Das Ende der Mythen: Das Israel-Bild der meisten Deutschen entspricht nicht der historischen und politischen Realität

Nahostpolitik

Was deutsche Politiker den Israelis und den Freunden dieses Staates auf dem 3. Israelkongress in Berlin ins Stammbuch schreiben sollten

Von Arn Strohmeyer, 29./30.10.2013

Petra Wild beschreibt in ihrem Buch „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“ das Israel-Bild, das die meisten Deutschen haben und das ihrer Meinung nach vor allem aus Desinformationen und Manipulation besteht. Danach ist Israel der Staat der Überlebenden des Holocaust. Außerdem ist Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten. Es ist ein bedrohter und belagerter Staat in einer feindlichen und zivilisatorisch rückständigen Region. Die Araber und Muslime lehnen Israel ab, weil der Islam eine repressive und barbarische Religion ist und/oder die arabische Kultur in vormodernen Strukturen gefangen ist. Israel strebt seit seiner Gründung permanent nach Frieden, aber die Palästinenser, Araber und Iraner wollen Israel vernichten. Israels Kriege dienen immer nur der Selbstverteidigung und dieses Recht betrachtet es als sakrosankt genauso wie seinen Anspruch, ein jüdischer Staat sein zu wollen. Soweit Petra Wild.

Sie nennt solche Aussagen propagandistische Versatzstücke, die die Reaktionsmuster der deutschen Öffentlichkeit prägen, die sich oftmals in eingeübten Reflexen auf gegebene Reize erschöpfen. Man kann hier auch von Mythen sprechen, denn die spielen in der israelischen Politik, in der Propaganda und in der israelischen Geschichtsschreibung eine sehr große Rolle. Die Verbreitung von Mythen und Propaganda wird auch den 3. Israelkongress am 10. November in Berlin prägen. Es ist höchste Zeit, diese Mythen und Legenden zu entmythologisieren (was in Israel selbst von kritischen Geistern schon längst geschehen ist) und das Israel-Bild der Deutschen der politischen und historischen Realität anzupassen. Hier sollen zwei Fragen im Vordergrund stehen: Wie weit entspricht das israelische Geschichtsnarrativ der historischen Realität und ist Israel wirklich ein friedliebender Staat, der den Frieden will? Und muss es sich nur gegen seine aggressiven und feindlichen Nachbarn wehren und verteidigen? Beide Fragen hängen eng zusammen.

Die Krise, in der sich der Staat Israel befindet, ist nicht zu übersehen. Die israelische Politik der Besatzung und des Landraubs ist schon lange in der Kritik, aber die Zahl der Kritiker mehrt sich, die sagen: Diese Politik gefährdet  inzwischen die Existenz Israels und obendrein den Weltfrieden. Amerikanische Geheimdienste haben unter der Federführung des CIA im Auftrag der amerikanischen Regierung eine Studie über die Zukunftsaussichten Israels erstellt und kamen dabei zu dem Ergebnis: Wenn Israel diese Politik fortsetzt, wird es diesen Staat in 20 Jahren nicht mehr geben. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger – ein Jude und großer Freund Israels – widersprach heftig: Er gäbe Israel keine 10 Jahre mehr. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv stellte fest, dass die materielle wie ideologische Selbsteinmauerung Israels mit dem Gefühl vieler Israelis korrespondiere, dass sie sich ihrer Zukunft nicht mehr sicher sein dürften – nicht wegen einer Bedrohung von Seiten des Iran, sondern „weil jeder Israeli letztlich weiß oder zumindest ahnt, dass Israel ohne Frieden in der Region kaum wird überleben und weiter existieren können.“

Der israelische Historiker Gershom Gorenberg hat gerade ein Buch herausgebracht, das auch in Deutschland erschienen ist. Es hat den Titel: „Israel schafft sich ab“. Ich denke, dieser Titel sagt alles. Peter Beinhart, ein orthodoxer Jude aus New York, hat ein Buch mit dem Titel geschrieben: „Die amerikanischen Juden und Israel. Was falsch läuft.“ Darin heißt es wörtlich: „Es besteht die bedrückende Aussicht für die amerikanischen Juden (es sind ungefähr sechs Millionen), dass der jüdische Staat noch zu unseren Lebzeiten sterben kann. Es ist fünf vor zwölf“. Für ihn steht fest: Wenn das organisierte amerikanische Judentum Benjamin Netanjahus Politik weiter unterstützt, wovon er ausgeht, wird es zum Totengräber der israelischen Demokratie werden. Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Yoram Kaniuk hat in einem kleinen Text seinen „letzten Willen“ niedergeschrieben. Was Israels Zukunft angeht, war er völlig mutlos und pessimistisch. „Ich verabschiede mich von Israel, denn es existiert nicht mehr… Unser kleiner Staat wird verschwinden … Wir werden zu Grunde gehen mit wenig Würde und mit gebrochenen Flügeln.“ Drei Sätze aus dem letzten Text Kaniuks, die keines Kommentars bedürfen, sie sprechen für sich.

Man könnte noch weitere solche Zitate präsentieren, die alle von Israelis oder Freunden dieses Staates stammen, also nicht von Gegnern oder Feinden dieses Staates. Das Paradoxe dabei ist, wer die Lage Israels realistisch sieht und eine solche Kritik offen ausspricht, sich dabei obendrein auf die Menschenrechte und das Völkerrecht beruft, wird (wenn er Jude ist) als „selbsthassender Jude“ oder (wenn er das nicht ist) als „Antisemit“ denunziert. Die Freunde und Anhänger Israels billigen oder rechtfertigen alles, was dieser Staat tut und erweisen ihm damit einen Bärendienst. Sie bringen ihn damit noch mehr in Gefahr – eine wahrlich perverse Situation!

Die derzeitige Situation im Nahen Osten ist bekannt, sie soll hier aber kurz skizziert werden. Seit dem Krieg von 1967 hält Israel das Westjordanland und die Golanhöhen besetzt und indirekt auch den Gazastreifen, den das israelische Militär vom Land, vom Meer und von der Luft her vollständig abgeriegelt hat und weiter kontrolliert, obwohl zur Zeit keine israelischen Truppen in diesem Gebiet stationiert sind. Dass diese Besatzungspolitik mit äußerster Brutalität und unter totaler Verletzung des Völkerrechts durchgeführt wird, ist kein Geheimnis. Israel selbst hat sich mit dieser Politik nun aber in eine so gut wie ausweglose Lage manövriert. Es gibt offenbar keinen Ausgang mehr aus dem Dilemma. Ursprünglich war die Zweistaatenlösung ins Auge gefasst worden, was bedeutet hätte, dass die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen ihren Staat hätten gründen können. Das wäre zwar eine sehr ungerechte Lösung gewesen, denn die Palästinenser hätten so nur noch 22 Prozent ihres ursprünglichen Gebietes für sich bekommen, die Israelis dagegen 78 Prozent, wovon sie sich das Meiste mit Gewalt genommen haben. Die Palästinenser hatten einer solchen Lösung aber zugestimmt.

