Fingerübung auf dem Klavier der Schuldgefühle- Wie der Philosemitismus Deutschlands Beziehung zu Israel bestimmt, beschreibt Arn Strohmeyer in seinem neuen Buch

Nahostpolitik

Von Sven Severin, 17.09.2015

Der Markt der Israel-kritischen Literatur bringt im Augenblick erstaunliche Früchte hervor. Offenbar spricht sich herum, dass eine kritische Haltung zu Israel keineswegs automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen ist. Eher gilt das Gegenteil, wie es eine Untersuchung von Prof.Wilhelm Kempf (Universität Konstanz) aus dem Jahr 2012 zutage brachte.

Allerdings gibt es auch eine weitgehend unkritische Identifikation mit Israel und den Juden, genannt „Philosemitismus“. Mit diesem Phänomen der „spiegelbildlichen Verkehrung“ von Antisemitismus zu Philosemitismus befasst sich Strohmeyer im zweiten Kapitel seines neuen Werkes. Bereits dieses Kapitel lohnt das gesamte Buch.

Denn unendlich viel wurde über Antisemitismus, Hass auf Juden, geschrieben, aber wenig über das Phänomen des Gegenteils: Philosemitismus, Verehrung von Juden. Dabei gehören beide historischen Formen der pauschalen Vorverurteilung quasi in einen Topf: So wie der Antisemitismus die in Juden vermuteten Eigenschaften stereotyp verurteilt, – nur weil es eben Juden sind -, hebt der Philosemitismus andere vermutete jüdische Eigenschaften als positive Beispiele einer humanen und ethisch hoch stehenden jüdischen Lebenspraxis ebenso stereotyp hervor. Die beiden „sich spiegelnden“ Betrachtungsweisen ersetzen die notwendigen genauen Recherchen jeweils durch Mutmaßungen. Es werden hier wie dort nichts als Vorurteile über ganz normale menschliche Wesen gestülpt.

Beide Phänomene haben aber konkrete Folgen. Die Wurzeln des Antisemitismus sind ausführlich analysiert und bekannt. Philosemitismus dagegen erblüht gerade in heutiger Zeit, fast siebzig Jahre nach der Neugründung des jüdischen Staates Israel, vor allem in Deutschland, bleibt aber weitgehend unerkannt. Das Phänomen äußert sich unter anderem in der Nichtwahrnehmung dessen, was in Israel aktuell politisch vor sich geht, z.B. die schleichende Inbesitznahme der von der UN den Palästinensern 1948 zugesprochenen Zonen durch die israelischen Streitkräfte und die Einrichtung von Wohnkomplexen und industriellen Aktivitäten in diesen neu besetzten Gebieten. Israel handelt seitdem ununterbrochen gegen bestehendes internationales Recht. Dieser Prozess wird in der Öffentlichkeit praktisch ausgeblendet. Ebenso wird der daraus entstehende Widerstand der nichtjüdischen Bevölkerung zu „grundlosem charakterbedingten arabischen Terrorismus“ erklärt. Fast alle Informationen zu diesen Vorgängen durchlaufen häufig ungehindert die Filter der demokratischen Meinungssicherungssysteme in Deutschland: Politik, Presse, Kultur.

Für diese Haltung sind, wie Arn Strohmeyer schreibt, unter anderem zwei Faktoren ursächlich bestimmend: Die mangelnde Aufarbeitung der Shoah (des Holocaust) der Deutschen (und die damit verbliebenen Schuldgefühle gegenüber den Juden) und zusätzlich der Einfluss der Israel-Lobby auf das öffentliche Umfeld. Diese Faktoren bewirken, dass sich auch die offizielle deutsche Israel-Politik kaum nachvollziehen lässt. Beispielsweise die Tatsache, dass die diversen deutschen Regierungen die Forderungen nach Waffenhilfe für Israels Aufrüstung zur Atommacht weitgehend unwidersprochen bedienten (und auch bezahlten). „Es gibt Menschen und auch Staaten, die auf dem irrationalen Schuldgefühl eines anderen virtuos wie auf einem Klavier spielen können. So tun es auch die Israelis mit den Deutschen“, zitiert Arn Strohmeyer aus einem Artikel aus der ZEIT von Ernst Tugendhat.

Hier nur eine kleine Étude dieser Klavierkunst: „Es ist eine Verzerrung von Gerechtigkeit und Logik, gab Benjamin Netanjahu im September 2015 den Medien bekannt, dass die EU-Kommission israelische Waren, die in den illegal besetzten Gebieten des Jordantals produziert wurden, für den EU-Markt nach wie vor kennzeichnen will. Es erinnere ihn an die Nazi-Zeit mit ihren Boykotten: „Kauft nicht bei Juden!“, an die Epoche der 30er Jahre, als Nazi-Politiker tausende von kleinen jüdischen Geschäfte in Deutschland verbrecherisch zerstören und ihre Besitzer in KZs umbringen ließen.

