden der Siedler und mit den brutalen Methoden der Kontrollen und der Checkpoints. Diese Reaktionen der jungen Palästinenser laufen nicht nach einem Plan wie 1987 oder einer politischen Ideologie ab. Es handelt sich um eine Reaktion auf die Brutalität der Besatzung, aber die Antwort ist schwach – auch in der Durchführung der Aktionen und der Handhabung der Medien. Denn diese Aktionen können natürlich missverstanden werden. Man wird sagen: Die Palästinenser bringen Israelis mit Messern um. Die jungen Leute werden denn auch jetzt für die Unsicherheit verantwortlich gemacht, die sich in Israel breitmacht, und natürlich auch für die Gegenreaktionen der Israelis.
Und Europa schaut untätig zu?
Das ist das Problem. Es geht hier um die gesamte Entwicklung, die in den vergangenen hundert Jahren stattgefunden hat. Man wollte uns beibringen, dass wir wie die Europäer demokratisch werden. Es gibt viele Menschen im arabischen Raum, die in Europa das Vorbild gesehen haben. Was wir aber heute in Syrien, im Irak und in Libyen sehen, ist ein Resultat der Unfähigkeit der Europäer, die Zukunft dieser Region positiv mitzugestalten.
Wie sehen Sie die Zukunft für Palästina und die Palästinenser?
Die Diskussionen heute laufen völlig in die falsche Richtung. Entweder sagt man, die einzige Möglichkeit für die Palästinenser ist die Ein-Staaten-Lösung; andere sagen, die zweite Möglichkeit ist, dass sie als Besetzte weiter leben und sich so vermehren, dass sie eines Tages wie in Südafrika die Mehrheit haben. Das ist Quatsch. Das hat mit den Tatsachen nichts zu tun. Die Palästinenser leben in diesem Land seit 6 000 oder 7 000 v. Chr. und sie haben viele Besatzer dort erlebt. Es gab viele Systeme und Menschen, die ihnen ihre Zukunft vorschreiben wollten. Es ist ihnen nicht gelungen. Die Palästinenser, die 1948 auf die brutalste Art und Weise vertrieben wurden, sind heute 11,5 Millionen Menschen, die überall in der Welt, hier in der Region und im Gazastreifen leben. Sie stellen eine dynamische Gesellschaft dar, die nicht einfach aufgeben wird. Wer glaubt, dass man mit den Palästinensern machen kann, was Israel vorschreibt, der irrt sich total.
Welche Rolle kommt Europa in diesem Prozess zu?
Man weiß nicht, welche Ziele die Europäer haben. Wollen sie wirklich die Demokratie überall in Afrika und Asien verbreiten, wo man ein Interesse am Frieden in der Region hat? Auf der anderen Seite mischen sich die Europäer ein, schicken ihre Flugzeuge dorthin und beschießen Daesh [andere Bezeichnung für den sogenannten Islamischen Staat IS] und die anderen islamischen Organisationen mit Raketen. Der Aufenthalt in Gaza war für mich insofern eine Erholung als Mensch, der sich nach Demokratie, Freiheit und Unabhängigkeit sehnt. Aber ich fühle die Schwäche, Unfähigkeit und den Unwillen bei vielen europäischen Staaten, die heute als Demokratien immer noch eine Politik wie damals die Kolonialmächte betreiben.
Aber Europa spielt nicht allein beim Machtpoker im Nahen Osten mit.
Jetzt kommen noch mehr Spieler in der Region dazu. Die USA sind nicht mehr die alleinige Supermacht, die dort vorherrscht und alles bestimmen kann. Die Entwicklung geht in die Richtung, dass auch Russland und China dort mitmischen. Diese beiden Mächte werden nicht zulassen, dass der Nahe Osten nur im Sinne Israels oder der USA gestaltet wird. Oder im Sinne der Europäer, die glauben, mit militärischen Mitteln die Entwicklung in Richtung Demokratie dort steuern zu können.
Ist in den Protesten der jungen Palästinenser auch ein Protest gegen die Politik der Autonomie-Behörde von Präsident Mahmud Abbas enthalten? Die Unzufriedenheit im Westjordanland ist auch groß.