Inzwischen ist diese Lösung aber nicht mehr möglich, weil die Israelis das Westjordanland mit dem Bau der Mauer und mit einem dichten Netz von strategisch angelegten Siedlungen und Straßen überzogen haben, die inzwischen über 40 Prozent des Westjordanlandes ausmachen. Außerdem haben sie die Palästinenser in viele kleine Enklaven eingeschlossen, sodass diese sich auf ihrem eigenen Gebiet nicht mehr frei bewegen können, was natürlich auch jede wirtschaftliche Entwicklung verhindert. Und: Die Israelis haben das Westjordanland durch ihre Besiedlung in drei Teile geteilt. Die Schaffung eines zusammenhängenden palästinensischer Staates ist also nicht mehr möglich, zumal Israel diese Gebiete längst als zu seinem Staat zugehörig beansprucht.

Bleibt die Ein-Staatenlösung. Das heißt: Man schafft einen Staat, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt und mit gleichen Rechten zusammen leben können. Dieser Staat kann auch bi-nationalen Charakter haben, d.h. beide Kollektive müssen in ihm auch ihren nationalen Charakter ausdrücken können. Das widerspräche aber vollständig dem Ziel der Zionisten: einen exklusiven jüdischen Staat zu schaffen, in dem die Juden die eindeutige Mehrheit haben und es möglichst wenige Palästinenser gibt. Die Ein-Staatenlösung wäre – das lässt sich mit Sicherheit sagen – das Ende des Zionismus und das Ende Israels. Der ehemalige israelische Regierungschef Ehud Olmert hat das einmal so formuliert: „Wenn der Tag kommt, an dem die Zwei-Staatenlösung zusammenbricht, steht uns ein Kampf um gleiches Wahlrecht (also auch für die Palästinenser in den besetzten Gebieten) nach südafrikanischem Vorbild bevor. Wenn das passiert, ist es aus mit Israel.“

Das ist in aller Kürze beschrieben die Situation Israels. Wie ist es zu dieser aussichtslosen Lage gekommen? Um sie zu verstehen, muss man die Geschichte Palästinas und des Zionismus heranziehen. Ohne Kenntnis dieser Geschichte kann man den Nahost-Konflikt nicht verstehen. Die heutige gefährliche Situation war lange vorhersehbar. Israel als die absolut stärkere der beiden Seiten hätte sie durch eine kluge und vorausschauende Politik abwenden können, wenn es nur gewollt hätte. Aber Israel wollte nie den Frieden bzw. wenn doch, dann nur zu seinen Bedingungen. Der Besitz des ganzen Landes (und zwar ohne Palästinenser) war immer das Ziel der Zionisten. Dass das nur mit Gewalt zu realisieren war, versteht sich von selbst.

Dies alles sind keine willkürlichen Behauptungen, sie sind inzwischen historisch bestens belegt. In Israel gibt es eine neue Generation von Historikern, die sogenannten „neuen Historiker“. Ihre Arbeit wird durch zwei Fakten begünstigt: 1. hat Israel nach vielen Jahren Dokumente in den Archiven freigegeben, noch nicht alle, aber immerhin sehr wichtige, die diese Historiker nutzen können. 2. haben diese Historiker keine Scheu, die zionistische Staatsideologie in Frage zu stellen. Denn man darf nicht vergessen: Israel ist ein Weltanschauungsstaat mit einer Staatsideologie – eben dem Zionismus. Man kann ihn so definieren: Er ist ein Siedlerkolonialismus, der sich als jüdischer Nationalismus versteht, und im Kern das Ziel hat, sich das palästinensische Land anzueignen, was aber nur mit Vertreibung, Enteignung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung möglich ist. Ziel des Zionismus ist also die Errichtung eines exklusiv jüdischen Staates. Warum ist nun die Erforschung der wirklichen Geschichte Israels und des Zionismus – über den oben genannten Grund hinaus – für das Verständnis der gegenwärtige Politik so wichtig?

Ein Israeli – der Historiker Simcha Flapan – hat darauf folgende Antwort gegeben: „Es geht darum, die propagandistischen Denkstrukturen aufzulösen, die so lange verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte des Friedens an Boden gewinnen konnten. Die Aufgabe, die den Intellektuellen und den Freunden beider Völker zufällt, besteht nicht darin, Ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen des Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu tauchen, in der Hoffnung, dass man es auf diese Weise schafft, die Verzerrungen und Lügen, die mittlerweile zu sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu schaffen.“ Und warnend fügt er hinzu: „Wenn die Klischees und falschen Mythen ihren Platz im Denken behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich.“

Genauso sieht es der israelische Historiker Ilan Pappe (einer der wichtigsten Vertreter der „neuen Historiker“). Er schreibt, dass die Zerstörung der Mythen und die Vermittlung der wahren Zusammenhänge nicht nur eine professionelle Aufgabe für die Historiker, sondern eine moralische Pflicht sei, die man erfüllen müsse, wenn man wolle, dass die Versöhnung jemals eine Chance haben und Frieden im Nahen Osten Fuß fassen soll.

Darum geht es also: die Darstellung der jüdischen Geschichte, wie die Zionisten sie sich ausgedacht haben zu dekuvrieren und zu dekonstruieren, also zu entmythologisieren. An führender Stelle hat das der israelische Historiker Shlomo Sand getan, der von der „Erfindung“ des jüdischen Narrativs durch die Zionisten spricht. Denn dieses besteht zum großen Teil aus Mythen. Und Mythen sind künstliche Erfindungen von Menschen – Konstrukte, die zu ganz bestimmten Zwecken, hier politischen Zwecken, instrumentalisiert werden. Was Simcha Flapan und Ilan Pappe sagen wollen, ist aber: Wenn wir keine Klarheit über die wirklichen Geschehnisse haben (also über das, was wirklich passiert ist), kann es keinen Frieden zwischen den gegnerischen Seiten geben.

