„Lügenpresse“ oder kritikloser Philosemitismus?

Nahostpolitik

Die deutschen Medien und Israel – ein besonderes Problem

Von Arn Strohmeyer, 10.01.2016

Da ist neuerdings viel von der „Lügenpresse“ in Deutschland die Rede, erst im Zusammenhang mit der Ukraine, dann mit Syrien und den Flüchtlingen. Aber merk- und denkwürdiger Weise ist bisher die deutsche Berichterstattung über den Konflikt Israels mit den Palästinensern (und die Rolle Deutschlands dabei) in diesem Zusammenhang noch nicht in den Fokus der öffentlichen Diskussion geraten. Denn hier gibt es am allermeisten zu kritisieren. Nun weiß man aber, aus welcher politischen Ecke der Vorwurf der „Lügenpresse“ kommt, insofern sollte man diesen Begriff nicht benutzen, da er den politischen Zielen der rechtsextremen Pegida und AfD Vorschub leistet: Ressentiments und Hass gegen alles Fremde zu erzeugen, besonders gegen Flüchtlinge.

Da ist zum Teil längst überwunden geglaubtes übelstes völkisches und rassistisches Denken im Umlauf.

Aber auch wenn man den Begriff „Lügenpresse“ nicht benutzt, ist die deutsche Berichterstattung über Israel und den Nahen Osten mehr als kritikwürdig. Allerdings sollte man hier auch nicht pauschalisieren und alles über einen Kamm scheren. Es gibt Unterschiede und auch rühmliche Ausnahmen.

Die Bandbreite etwa zwischen der Springer-Presse, deren Journalisten ihre Loyalität zu Israel in ihrem Arbeitsvertrag unterschreiben müssen, und einigen liberalen und linken Blättern ist doch groß. Und auch in einigen Beiträgen der Fernseh- und Rundfunkanstalten hat man schon vorsichtige Kritik an der israelischen Politik sehen oder hören können, zumeist aber leider im Spätprogramm oder in den nur von Minderheiten gesehenen Sendern. Dennoch gilt so gut wie allgemein: Die deutschen Medien verhalten sich Israel gegenüber zumeist sehr opportunistisch. Es fehlt bisher aber eine gründliche empirische Untersuchung zu diesem Thema, die auf realistischen und nicht rein ideologisch-politisch instrumentalisierten Ausgangsbegriffen – etwas zur Frage: was ist Antisemitismus? – beruhen müsste.

Wenn man den deutschen Medien also eine opportunistisch-unkritische Haltung zu Israel und seiner Politik bescheinigen kann, so hat das seinen Grund: Die deutsche Politik gegenüber diesem Staat und so auch die Einstellung der meisten Medien sind auf Grund der deutschen Geschichte philosemitisch. Das klingt auf den ersten Blick positiv, auf den zweiten aber nicht mehr, denn dieser Philosemitismus ist aus mehreren Gründen problematisch. Denn Moral ist unteilbar. Wenn sie das nicht mehr ist, degeneriert sie zur Schein- und Doppelmoral. Wenn die Verantwortung, die notwendigerweise aus den deutschen Verbrechen folgt, sich nur auf Juden und Israel bezieht, also nicht auch universalistisch auf alle Menschen – also auch auf die Palästinenser, dann wird sie fragwürdig. „Moral“, schreibt der deutsche Soziologe Walter Hollstein, „verwandelt sich in Scheinmoral, wenn Praktiken der Gewaltanwendung, Vertreibung und Folter den Israelis zugestanden werden, um sich dergestalt von der eigenen schrecklichen Schuld der Vergangenheit Erlösung freikaufen zu können.