Es gibt Unzufriedenheit, aber das ist kein Protest gegen Abbas. Die jungen Leute wissen, dass die palästinensische Regierung keine Möglichkeiten und nur einen sehr engen politischen Spielraum hat. Wenn die jungen Leute einen bewaffneten Kampf gegen Israel beginnen, wird Israel das mit Gewalt beenden, wie sie das in den Jahren 2000, 2008 und 2014 gemacht haben. Die Israelis sind nach der Ermordung von Itzhak Rabin nicht mehr bereit, einen Palästinenser-Staat an der Seite von Israel zu akzeptieren. Die Israelis suchen immer wieder die militärische Konfrontation, weil sie natürlich wissen, dass die Palästinenser militärisch unterlegen sind. Den jungen Palästinensern ist aber bewusst, worum es geht.
Es gibt also keine Differenzen zwischen den jungen Aufständischen und Abbas?
Es gibt zwischen ihnen und Präsident Abbas keinen Konflikt. Präsident Abbas betreibt eine Politik der Verantwortung mit Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft, der USA und auch der zu einer Friedenslösung bereiten Israelis – und vor allem auch Itzhak Rabins, der deswegen ermordet worden ist. Abbas betreibt eine Politik der Nicht-Militarisierung, nicht eine Politik der militärischen Konfrontation. Das ist eine Politik, die von allen Teilen der Welt theoretisch unterstützt wird. Diese Unterstützung wird in einigen Punkten aber nicht mehr umgesetzt, weil man nicht den Mut hat, den Israelis direkt ins Gesicht zu sagen: Diese Besatzungspolitik führt zu Kriegen und neuen Konfrontationen.
Die Attacken der Siedler auf die palästinensische Bevölkerung in den besetzen Gebieten werden im aggressiver und brutaler.
Die Siedler nehmen Palästinensern mit aller Brutalität das Land weg und verüben sogar Brandanschläge auf palästinensische Familien [Es handelt sich um den Brandanschlag von Siedlern auf die Familie Dawabshe in dem Dorf Duma.] . Die Täter werden dafür nicht zur Verantwortung gezogen, und die ganze Welt schaut zu. Man muss sich einmal vorstellen, dass irgendwo auf der Welt ein Kind [ein Baby] einfach zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter und seinem Onkel verbrannt wird und die Welt schaut zu und sagt: Das war kein Brandanschlag, die haben nur mit Feuer gespielt. Das ist eine gemeingefährliche Entwicklung. Die Tatsache, dass darüber nicht diskutiert wird, ja, eine Diskussion gar nicht zugelassen wird, weil man davon ausgeht, dass Israel ein demokratischer Staat ist, ist empörend. Ich sage: Für Juden untereinander ist Israel eine Demokratie, für Palästinenser ist es eine Besatzungsmacht und keine Demokratie.
Ist es realistisch anzunehmen, dass die jüdische Besiedlung, in die Israel Milliarden von Dollars investiert hat, jemals wieder rückgängig gemacht werden kann, dass die Israelis also da wieder rausgehen? Es wohnen inzwischen über 500 000 Juden dort.
Ich denke, dass man die Frage so nicht stellen darf. Sie müsste lauten: Können die Israelis die Palästinenser ausschalten, können sie die Palästinenser zwingen, das Land fluchtartig zu verlassen? Die Palästinenser haben ein Ziel und wollen ihren Staat gründen. Sie haben innerhalb der PLO eine demokratische Entwicklung durchgemacht – die erste in der arabischen Welt. Die Mehrheit der Palästinenser steht hinter dieser Politik. Ich sagte schon, es gibt 11,5 Millionen Palästinenser, das sind dynamische Menschen, die zum Teil in Demokratien der ganzen Welt leben. Diese Leute haben auch Einfluss auf Intellektuelle, sie arbeiten mit Vertretern der BDS-Kampagne [Boykott, De-Investment und Sanctions] zusammen – das sind alles Menschen, die die Freiheit lieben und zusammenarbeiten. Das ist der Vorteil der Palästinenser. Es geht nicht mehr darum, ob die israelischen Siedler weggehen oder nicht. Egal, wie groß die Zahl der Siedler sein wird – Israel hat gegenwärtig nicht mehr als sieben Millionen Menschen. Auch wenn sie alle Juden der Welt dorthin bringen, sie werden nie so weit kommen, dass sie die Palästinenser ausschalten und ausradieren und die ganze arabische und islamische Region unter ihre Kontrolle bringen können.
Ist die israelische Politik zu kurzsichtig?