Was die „neuen“ israelischen Historiker über die Geschichte Israels herausbekommen haben, ist für diesen Staat wenig schmeichelhaft. Sie belegen: Die offizielle zionistische Geschichtsschreibung ist in großen Teilen falsch und muss korrigiert werden. Das bedeutet aber auch, dass auch die Deutschen ihr Israel-Bild grundlegend überdenken müssen.

Was sind nun die wichtigsten Mythen der zionistischen Geschichtsschreibung? Zunächst muss aber die Frage geklärt werden, was man im Zionismus unter Mythen versteht. Kaum ein anderes Land in der Welt lebt so von Mythen wie Israel, ja man kann sagen, dass die zionistische Staatsideologie zum großen Teil aus Mythen besteht. Mythen kommt dabei die Funktion zu, die Gesellschaft oder die Nation als Bindeglied zusammenzuhalten. Das gilt natürlich nicht nur für Israel, aber für diesen Staat ganz besonders. Die entscheidende Frage dabei ist: Wie ist das Verhältnis von Mythen zur historischen Wahrheit?

Der Zionistenführer und erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, ging so weit zu behaupten, dass starker Glaube an den Mythos ihn in Wahrheit verwandle oder zumindest in so gut wie eine Wahrheit. Sein enger Berater Jitzhar verstieg sich sogar zu der Behauptung: „Ein Mythos ist nicht weniger wahr als Geschichte, er ist eine zusätzliche Wahrheit, eine andere Wahrheit, die neben der Wahrheit besteht; eine nicht objektive menschliche Wahrheit, und doch eine Wahrheit, die zur historischen Wahrheit wird.“ Diese Sätze sind insofern „wahr“, als Menschen durchaus bei der gewaltsamen Durchsetzung von Zielen von Mythen motiviert sein können und sich dabei auf Mythen stützen – und eben dadurch historische Tatsachen schaffen. Mythos und historische Wahrheit gehen also ineinander über, sind letztlich in dieser zionistischen Sichtweise ein und dasselbe.

Warum, muss man aus deutscher Sicht fragen, sind Israels Mythen von Interesse – seien sie für das Land selbst auch noch so wichtig? Erstens sind sie immer noch äußerst wirkmächtig und bestimmen Israels Politik. Ohne Kenntnis dieser Mythen kann man Israels Politik gar nicht verstehen. Zweitens haben gerade Deutsche sie offenbar aus alter Anhänglichkeit an die biblischen Erzählungen, aus historischem Schuldgefühl gegenüber den Juden veheraus und eingeprägt durch die sehr effektive israelische Propaganda sehr tief verinnerlicht. Es gibt keine Diskussion über den Nahost-Konflikt, ohne dass diese Mythen als Realitäten angeführt werden, obwohl sie gerade von israelischen Historikern längst entmythologisiert und widerlegt worden sind, was in Deutschland zumeist aber gar nicht zur Kenntnis genommen wird. In Deutschland wird einem bei Diskussionen über den Nahost-Konflikt oft immer noch das Argument entgegen gehalten: Aber man darf doch Israel nicht kritisieren, das ist doch das Volk Gottes!

Es seien hier einige der wichtigsten Mythen aufgezählt, auf die sich der Zionismus beruft:

1. Da ist zunächst die Überreichung der zehn Gebote durch Gott an die Israeliten, die aus Ägypten kamen. Dies wird als Uranfang der jüdischen Nation gedeutet, weil Gott später den Juden im Bund mit Gott Abraham das Land Kanaan versprochen hat. Das alles ist natürlich reiner Mythos, selbst der Auszug der Juden aus Ägypten wird von Früh- und Vorgeschichtlern und Archäologen inzwischen als Legende angesehen.

2. Mythisch ist auch die Existenz eines jüdischen Großreiches unter den Königen David und Salomon, wie sie im Alten Testament beschrieben wird. Auf ein solches Königreich berufen sich aber die Zionisten in ihren Ansprüchen auf ein Groß-Israel. Die israelischen Archäologen Silbermann, Finkelstein und Herzog geben an, dass man nicht die geringste Spur von Überresten dieses Königreiches gefunden hat, obwohl da im Alten Testament von großen Palästen und dergleichen die Rede ist.

3. Auch die Behauptung, dass die Juden einen gemeinsamen Ursprung in Palästina (oder wie die Zionisten sagen im „Lande Israel“ hatten), ist ein Mythos. Die Juden haben genauso wie andere Religionen lange Zeit bekehrt und missioniert – genau gesagt bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde und den Juden das Bekehren untersagte. Die wenigsten Juden auf der Welt stammen also aus dem sognannten Heiligen Land, sondern sind durch Bekehrung und Konversion zum Judentum gekommen, zum Beispiel die äthiopischen Juden, es gab auch jüdische Reiche in Nordafrika und im Jemen. In Südrussland gab es um 1000 n. Chr. das große Reich der Chasaren. Seine Herrscher waren zum Judentum übergetreten und missionierten dann das Volk. Der israelische Historiker Shlomo Sand hat nachgewiesen, dass die meisten osteuropäischen Juden von den Chasaren abstammen, also nichts mit dem sogenannten Heiligen Land zu tun haben.

4. Ein Mythos ist es auch, dass die Römer 70 n. Chr. nach der Zerstörung des Tempels die Juden in alle Welt vertrieben hätten. So seien das jüdische Exil und die jüdische Diaspora entstanden, aus der die Juden nach fast 2000 Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt seien. Vertreibung und Exil sind reine Mythen, weil die Römer nie Völker vertrieben haben. Sie wollten ja die von ihnen beherrschten Völker für sich arbeiten lassen, um sie ausbeuten und Steuern kassieren zu können. Eine Vertreibung lässt sich historisch nirgendwo nachweisen. Im Jahr 130 n. Chr. gab es in Palästina den nächsten jüdischen Aufstand gegen die Römer. Wer hätte ihn durchführen sollen, wenn die Juden zuvor vertrieben worden wären?

5. Ein Mythos ist auch, dass die Juden im Exil stets unter Verfolgung und Gewalt gelitten hätten. Es hat lange Perioden in der Geschichte gegeben – gerade auch in der Koexistenz mit dem Islam, aber auch in Europa, in denen die Juden friedlich und unbehelligt unter den Völkern gelebt haben.

