Anständiger Respekt

Nahostpolitik

Von Uri Avnery, 18.10.2014

Wenn das britische Parlament eine Resolution zu Gunsten der israelischen Besatzung der Westbank angenommen hätte, dann hätte die Reaktion unserer Medien etwa so ausgesehen:
In einer Atmosphäre großer Begeisterung nahm das britische Parlament mit großer Mehrheit (274 pro zu nur 12 gegen) einen pro-israelischen Entschluss an … Mehr als die Hälfte der Sitze waren besetzt, mehr als gewöhnlich … die Gegner Israels verbargen sich und wagten nicht, dagegen zu stimmen…“
Leider stimmte das britische Parlament in dieser Woche über eine pro-palästinensische Resolution und unsere Medien reagierten fast einstimmig so:
„Die Halle war halb leer … es gab keine Begeisterung… eine bedeutungslose Übung … nur 274 Mitglieder stimmten für die Resolution, die zu nichts verpflichtet … Viele Mitglieder blieben fern …“
Doch alle unsere Medien berichteten über die Vorgänge ausführlich, viele zugehörige Artikel erschienen in den Zeitungen. Was für eine Leistung für solch einen zu vernachlässigenden, unbedeutenden, unscheinbaren, inkonsequenten, trivialen , unwichtigen Akt.
Einen Tag zuvor hatten 363 jüdisch-israelische Bürger das britische Parlament dazu aufgerufen, die Resolution anzunehmen, die die britische Regierung dazu aufrief, den Staat Palästina anzuerkennen. Die Unterzeichner schlossen einen Nobelpreisträger ein, mehrere Träger des höchsten israelischen zivilen Preises, zwei frühere Kabinettminister und vier frühere Knesset-Mitglieder (mich eingeschlossen), Diplomaten und ein General.
Die offizielle Propagandamaschine agierte nicht. Man wusste, dass die Resolution sowieso irgendwie angenommen würde, so versuchte man das Ereignis so klein wie möglich zu machen. Der israelische Botschafter in London konnte nicht erreicht werden.
WAR ES ein zu vernachlässigendes Ereignis? Auf streng verfahrensorientierter Weise war es das. In weiterem Sinne war es weit entfernt davon. Für die israelische Führung ist es der Bote sehr schlechter Nachrichten.
Ein paar Tage zuvor kam eine ähnliche Nachricht aus Schweden. Der neu gewählte linke Ministerpräsident verkündete, dass seine Regierung die Anerkennung des Staates Palästina in naher Zukunft in Betracht ziehen würde.
Schweden, wie auch England wurden immer als ein „pro-Israel“ Land angesehen, die treu gegen „anti-Israel“-Resolutionen in der UN stimmten.
Wenn so bedeutende westliche Nationen ihre Haltung gegenüber der Politik Israels überdenken, was bedeutet das?
Ein anderer unerwarteter Schlag kam aus dem Süden. Der ägyptische Diktator Muhammad Abd-al-Fatah a-Sisi belehrte die israelische Führung eines Besseren, dass die „moderaten“ arabischen Staaten die Reihen unserer Verbündeten gegen die Palästinenser füllen würden. In einer scharfen Rede warnte er seinen neu gefundenen Genossen Benjamin Netanjahu, dass die arabischen Staaten nicht mit Israel zusammenarbeiten würden, bevor nicht mit dem palästinensischen Staat Frieden geschlossen werde. So durchschlug er den kürzlich aufgeblähten Ballon, der von Netanjahu in Umlauf gebracht wurde – von den pro-amerikanisch arabischen Staaten, wie Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, die Emirate, Kuweit und Qatar würden offene Verbündete Israels werden.
In Süd-Amerika hat sich die öffentliche Meinung schon merklich gegen Israel verschoben. Die Anerkennung Palästinas gewinnt in offiziellen Zirkeln ebenfalls an Boden. Selbst in den US scheint die bedingungslose Unterstützung für die israelische Regierung zu schwanken.
Um Himmels willen, was geht hier vor sich?
WAS HIER vor sich geht, ist eine tiefe, fast tektonische Veränderung in der öffentlichen Haltung gegenüber Israel.
Seit Jahren ist Israel in den Medien der Welt hauptsächlich als ein Land erschienen, das palästinensisches Land besetzt. Pressefotos von Israelis zeigen fast nur schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten, die sich gegen protestierende Palästinenser, oft Kinder, stellen. Wenige dieser Bilder hatten eine unmittelbare dramatische Wirkung, aber die häufig, zunehmende Wirkung sollte nicht unterschätzt werden.