Ja, die Israelis machen einen großen Fehler. Wenn sie einen Judaisierungs-Prozess durchführen, dann schaffen sie damit automatisch auch einen Islamisierungs-Prozess. Und die Zahl der Moslems in dieser Region ist hunderttausend Mal größer und effektiver als die Zahl der Juden. Die Juden können als Besatzungsmacht und nicht als eine demokratische Gruppe für Europa existieren. Das ist der Nachteil der israelischen Politik, aber das wird in den Medien von Europa gar nicht diskutiert. Deshalb glaube ich, der Mord an Rabin war sehr dumm. Sie wussten, er wollte die Zwei-Staaten-Lösung. Er war ein Partner für die Palästinenser, Arafat war ein Partner für Rabin. Und deshalb hat man beide einfach umgebracht, damit sie die Zwei-Staaten-Lösung nicht durchsetzen konnten. Heute ist es die Aufgabe der Europäer, die israelischen Kräfte, die nach der Ermordung Rabins politisch schwach geworden sind, die aber an die Zwei-Staaten-Lösung glauben, zu unterstützen.
Glauben Sie ernsthaft, dass die Europäer das tun werden? Sie stehen doch voll hinter der rechten national-religiösen Regierung von Benjamin Netanjahu.
Ich zweifle nicht daran, dass viele Politiker in Europa ein Ziel vor Augen haben und einen Frieden in der nahöstlichen Region erreichen wollen, weil sie selbst davon profitieren würden – wirtschaftlich und politisch. Aber ihre Politik entspricht nicht den Maßnahmen, die notwendig wären und deshalb verlangt werden, einen Frieden zu erreichen. Um Europa steht es zur Zeit schlecht. Dieser Kontinent war einmal das Vorbild für alle Menschen auf der Erde. Welche Haltung hat Europa heute in der Flüchtlingsfrage? Welche Politik betreibt Europa eigentlich? Was man heute in Europa sieht, ist erschreckend. Wenn die Europäer über die Zustände außerhalb ihrer Grenzen nachdenken, dann müssen sie auch ihre Position gegenüber dem Nahen Osten in Bezug auf das, was sie dort in den vergangenen 100 Jahren politisch gemacht haben, überdenken, revidieren und Verantwortung übernehmen. Sie müssen mit den jungen Leuten in der Region reden, die sich heute im Gazastreifen und in der Westbank nach einer neuen Entwicklung sehnen. Israel verfolgt eine Politik, die diesen Staat in die Sackgasse führen wird. Israel hat mit dieser Politik keine Zukunft. Das wussten auch Rabin und viele andere israelische Politiker. Sie haben das auch laut gesagt, aber sie haben nicht mehr den Einfluss, den sie früher einmal hatten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt: Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson. Das sieht ja nicht gerade nach einer neuen Politik gegenüber den Palästinensern aus.
Die deutsche Politik hat die Palästinenser ja von Anfang an sehr unterstützt. Sie hat auch die Zwei-Staaten-Lösung unterstützt und tut das auch weiterhin. Man muss aber fragen: Welche Grenzen hat Israel heute? Israel ist der einzige Staat auf der Welt, der seine Grenzen noch nicht festgelegt hat. Inwieweit kann eine Politik dann sagen: Ich bin für die Sicherheit Israels auch ohne Festlegung der Grenzen? Es ist doch so: Die Grenzen Israels werden von seinen Panzern, Flugzeugen und von den Militärs festgelegt. Dies gefährdet die Sicherheit Israels viel mehr als man glaubt.
Was würden Sie den Deutschen raten?
Von der deutschen Geschichte muss man lernen, dass man die Menschenrechte nicht missachten darf, dass man die Freiheit der Menschen nicht unterdrücken darf und dass es Sicherheit zwischen den Staaten und Menschen nur bei Partnerschaft zwischen den Völkern geben kann. Wenn jemand sich für die Sicherheit Israels einsetzt, dann muss er klar sagen: akzeptiert er Israel als Besatzungsmacht in der Westbank, akzeptiert er die Siedlungspolitik? Die meisten Politiker in Europa und Deutschland akzeptieren die Siedlungspolitik nicht, aber sie tun zu wenig, diese Politik zu stoppen. Das verstößt gegen die Ideale der Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg. Man muss aber Klarheit schaffen: Wenn man Israel unterstützen und seine Grenzen garantieren will, dann als ein friedliches Land in den Grenzen von 1967 und mit Jerusalem als geteilter Hauptstadt eines jüdischen und palästinensischen Staates, der lebensfähig sein muss, damit wir die Zukunft gestalten können.
Von Arn Strohmeyer, 27.01.2016