6. Mythisch ist auch die Behauptung, Palästina wäre zu Beginn der zionistischen Besiedlung leer gewesen. Es war ein voll besiedeltes Land und jeder Quadratmeter Boden war vergeben. Es gibt hunderte von Reisebeschreibungen aus früheren Jahrhunderten, die das belegen.

Alle diese Mythen sind aber für den Zionismus von großer Bedeutung, weil sie die Funktion haben, den Anspruch auf das Land zu begründen. Denn wie sollten die Zionisten sonst legitimieren, dass sie mit ihrem Siedlerkolonialismus ein Recht hatten und haben, dieses Land in Besitz zu nehmen? Wenn man aber ein dicht besiedeltes Land okkupiert, um dort einen Staat zu gründen, dann ist die Gewalt vorprogrammiert. Die Vertreibung der Palästinenser stand von Anfang an auf der zionistischen Agenda. Sie wurde auch keineswegs geleugnet.

So schrieb schon der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, in seinem Tagebuch: „Die Zionisten müssen sich zunächst in zureichender Weise den Grundbesitz der arabischen Bevölkerung verschaffen. Die Einheimischen – insbesondere die Armen – sollen unbemerkt über die Grenze in Nachbarländer transportiert werden, nachdem sie vorgängig die gröbste Kolonisierungsarbeit im Judenstaat geleistet haben. Den Arabern darf im Judenstaat keine Arbeit gegeben werden; auch ist es der eingeborenen Bevölkerung untersagt, von Juden erworbenes Land zu kaufen.“ Auch über die geographische Ausdehnung des Judenstaates hatte sich Herzl schon Gedanken gemacht. Er sollte die Sinai-Halbinsel einschließen und neben Palästina auch große Teile Syriens umfassen und bis an die Ostgrenze des heutigen Jordanien reichen. Es gibt unzählige andere Zitate von Zionisten-Führern, die die Vertreibung der Palästinenser auch verteidigen und rechtfertigen.

Damit ist das Thema Krieg, Gewalt und Vertreibung angesprochen, die ja bis heute weiter gehen. Auch hier spielen Mythen eine große Rolle. Die zionistische Besiedlung begann um 1880. Die Zionisten begannen in dieser Zeit, vorstaatliche Strukturen in Palästina aufzubauen und dafür zu sorgen, dass immer mehr jüdische Einwanderer ins Land kamen, um so die demographische Mehrheit zu bekommen. Ab 1918 hatten die Briten vom Völkerbund, der Vorgängerin der UNO, das Mandat über Palästina bekommen, sie regierten das Land in enger Zusammenarbeit mit den Zionisten. Die Ureinwohner des Landes, die Palästinenser, wurden dabei immer mehr an die Seite gedrängt. Es kam in den Jahren 1936- 39 zu Aufständen der Palästinenser, die aber von Briten und Zionisten gemeinsam blutig niedergeschlagen wurden. Ab dem Beginn der 40er Jahre fühlten sich die Zionisten stark genug, um ihre inzwischen aufgebaute Armee (die Hagana) und Terrorgruppen wie die Irgun und die Stern-Gruppe gegen die Briten und die Araber vorgehen zu lassen. Die Situation spitzte sich immer mehr zu.

Da die Briten sich aus Palästina zurückziehen wollten, nahm sich die UNO des Konflikts an. Am 27. November 1947 fand die Abstimmung in der Generalversammlung in New York statt. Sie entschied sich mit 33 gegen 13 Stimmen bei zehn Enthaltungen für die Teilung Palästinas in einen jüdischen und in einen arabischen Staat (Resolution 181). Das Abstimmungsergebnis war für die Palästinenser höchst ungerecht: Obwohl sie zwei Drittel der Bevölkerung stellten, bekamen sie nur 42,8 Prozent des Landes zugesprochen; die Zionisten, die nur ein Drittel der Bevölkerung stellten, erhielten 56,47 Prozent, dazu noch die besseren, d.h. fruchtbareren Teile. Der Rest von 0,7 Prozent war der internationalen Zone von Jerusalem vorbehalten. Die Araber und die Palästinenser lehnten diese Lösung verständlicherweise ab.

Der israelisch-zionistische Mythos besagt nun, dass die Zionisten die Teilungsresolution bedingungslos anerkannt, ihre Vision von einem sich über ganz Palästina erstreckenden Staat aufgegeben und den Anspruch der Palästinenser auf einen eigenen Staat anerkannt hätten. In Wirklichkeit stimmten die Zionisten dem Teilungsbeschluss nur aus taktischen Gründen zu, ihr Ziel blieb weiter ein Groß-Israel, der Teilungsbeschluss war nur eine Zwischenstation für sie. Einen Palästinenser-Staat lehnten die Zionisten weiterhin ab und versuchten seine Schaffung mit allen Mitteln zu verhindern. Zitate der Zionisten-Führer belegen das sehr anschaulich. In zynischer Weise hatten einige Zionisten sogar Verständnis für die bedrohten Palästinenser. So schrieb der revisionistische Zionistenführer Wladimir Ze’ev Jabotinsky (1880 – 1940): „Hat man je ein Volk gesehen, das sein eigenes Land freiwillig hergibt? Desgleichen werden die Araber Palästinas auf ihre Souveränität nicht ohne Gewalt verzichten.

Ben Gurion sagte es später (1976) genauso deutlich, aber nicht weniger zynisch: „Warum sollten die Araber Frieden schließen? Wäre ich ein arabischer Führer, würde ich niemals mit Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich: Wir haben deren Land genommen. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was geht die das an? Unser Gott ist nicht deren Gott. Wir stammen aus Israel, aber das ist 2000 Jahre her und was interessiert die das? Es gab Antisemitismus, die Nazis, Auschwitz, aber war das deren Schuld? Das einzige, was die sehen, ist: Wir kamen her und stahlen ihr Land: Warum sollten die das akzeptieren?“

Wie realistisch die Zionisten die Situation der palästinensischen Bevölkerung sahen, belegt auch dieses Zitat Ben Gurions, das aus dem Aufstandsjahr 1938 stammt: „Wir reden bei unserer politischen Argumentation im Ausland den arabischen Widerstand klein, doch müssen wir unter uns der Wahrheit ins Auge blicken. Wir sind die Aggressoren, während sie sich selbst verteidigen. (…) Das Land gehört ihnen, weil sie es bewohnten, während wir ankommen und uns hier niederlassen, und aus ihrer Perspektive wollen wir ihnen ihr Land wegnehmen, noch bevor wir richtig angekommen sind. [Der Aufstand] ist aktiver Widerstand seitens der Palästinenser gegen das, was sie als Usurpierung ihrer Heimat durch die Juden betrachten. (…) Hinter dem Terrorismus steht eine Bewegung, die zwar primitiv, aber von Idealismus und Selbstaufopferung geprägt ist.“ Eine gute Wahrnehmung der Realität und eine verblüffende Ehrlichkeit kann man den zionistischen Politikern nicht absprechen. Zur „Umsiedlung“ der Palästinenser – ein Synonym für Vertreibung – haben sie sich aber immer bekannt. Heute umschreibt man diese Absicht oder diesen Tatbestand etwas vornehmer mit dem Begriff „Transit“.