Ein wahrlich seröser diplomatischer Dienst sollte seine Regierung schon seit langer Zeit alarmiert haben.
Aber unser Auslandsdienst ist durch und durch demoralisiert, angeleitet von Avigdor Lieberman, einem brutalen, schwergewichtigen Tyrann, der von vielen seiner Kollegen in aller Welt als Halbfaschist gilt, der das diplomatische Corps terrorisiert.
Es schweigt lieber.
Dieser weitergehende Prozess ist plötzlich mit dem Gazakrieg vor kurzem zu einer plötzlichen Pechsträhne geworden. Er war grundsätzlich nicht anders gewesen als die beiden Gazakriege, die noch nicht lange vorausgegangen waren, aber aus einem unerklärlichen Grund hatte er eine viel größere Wirkung.
Seit anderthalb Monaten werden die Leute in aller Welt mit Bildern von Toten, schwer verletzten Kindern, weinenden Müttern, zerstörten Häusern, beschädigten Krankenhäusern und Schulen bombardiert, auch mit Massen obdachloser Flüchtlinge. Dank des Iron Dome konnten keine zerstörten israelischen Gebäude gesehen werden – auch kaum tote israelische Zivilisten.
Eine normale, anständige Person – ob in Stockholm, Seattle oder Singapur kann solch einen ständigen Strom schrecklicher Fotos nicht unbewegt ansehen – zuerst unbewusst, dann bewusst. Das Bild vom „Israeli“ in der Vorstellung änderte sich langsam, fast unmerklich. Der tapfere Pionier, der sich gegen die Wilden verteidigt, verwandelte sich in einen hässlichen Tyrannen, der eine hilflose Bevölkerung terrorisiert.
WARUM REALISIEREN die Israelis dies nicht? Weil WIR IMMER RECHT HABEN.
Es ist oft vorher gesagt worden: die Hauptgefahr der Propaganda, jeder Propaganda, ist, dass ihr erstes Opfer der Propagandist selbst ist. Sie überzeugt ihn eher als sein Propaganda-Objekt. Wenn man eine Tatsache verdreht und sie hundertmal wiederholt, glaubt man es schließlich.
Nimm die Behauptung, dass wir gezwungen wurden, UN-Einrichtungen im Gazastreifen zu bombardieren, weil Hamas sie benutzte, um von dort Raketen auf unsere Städte und Dörfer zu schießen. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Moscheen wurden von unserer Artillerie, Flugzeugen, Drohnen und Kriegsschiffen gezielt bombardiert. 99% der Israelis glauben, dass dies nötig war. Sie waren schockiert, als der UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, der Gaza in dieser Woche besuchte, behauptete, dass dies total unzulässig sei.
Weiß denn der Generalsekretär nicht, dass unsere Armee die moralischste der Welt ist?
Eine andere Behauptung ist, dass diese Gebäude von Hamas dazu benutzt worden seien, um ihre Waffen dort zu verstecken.
Eine Person in meinem Alter erinnerte uns in dieser Woche in Haaretz daran, dass wir genau dasselbe taten, in unserm Kampf gegen die britische Regierung von Palästina und gegen arabische Angreifer: unsere Waffen wurden in Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Synagogen versteckt. An vielen Orten erinnern nun stolze Gedenktafeln daran.
In den Augen eines durchschnittlichen Israeli war das umfangreiche Töten und die Zerstörung während der kürzlichen Operation vollkommen gerechtfertigt. Er ist nicht in der Lage, die weltweite Empörung zu verstehen. Aus Mangel eines anderen Grundes schreibt er es dem Antisemitismus zu.
Nach einem der Libanonkriege – ich vergaß welcher -, erhielt ich eine ungewöhnliche Nachricht: ein Armeegeneral lud mich ein, einen Vortrag vor seinem versammelten Offizier-Corps zu halten: „über die Auswirkung des Krieges in den Medien der Welt“. (Er wollte wahrscheinlich vor den Offizieren mit seiner fortgeschrittenen Haltung imponieren.)
Ich erklärte den Offizieren, dass das moderne Schlachtfeld sich geändert hat, dass moderne Kriege im grellen Schein der Weltmedien ausgefochten werden, dass die heutigen Soldaten dies beim Planen und Kämpfen berücksichtigen müssten. Sie lauschten respektvoll und stellten entsprechende Fragen, aber ich fragte mich, ob sie die Lektion wirklich verstanden hätten.