Diese Nazi-Verbrechen brauchen nur periodisch stichwortartig erwähnt zu werden, um jeden Versuch von Klärung der heutigen Israel-Analogien augenblicklich im Keim ersticken zu lassen. Eine weiterführende Definition, die diese Fälle der „Verzerrung von Gerechtigkeit und Logik“ verdeutlichen könnte, wird von Netanjahu nicht nachgereicht. Alle seine Argumente bleiben fingerfertig auf der Behauptungsebene stehen.

Den detaillierten Argumenten der vielen jüdischen Zeugen, die in Strohmeyers Buch zur Bestätigung seiner Buch-Thesen herangezogen werden, kann man kaum widersprechen: Sigmund Freud, Hannah Arendt, Erich Fromm, Alexander und Margarete Mitscherlich, Israel Shahak, Theodor W.Adorno, Edward Said, Gideon Lévy, Brian Klug, Rolf Verleger, Tamar Amar-Dahl, Petra Wild, Moshe Zuckermann, Jeff Halper, Ofer Grosbard, dem deutschen ARD-Korrespondenten in Israel, Richard C. Schneider und den vielen anderen.

Dieses gründlich gearbeitete Buch ist vor allem wegen seines thematischen Blickwinkels quasi ein MUSS im Themenbereich des Palästina-Konflikts. Es bedient sich einer klaren journalistischen Sprache, beschränkt sich auf grundlegende Argumente und erklärt sie mit genügender Redundanz.

Einzig bedauerlich ist, dass Strohmeyer die öffentlichen Torpedierungsversuche gegen die „Nakba-Ausstellung“ (2013/2014), offenbar aus Platzgründen nur streifen kann. Die kontroversen Auseinandersetzungen um die in Deutschland vieldiskutierte Ausstellung der Palästina-Zerstörung aus der Sicht der Betroffenen stellen ein signifikantes Beispiel des in Deutschland praktizierten Philosemitismus dar. Diese Ausstellung wurde zwar an zahlreichen Orten gezeigt, aber ebenso häufig wurde sie auch mit dutzenden von absurden, stereotypen Zeitungsartikeln und Stellungnahmen der kommunal Verantwortlichen vor allem durch die Initiativen der „Freunde Israels“ verhindert. Diese öffentlich zugänglichen Texte wären ein exzellentes Beispiel dafür, wie Kritikabwehr durch Nachplappern von unüberprüften pro-semitischen (pro-israelischen) Meinungen in der deutschen Praxis funktioniert.

Ein zweiter wichtiger Schwerpunkt des Buches ist die Beantwortung der Frage: „Wie antisemitisch sind Araber?“, und wenn es sich bei ihrer Ablehnung des Judenstaates wirklich um Antisemitismus handelt, worin liegen dann seine Ursachen? Oder sind es nicht eher historische Folgen als Ursachen? Die hier zitierten nationalistisch-zionistischen Stimmen innerhalb dieser Diskussion wollen schlicht die kontroversen Fakten ihrer eigenen Geschichte nicht wahrhaben.

Schließlich führt der dritte wichtige Schwerpunkt des Buches in den psychoanalytischen Bereich des Themenkomplexes um Antisemitismus. Auch in diesem Teil des Buches bringen viele kompetente jüdische und israelische Stimmen ihre Stellungnahmen zum gegenwärtigen „neuen Antisemitismus in der Welt“ ein. Die Kernaussage aller dieser Zeugen weist vor allem auf den paranoiden Charakter von Israels vehementer Kritikabwehr hin. Hinter den öffentlichen Verlautbarungen Israels outet sich deutlich ihr Angstcharakter. Allein: Dieser Angstcharakter existierte schon lange vor der Shoah. Die heutige inflationäre Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs gegenüber allen, die es wagen, keineswegs Juden, sondern die Israel-Politik oder den Staat zu kritisieren, hat ihren Ursprung in der jüdischen Geschichte.

Wer in diesem verwirrenden Psycho-Kaleidoskop nach Klärung von Randthemen der Nahost-Problematik sucht, ist mit diesem neuen Buch von Arn Strohmeyer absolut gut bedient.

Arn Strohmeyer: Antisemitismus – Philosemitismus und der Palästina-Konflikt. Hitlers langer verhängnisvoller Schatten, Gabriele Schäfer Verlag Herne, 17,90 Euro