Der nächste Mythos behauptet, dass die Palästinenser nach 1947 dem Aufruf des Muftis von Jerusalem gefolgt seien, den Zionisten den totalen Krieg zu erklären. Dies hätte die Juden gezwungen, sich auf eine militärische Lösung einzulassen. Abgesehen davon, dass die Palästinenser überhaupt nicht über militärische Kräfte von Bedeutung verfügten, sind sie auch keineswegs den Aufrufen des Mufti zum totalen Krieg gefolgt. Es gibt hierzu auch eine bezeichnende Äußerung von Ben Gurion aus dieser Zeit: „Es steht jetzt ohne den geringsten Zweifel fest, dass wenn wir es einzig und allein mit den Palästinensern zu tun hätten, alles in Ordnung wäre. Die überwältigende Mehrheit von ihnen will nicht gegen uns kämpfen, und in ihrer Gesamtheit sind sie auch gar nicht in der Lage, es mit uns aufzunehmen.“

Die Palästinenser hatten langsam eingesehen, dass sie sich mit der Teilung abfinden mussten. Von einem „heiligen Krieg“ gegen die Juden wollten sie nichts wissen. Der israelische Historiker Simcha Flapan schreibt: „Die Beweise dafür sind so überwältigend, dass sich die Frage stellt, wie der Mythos von einem heiligen Krieg der Palästinenser gegen die Juden überhaupt entstehen und sich so lange halten konnte.“

Zwei Daten sind in diesem Zusammenhang wichtig: Am 27. November 1947 erfolgte der Teilungsbeschluss der UNO, am 15. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel. Damit sind wir bei einem weiteren Mythos. Er lautet: Die Flucht der Palästinenser aus dem Land, sowohl vor als auch nach der israelischen Staatsgründung, habe eingesetzt als Reaktion auf einen Aufruf der arabischen Führung, das Land vorübergehend zu verlassen, um dann mit den siegreichen Armeen zurückzukehren. Die Zionisten hätten die Palästinenser sogar zum Bleiben veranlasst.

Auch diese Behauptungen beruhen nicht auf der historischen Wahrheit. Denn unmittelbar nach dem Teilungsbeschluss der UNO begannen die zionistischen Verbände mit den Säuberungsaktionen innerhalb des den Zionisten von der UNO zugestandenen Staatsgebietes und darüber hinaus auch auf dem den Palästinensern zugesprochenen Land. Diese Aktionen waren ein grausamer und brutaler Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, die sich so gut wie nicht wehren konnte. Die Palästinenser nennen diese ethnische Säuberung die Nakba, die Katastrophe. Mit Massakern sollten die Palästinenser in Panik versetzt und zur Flucht bewegt werden. Das berühmt-berüchtigste war das in dem Dorf Deir Jassin im April 1948 mit bis zu 200 Toten, über die Zahlen gibt es verschiedene Angaben. Der damalige Terroristenführer und spätere israelische Ministerpräsident Menachem Begin, der an dem Morden selbst teilnahm, nannte dieses Massaker einen „großen Sieg“, ohne den es keinen Staat Israel geben würde. Die Bilanz dieser Säuberungen war furchtbar: 700 000 Palästinenser wurden vertrieben – die Hälfte der Bevölkerung. Über 400 ihrer Städte und Dörfer wurden zerstört, es gab tausende Tote. Außerdem hatten die Zionisten schon vor der Staatsgründung weite Gebiete des eigentlich dem palästinensischen Staat zugesprochenen Territoriums erobert und fast alle großen Städte.

An diese Ereignisse schließen sich neue zionistische Mythen an. Ich zitiere Simcha Flapan: „Alle arabischen Staaten hatten sich in ihrer Entschlossenheit, den gerade ins Leben gerufenen Jüdischen Staat zu vernichten, vereint und taten sich am 15. Mai 1948 zusammen, um in Palästina einzumarschieren und dessen jüdische Bewohner hinauszuwerfen. Der arabische Einmarsch in Palästina am 25. Mai – unter Verstoß gegen die UNO-Teilungsresolution – machte den Krieg von 1948 unausweichlich. Der winzige junge israelische Staat stand dem Angriff der arabischen Streitkräfte gegenüber wie David dem Riesen Goliath: ein zahlenmäßig weit unterlegenes, schlecht bewaffnetes Volk, das Gefahr lief, von einer übermächtigen Militärmaschine zerquetscht zu werden. Israel hat seine Hand immer zum Friedensschluss ausgestreckt, aber da kein arabischer Führer je das Existenzrecht Israels anerkannt hat, gab es nie jemanden, mit dem man Friedensgespräche hätte führen können.“

Die arabischen Armeen marschierten am 15. Mai 1948 in Palästina ein. Ihr Ziel war nicht, den jüdischen Staat zu vernichten und die Juden ins Meer zu treiben, wie die Zionisten behaupten. Sie wollten das den Palästinensern zugesprochene Land, das die Zionisten besetzt hatten, befreien. Es gibt unzählige Äußerungen von israelischen Politikern und Militärs, dass sie sich von den Arabern überhaupt nicht bedroht fühlten. Die arabischen Armeen waren nämlich äußerst schlecht ausgerüstet, besaßen veraltete Waffen und hatten schon bald Probleme mit dem Nachschub. Vor allem fehlte es an Munition. Die stärkste arabische Armee – die jordanische „Arabische Legion“ – nahm an dem Krieg gar nicht oder nur in kleinen Scharmützeln teil, weil die Zionisten mit dem jordanischen König Abdallah ein Geheim- und Stillhalteabkommen geschlossen hatten: Abdallah sollte nach dem Krieg den arabischen Teil Palästinas bekommen, wenn er die Schaffung eines palästinensischen Staates verhindern und die Gründung des jüdischen Staates unterstützen würde. Der jordanische König betrieb also ein doppeltes Spiel, indem er einerseits mit den anderen arabischen Staaten verbündet war, andererseits aber bereits den Zionisten seine Unterstützung zugesagt hatte. (Quelle: Simcha Flapan: Die Geburt Israels) Außerdem besaßen die arabischen Armeen nicht einmal ein gemeinsames Oberkommando. Alle diese Probleme hatten die Zionisten nicht: Sie waren gut ausgerüstet und hoch motiviert. Sie verfügten über modernste Waffen, die ihnen Frankreich und – auf Geheiß der Sowjetunion – die Tschechoslowakei geliefert hatten.