Was die Philosemiten nicht sehen oder nicht sehen wollen, ist wie eng Antisemitismus und Philosemitismus zusammen hängen. Der Philosemitismus lässt sich immer aus dem Antisemitismus erklären und ableiten, weil der Philosemitismus seinen Nährboden, aus dem er stammt, immer im Antisemitismus hat. Oder anders gesagt: Im Philosemitismus steckt immer ein nicht überwundener oder verdrängter Antisemitismus. Zwischen beiden besteht eine dialektische Beziehung. Eine klassische Definition dieses Verhältnisses hat der Literaturwissenschaftler Carsten Peter Thiede geliefert: „Der Philosemitismus erweist sich lediglich als eine andere Art des Antisemitismus, da er einerseits die antisemitischen Positionen erst zu bestätigen hat, ehe er sie negieren kann, andererseits aber auch ein Idealbild vom Juden entwirft, das dieser letztlich nicht erfüllen kann und deshalb einem antisemitischen Rückschlag Vorschub leisten muss. Zudem arbeitet der Philosemitismus genau wie der Antisemitismus mit dem Mittel der Stereotypisierung. Statt der Auflösung ergibt sich lediglich eine spiegelbildliche Verkehrung.“

Es ist der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat, der immer wieder darauf hingewiesen hat, wie eng Antisemitismus und Philosemitismus zusammenhängen und wie sehr der Philosemitismus das Verhältnis zu Juden verfälscht. Er schreibt: „Wenn man es verbietet, bestimmte Menschen oder eine Nation kritisieren zu dürfen, gewinnt man ein unfreies Verhältnis zu ihnen, man wickelt sie gewissermaßen in Watte. In Wirklichkeit lässt sich Kritik von Antisemitismus klar unterscheiden. Antisemit ist, wer Juden schon als solche, einfach weil sie Juden sind, für schlecht hält. Wer hingegen Juden, nur weil sie Juden sind, für gut, für nicht kritisierbar erklärt, ist, was man als einen Philosemiten bezeichnen kann. Es ist leicht zu sehen, dass der Philosemitismus in der Befürchtung gründet, als Antisemit zu erscheinen und also im Antisemitismus seinen Grund hat. Man kann sich vom Antisemitismus nicht befreien, indem man Juden nicht für kritisierbar hält, sondern nur, indem man sich zu ihnen wie zu normalen Menschen verhält, die wie alle Menschen je nach den Umständen, in dem, was sie tun, kritisiert und gelobt werden können.“

Tugendhat hat sich auch eingehend mit dem Problem der deutschen Schuld gegenüber den Juden und dessen Auswirkung auf das deutsch-israelische Verhältnis beschäftigt und geht deshalb in seiner Kritik am Philosemitismus noch weiter. Er stellt fest: „Wird Schuld nicht bewusst aufgearbeitet, dann kann man mit ihr nicht rational und kontrolliert umgehen. Was aber zur Folge hat, dass man sich seinem Gegenüber so verhält, dass man alles tut, was er glaubt, was man zu tun hätte. Man gibt also die Autonomie des eigenen Urteilens preis, und das Gegenüber hat so die Chance, die Schuld zu manipulieren.

Tugendhat schreibt weiter: „Es gibt Menschen und auch Staaten, die auf dem irrationalen Schuldgefühl eines anderen virtuos wie auf einem Klavier spielen können. So tun es auch die Israelis mit den Deutschen.“ Man kann dieser Schuld nur entgehen, wenn diese Schuld rational aufgearbeitet wird. Dann besteht nicht mehr die Notwendigkeit, sich den – u.U. auch irrationalen – Wünschen des anderen zu unterwerfen. Der Handelnde behält dann sein autonomes Urteilsvermögen. Die Frage lautet dann: Wie kann ich dem anderen helfen? Wo liegen seine Interessen? Tugendhat hat her sehr gut beschrieben, was mit Opportunismus im Verhalten gegenüber Israel gemeint ist.