Soldat- sein ist ein Beruf wie jeder andere. Jede professionelle Person, sei sie männlich oder weiblich, ein Rechtsanwalt oder ein Straßenkehrer, nimmt eine zu ihm passende Haltung ein.
Ein General denkt in realen Begriffen: wie viele Soldaten für den Job, wie viele Kanonen. Was ist nötig, um den Widerstand der Feinde zu brechen? Wie reduziert man seine Verluste?
Er denkt nicht über Fotos in der New York Times nach.
Bei der Gaza- Kampagne wurden Kinder nicht willkürlich getötet. Noch Häuser zerstört. Alles hatte einen militärischen Grund. Menschen müssten getötet werden, um das Risiko für das Leben unserer Soldaten zu reduzieren (Es ist besser, 100 Palästinenser zu töten als einen israelischen Soldaten). Die Leute mussten terrorisiert werden, damit sie sich gegen die Hamas wenden würden. Stadtviertel mussten zerstört werden, damit unsere Soldaten voran kommen, und der Bevölkerung müsse eine Lektion erteilt werden, dass sie noch Jahre danach daran denken und so den nächsten Krieg hinausschieben.
All dies macht für einen General militärischen Sinn. Er kämpft einen Krieg zum Teufel noch mal und kann sich nicht mit nicht-militärischen Betrachtungen befassen. Solch eine, wie die Wirkung auf die öffentliche Meinung der Welt. Und besonders nach dem Holocaust.
Was der General denkt, denkt Israel.
Israel ist keine militärische Diktatur.
General a-Sisi mag Netanjahus bester Freund sein, aber Netanjahu ist kein General. Israel macht gerne Geschäfte, besonders mit Waffen mit militärischen Diktatoren rund um die Welt, aber in Israel selbst gehorcht das Militär der gewählten zivilen Regierung. Stimmt, aber …
Aber der Staat Israel wurde in der Mitte eines hart erkämpften Krieges, dessen Ausgang in diesem Augenblick keineswegs sicher war, geboren. Die Armee war damals und ist auch jetzt die Mitte des israelischen Nationallebens. Es könnte gesagt werden, dass die Armee das einzig wahre vereinigende Element der israelischen Gesellschaft ist. Es ist das, wo Männer und Frauen, Ashkenasi und Orientalen, Religiöse und Säkulare (außer den Orthodoxen), Reiche und Arme, Old-Timer und neue Immigranten sich treffen und vom selben Geist indoktriniert sind.
Die meisten jüdischen Israelis sind früher Soldaten gewesen: Die meisten Offiziere, die die Armee mit etwa 45 verlassen, verteilen sich auf die Verwaltungs-, die wirtschaftliche, politische und akademische Elite. Das Ergebnis ist, dass die militärische Gesinnung in Israel vorherrscht.
Dieses So- Sein macht die Israelis ganz unfähig, den Wandel der öffentlichen Meinung der Welt zu verstehen. Was wollen sie von uns, diese Schweden, Briten und Japaner? Glauben sie denn, dass es uns Spaß macht, Kinder zu töten und Häuser zu zerstören? (Golda Meir erklärte einmal: „Wir können den Arabern vergeben, wenn sie unsere Kinder töten, aber wir werden ihnen nie vergeben, dass sie uns zwingen, ihre Kinder zu töten“.)
DIE GRÜNDER Israels waren sich sehr der öffentlichen Meinung der Welt bewusst. David Ben Gurion erklärte zwar einmal, dass „es unwichtig sei, was die Gojim sagen, wichtig sei, was die Juden tun!“ Aber im wirklichen Leben war sich Ben-Gurion sehr von der Notwendigkeit bewusst, die Weltmeinung zu gewinnen. So war sein Gegner, der rechte Zionistenführer Vladimir Jabotinsky, der einmal Menachem Begin sagte, dass, wenn er am Gewissen der Welt verzweifele, er in die Weichsel springen sollte“:
Die öffentliche Meinung der Welt ist wichtig, ja noch mehr – sie ist entscheidend. Die Resolution des britischen Parlaments mag nicht verbindlich sein, aber sie drückt die öffentliche Meinung aus, die früher oder später das Handeln der Regierung in Bezug auf Waffenverkauf entscheidet. Die Resolutionen des Sicherheitsrats, EU-Entscheidungen und was sonst noch alles entscheidet. Wie Thomas Jefferson sagte: „Wenn das Volk die Führung hat, dann werden schließlich die Führer folgen.“
Derselbe Jefferson gab den Rat: „anständigen Respekt vor der Meinung der Menschheit zu haben.“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)