So verwundert es nicht, dass der junge Staat Israel diesen Krieg gewann und den arabischen Armeen eine furchtbare Niederlage zufügte. Das Ergebnis des Krieges war, dass Israel nun 78 Prozent Palästinas besaß und die Palästinenser nur noch 22 Prozent innehatten – eben das Westjordanland, das zu Jordanien gehörte, und den Gazastreifen, der von Ägypten regiert wurde.

Die große Frage war nun: Was würde Israel in Zukunft tun? Würde es auf Ausgleich mit den Arabern setzen oder auf weitere Eroberungen arabischen Landes? Es entschied sich für den zweiten Weg. Es setzte ganz auf die Kraft seiner Waffen und lehnte einen Friedensvertrag mit den Arabern ab. Das war eine wichtige Entscheidung für seine Zukunft: gegen den friedlichen Ausgleich mit seinen arabischen Nachbarn und damit gegen eine Integration des jüdischen Staates in den Nahen Osten. Von damals an bis heute setzt Israel bei seiner Sicherheit allein auf militärische Stärke und auf die Überlegenheit über seine Nachbarn, es hat keine Friedenspolitik, ist nicht bereit Kompromisse einzugehen oder Konzessionen zu machen. Der Israeli Jeff Halper schreibt: „Israel strebt die Herrschaft und Vormachtstellung an, die aber nur unilateral erreicht werden können; Verhandlungen erweisen sich damit als überflüssig und irrelevant.“

Der israelische Historiker Benny Morris, der dem politisch rechten Lager zuzuordnen ist, schreibt in seinem Buch „Righteous victims“: „Warum also sich anstrengen für einen Frieden, der mit bedeutenden territorialen Konzessionen einhergeht?“ Das ist genau die Linie, die Ben Gurion vorgegeben hatte und die bis heute gilt: „Israel wird keine Gespräche führen über einen Frieden, der mit irgendwelchen territorialen Zugeständnissen verbunden ist.“ Morris bezichtigt Ben Gurion sogar der Lüge: „Jahrzehntelang belog Ben Gurion, und ebenso taten dies nachfolgende Regierungen, die israelische Öffentlichkeit über die Friedensbemühungen nach 1948 und über das arabische Interesse an einem Übereinkommen. Die arabischen Führungspersönlichkeiten (möglichweise mit der Ausnahme von Abdallah) wurden insgesamt als eine Ansammlung von störrischen Kriegstreibern dargestellt, die auf Teufel komm raus Israels Zerstörung im Sinn haben. Die Öffnung der israelischen Archive in der jüngsten Zeit bildet ein sehr viel komplexeres Bild der Lage.“

Israels erster Außenminister und zweiter Ministerpräsident Moshe Sharett bestätigt diese Aussage, was ihn u.a. auch zum Rücktritt vom Ministerpräsidentenamt bewog. Er schreibt in seinem Tagebuch: „Ich habe gelernt, dass der israelische Staat in unserer Generation ohne Betrug und abenteuerlichen Geist nicht regiert werden kann. Dies sind historische Fakten, die nicht zu verändern sind. Es mag sein, dass die Geschichte die Betrugsstrategien bestätigen wird, genauso wie die abenteuerlichen Aktionen [er meint damit die blutigen Vergeltungsaktionen, A.Str.]. Was ich, Moshe Sharett, weiß, ist, dass ich nicht fähig bin, so zu handeln, deshalb bin ich auch nicht fähig, diesen Staat zu regieren.“ Ähnlich sieht das auch der palästinensische Autor Edward Said: „Inzwischen verfügen wir aufgrund der Archiv-Arbeit der ‚neuen [israelischen] Historiker‘ über ausreichend Material aus zionistischen Quellen, wonach die meisten Behauptungen in der offiziellen Lesart der Entstehung des Staates Israel weitgehend unwahr und im Laufe der Zeit widerlegt worden sind.“

Es lässt sich resümieren: Israel verfolgt bis heute die politischen Ziele, die es auch im Krieg von 1948 zu realisieren versucht hat: möglichst viel palästinensisches Land in Besitz zu nehmen und einen homogenen jüdischen Staat ohne Palästinenser zu schaffen. Oder mit den Worten des Israeli Ilan Pappe gesagt: „Die Ideologie, die es ermöglicht hat, 1948 die Hälfte der heimischen Bevölkerung zu vertreiben, ist nach wie vor lebendig und betreibt weiter die unerbittliche, zuweilen unmerkliche Säuberung des Landes von den Palästinensern, die heute dort leben.“

1948/49 wäre die Anerkennung Israels durch die Araber also möglich gewesen, wenn der junge Staat bei der Rückkehr der Flüchtlinge und bei den territorialen Grenzen kompromissbreit gewesen wäre. Eine solche Entwicklung wäre zum Vorteil Israels gewesen, auch wenn der Zionismus so nicht hätte weiter existieren können. Aber Israel wäre dann ein ganz normaler Staat in der Levante geworden und hätte mit dem dann entstandenen palästinensischen Staat in guter Nachbarschaft zusammen leben können. Das hätte bedeutet, dass Israel Land entsprechend dem UNO-Teilungsbeschluss hätte abgeben und Einwanderung von Juden hätte einschränken müssen. Das wäre der Preis für den Frieden gewesen. Aber Israels Politiker entschieden anders.

Israel entschied sich also klar für eine Politik, die ausschließlich auf militärische Sicherheit und weitere Eroberungen baut. Diese Politik setzt es in ungebrochener Tradition bis heute fort. Ben Gurion hatte dabei durchaus Verständnis für die Lage der Palästinenser, was aber an seiner unerbittlichen Haltung nichts änderte. 1944 schrieb er: „In der Geschichte findet sich kein Beispiel dafür, dass ein Volk sagt: ‚Wir sind einverstanden, auf unser Land zu verzichten, soll doch ein anderes Volk herkommen und sich hier niederlassen und uns an Zahl überbieten.‘“ Aber die zionistische Ideologie lässt den Ausgleich mit den Palästinensern nicht zu, sie kennt nur die Alternative: „sie“ oder „wir“.

Aber wenn Frieden und Ausgleich keine Chance haben sollen, muss eine Belagerungsmentalität erzeugt werden, um den Mythos einer arabischen Bedrohung aufrechterhalten zu können. Israel wurde folgerichtig ein Militärstaat – „eine Armee, die sich einen Staat hält“, wie ein Bonmot lautete, das aber weitgehend der Wirklichkeit entspricht. Der israelische Militäranalytiker Yigal Levy schreibt, dass Ben Gurions Konzept der Verbindung einer Nation im Aufbau mit einer Nation in Waffen die Armee zum Instrument für den Erhalt einer Sozialordnung gemacht hat, die sich auf Krieg als permanente Größe stützt.

Wörtlich schreibt Levy: „Die zentrale Stelle der Armee rührt von der zentralen Stelle des Krieges her. (…) In dem Moment aber, in dem die politische Führung sich entschied, eine ‚mobilisierte‘, disziplinierte und ungerechte Gesellschaft zu schaffen, indem sie die Armee zum ‚Architekten der Nation‘ und den Krieg zur Konstante machte, wurden die Politiker abhängig von der Armee. Es war nicht nur eine Abhängigkeit von der Armee als Organisation, sondern vom militärischen Denken. Die militärische Sichtweise politischer Wirklichkeit wurde zum Hauptangelpunkt israelischen politischen Handelns, vom Sieg Ben Gurions und seiner Verbündeten über Moshe Sharetts eher versöhnliche Politik der 1950er Jahre, zur Besatzung als alltägliche Tatsache seit den 1980ern, und zur gegenwärtigen Bevorzugung eines weiteren Krieges im Libanon gegenüber der politischen Option.“

Und Zeev Maos, auch ein bedeutender israelischer Militäranalytiker, schreibt: „Israel hat eine stark entwickelte Sicherheitsdoktrin, [aber] es hat keine Friedenspolitik. (…) Israels Geschichte vom Frieden-Machen ist von Reaktion geprägt, sie zeigt ein Muster von Zögerlichkeit, Vermeiden von Risiken, Stückwerk, das in starkem Kontrast steht zu seiner provokativen wagemutigen und schussbereiten strategischen Doktrin. (…) Im Wesentlichen ist das Militär die einzige Regierungsorganisation, die in Krisenzeiten politische Optionen bietet – typischerweise militärische Pläne. Israels Außenministerium und diplomatisches Chor sind reduziert auf die Funktion einer Werbeagentur, die erklärt, warum Israel in Krisensituationen mit Gewalt anstatt mit Diplomatie handelt.“

Hinter diesem Zwang zur Gewalt steckt, wie Moshe Sharett 1957 schrieb, Angst: „Die [militärischen] Aktivisten glauben, dass Araber nur die Sprache der Gewalt verstehen. (…) Der Staat Israel muss von Zeit zu Zeit klar beweisen, dass er stark ist und bereit Gewalt anzuwenden, zerstörerisch und äußerst wirkungsvoll. Wenn er das nicht beweist, wird er verschluckt und vielleicht ganz vom Angesicht der Erde verschwinden. Was den Frieden anbelangt – , so besagt diese Auffassung, ist er auf jeden Fall zweifelhaft, auf jeden Fall weit entfernt. Wenn der Frieden kommt, dann kommt er nur, wenn die Araber überzeugt sind, dass dieses Land unschlagbar ist.“

In einer solchen Auffassung von Sicherheit haben Kompromisse, Zugeständnisse und Jahre lange Verhandlungen, um zum Frieden zu kommen, keinen Platz. Sicherheit ist nur militärisch denkbar und kann nur militärisch garantiert werden, was wirklichen Frieden, der die Belange beider Seiten in gerechter Weise berücksichtigt, natürlich ausschließt. Einen solchen Frieden will Israel auch gar nicht, es begnügt sich mit dem Zustand des Nicht-Konflikts (Status quo), den es sich auf Grund seiner militärischen Stärke leisten kann. Israel schließt Frieden nur mit Staaten, die seine Expansionsagenda anerkennen. Ben Gurion hatte immer gesagt, dass die Araber auch dann noch Frieden wollten, wenn Israel seine Wünsche das Land betreffend erfüllt habe. Warum also sollte Israel Kompromisse eingehen wollen? fragt da der Israeli Jeff Halper.

Dazu kommen die Verachtung und der Hass auf die Palästinenser, die sich aus dem israelischen Narrativ ergeben: Das Land gehört ausschließlich den Juden. Palästinenser werden bestenfalls geduldet. Sie werden zu den „neuen Nazis“erklärt. Ein Recht, in Palästina zu leben, haben sie nicht. Der Kern des Konflikts ist danach ja der unversöhnliche Hass der Palästinenser auf die Juden und deshalb sind sie deren ewige Feinde. Weil das so ist, kann es für den Konflikt keine Lösung geben, so das israelische Narrativ.

2002 hat die arabische Liga im Auftrag aller arabischen Staaten Israel ein Friedensangebot unterbreitet: Wenn Israel zustimmen würde, dass im Westjordanland und in Gazastreifen ein palästinensischer Staat errichtet würde, wären die Araber bereit, Israel anzuerkennen und in die nahöstliche Gemeinschaft aufzunehmen. Das arabische Angebot fand bei den politisch Verantwortlichen in Israel keinerlei Beachtung. Der damalige Regierungschef Ariel Scharon machte sich sogar voller Verachtung darüber lustig. 

Eine Politik, die ganz auf militärische, Überlegenheit, absolute Sicherheit und Expansion setzt, birgt aber große Gefahren. Denn klar ist: Die Atommacht Israel wird nicht von außen bedroht. Wer sollte sie militärisch bedrohen? Vor einiger Zeit hat der Historiker Herfried Münkler einen Essay zum Thema „Sicherheit und Risiko“ geschrieben. Anlass zu diesem Text war die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima, er hatte also mit dem Nahen Osten zunächst nichts zu tun. Und doch treffen Münklers Erkenntnisse fast in jedem Satz auch auf die gefährliche Krise zu, in der Israel sich zur Zeit befindet, obwohl er diesen Staat nicht mit einem Wort erwähnt. Münkler versucht mit Blick auf die Gefahren der Kernkraft auszuloten, wo die „Mitte“ zwischen Sicherheit und Risiko zu suchen ist und wie weit moderne Gesellschaften nicht mehr bereit sind, ihren technisch-naturwissenschaftlich orientierten Eliten dieses Risiko zu überlassen, ja es ihnen aus der Hand nehmen, weil die Folgen von Atomkatastrophen für die Gesellschaft nicht mehr kalkulierbar sind.

Daran anknüpfend stellt Münkler einige Überlegungen an, die moderne Gesellschaften und ihre Politik ganz allgemein betreffen. Sie können – so schreibt er – nicht nur an übergroßen Gefahren und an einem Zuviel an Risikobereitschaft scheitern, sondern ebenso an einem Übermaß an Sicherheit. Als Paradebeispiel für ein solches Scheitern nennt er den Zusammenbruch der kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas 1989. Sie seien kollabiert, weil sie vor lauter Sicherheitsapparatur und Sicherungsversprechen jegliche Flexibilität und Reaktionsfähigkeiten eingebüßt hätten. Das Innere dieser Gesellschaften sei vom Übergewicht der Sicherheitseinrichtungen regelrecht erdrückt worden. Sicherheit, so gesehen, sei nicht nur eine Abwehr von Gefahren, sondern könne sich auch als ein Dispens von Lernen (als Verweigerung von neuen Erfahrungen) darstellen, was schließlich zur Immobilität und Erstarrung führe. Die realen wie imaginierten Panzerungen seien hier so groß, dass jede Sensibilität für Veränderung verschwinde. Auch ein solcher Zustand könne in Katastrophen enden, seltener in plötzlichen wie in schleichenden.

Münkler resümiert: „Übermäßiges Sicherheitsbedürfnis lässt Gesellschaften beschleunigt altern. Sie verlieren den Anschluss an die Entwicklung. Risikobereitschaft ist immer auch eine Art gesellschaftlicher Jungbrunnen; eine Form der Erneuerung, bei der alte durch neue Eliten abgelöst werden oder neue Köpfe in ihre Reihen aufgenommen werden müssen, um sich behaupten zu können. (…) In modernen Gesellschaften darf sich die Risikobereitschaft nicht auf die Außengrenzen beschränken, sondern muss auch im Innern von Politik und Gesellschaft anzutreffen sein. Ein hypertrophes Sicherheitsbedürfnis verhindert das. Es fordert ‚Keine Experimente!‘ und erweckt den Eindruck, es könne alles so bleiben, wie es gegenwärtig ist. Sicherheit im Übermaß lähmt!“

Münkler hat mit seinen Anmerkungen eine Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen beschrieben, aber auch sehr exakt den Zustand, in dem sich Israel zur Zeit befindet. Das Sicherheitsbedürfnis ist in diesem Staat auf Grund von realen oder suggerierten Ängsten so groß, dass es alle Lebensbereiche überlagert, man kann auch sagen: erstickt. Und das ohne reale äußere Bedrohung. Denn die Araber sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt: sich aus den Fesseln ihrer autoritären oder despotischen Herrschaft zu befreien und zu neuen Ufern aufzubrechen. Zudem sind sie wirtschaftlich und militärisch Israel weit unterlegen. Die Asymmetrie mit den Palästinensern – ein Volk ohne Land, Staat und Armee – ist so groß, dass Israel außer vielleicht einer „demographischen“ Gefahr nichts von ihnen zu befürchten hat.

Israel ist militärisch so stark, dass es, um ein populäres Bild zu gebrauchen, vor lauter Kraft nicht mehr laufen kann. An seiner aggressiven Politik nach außen und seiner vollständigen politischen und ideologischen Immobilität im Innern, seiner Wagenburgmentalität, droht es zu scheitern, nämlich innerlich zu kollabieren. Immobilität entsteht aber auch durch Schuld, gerade wenn sie verdrängt wird. Denn wie sollten keine Schuldgefühle entstehen, wenn man ein ganzes Volk vertreibt, enteignet, unterdrückt und seine Gesellschaft und Kultur zerstört – ohne je daran zu denken, Entschädigung und Wiedergutmachung zu leisten und Versöhnung anzustreben? Darüber wird aber in Israel kein Wort verloren.

Und Deutschland trägt mit seiner Politik der blinden Loyalität gegenüber Israel – Frau Merkel nennt das „Staatsräson“ – kräftig dazu bei, diesen Prozess zu beschleunigen. Die deutsche Nahost-Politik ist so gesehen kurzsichtig, ohne Perspektive und sie verstößt in jeder Beziehung gegen das internationale Recht, da sie Israel seit Jahrzehnten in seiner völkerrechtswidrigen Politik gegenüber den Palästinensern nicht nur gewähren lässt, sondern sie – vor allem durch enge wirtschaftliche Kooperation, aber auch durch Waffenlieferungen und militärische Zusammenarbeit –  unterstützt. Derselbe Vorwurf muss auch an die EU gerichtet werden. Wo kann man von gemeinsamen Werten bzw. einer Wertegemeinschaft mit Israel sprechen, solange es seine brutale Besatzungspolitik in den okkupierten Gebieten und die Politik des permanenten Landraubs palästinensischen Landes fortsetzt?

Wenn die Organisatoren des 3. Israel-Kongresses diesmal den Jüdischen Nationalfonds (JNF) als „strategischen Partner“ für ihre Veranstaltung ausgewählt haben, machen sie den Bock zum Gärtner. Denn keine andere Organisation – abgesehen von den jeweiligen israelischen Regierungen – ist so für den Raub palästinensischen Landes verantwortlich wie der JNF. Die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahen Ost e V.“ nennt die Politik dieser Organisation „illegal und rassistisch“. Bei all ihren Unternehmungen – wie jetzt gerade der „Begrünung der Negew-Wüste“ – gehe es um die Vertreibung und die ethnische Säuberung von Palästinensern. Und wenn der JNF jedes Jahr zu Spenden für Baumpflanzungen aufruft, damit Israel begrünt und bewaldet werde, dann muss daran erinnert werden, dass das israelische Militär jedes Jahre Hunderttausende, wenn nicht Millionen den Palästinensern gehörende Olivenbäume zerstört und diesen Menschen damit auch die Lebensgrundlage nimmt.

Muss für eine solche Politik, die einen gerechten Frieden im Nahen Osten in immer weitere Ferne rückt, wirklich in Berlin Propaganda gemacht werden?

Arn Strohmeyer