Diese Zusammenhänge scheinen vielen deutschen Journalisten wie auch den verantwortlichen Verlegern und Intendanten nicht bewusst zu sein. Dieses Nicht-Wissen beziehungsweise Nicht-Wissen-Wollen sowie die Angst, in den Verdacht des „Antisemitismus“ zu geraten, hält sie von einer der Realität angemessenen Wahrnehmung der Vorgänge in Israel/Palästina und einer entsprechenden Berichterstattung ab. Wann etwa hätte man in deutschen Medien (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen) eine realistische Darstellung der Praktiken der israelischen Besatzungspolitik gelesen, gehört oder gesehen? Also: Barrikaden und Checkpoints der Armee, Einsätze von Kampfhubschraubern und Düsenjägern gegen Zivilisten, gezielte Ermordungen und militärische Übergriffe wie nächtliche Razzien der Soldaten in palästinensischen Häusern, ständige Verhaftungen von Palästinensern (auch von Kindern), die Praxis der unbefristeten Administrationshaft, die verheerenden Zustände für Palästinenser (zur Zeit 7.000) in israelischen Gefängnissen einschließlich Folter sowie die Zerstörung von inzwischen 60.000 palästinensischen Häusern – ganz zu schweigen vom ständigen Raub palästinensischen Landes für den Bau weiterer Siedlungen.

Welcher deutsche Journalist traut sich angesichts solcher Fakten einmal öffentlich zu fragen: Ist es nicht vollkommen unehrlich so zu tun, als wäre Israels Besetzung nicht selbst ein brutaler Gewaltakt gegen drei Millionen Zivilisten? Im übrigen kann man nicht nur durch eine dieser Realität nicht angemessene Berichterstattung und Kommentierung ein völlig falsches Bild von der israelischen Politik erzeugen, sondern auch durch Weglassen und Nicht-Berichten. Also: Nichts hören, nichts sehen und deshalb auch nichts sagen! Schweigen eben. Die wichtigste Regel, die für die deutsche Berichterstattung über den Konflikt Israels mit den Palästinensern in den Medien gilt, ist: Die Begriffe Judentum, Zionismus und Israel werden grundsätzlich gleichgesetzt, es wird also in der Umkehrung nicht zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der israelischen Politik unterschieden, was ganz automatisch zu falschen Schlussfolgerungen führen muss.

Ansonsten übernehmen die meisten deutschen Medien unhinterfragt die Grundregeln und Maximen israelischer Politik, die der israelische Anthropologe und Friedensaktivist Jeff Halper einmal so formuliert hat: Israel ist das Opfer des Hasses von Seiten der friedensunwilligen Araber und kämpft um seine Existenz.

Der Kern des Konflikts ist der palästinensische Terrorismus. Als friedensliebende Demokratie und Opfer von Aggressionen trägt Israel keine Verantwortung für Entstehung und Andauern des Konflikts. Da die Bedrohung von Israels Existenz existentiell ist und Israels Politik ausschließlich der Sorge um seine Sicherheit gehorcht, ist es jeder Verantwortlichkeit für seine Handlungen gemäß den Konventionen von Menschen- und Völkerrecht oder UNO-Resolutionen enthoben. Es gibt keine Besatzung. Da eine politische Lösung nicht möglich ist, muss bei jeder zukünftigen Regelung die Kontrolle über das ganze Land, einschließlich der Palästinenser, Israel vorbehalten bleiben. Sollte es zu Bildung eines palästinensischen Staates kommen, darf er nicht lebensfähig und nur semi-souverän sein.

Da hier grundsätzlich Täter und Opfer vertauscht werden, führt das im deutschen Journalismus dann oft zu einer ganz eigenen, an George Orwells „1984“ erinnernden Sprache, die man von den Israelis übernommen hat und die kritiklos benutzt wird. Diese Sprachregelungen hat Rainer Rupp kürzlich sehr gut beschrieben: In Ergänzung zu Halper besagen sie kurz zusammengefasst: Die Israelis sind immer die Guten, die sich nur „verteidigen“, wohingegen die Araber (Palästinenser) stets die Bösen und die Aggressoren sind, die offenbar kein Recht haben, Widerstand zu leisten oder sich zu verteidigen. Wenn Palästinenser oder Libanesen israelische Besatzer töten, ist das „Terrorismus“, wenn israelische Soldaten palästinensische oder libanesische Zivilisten töten, ist es „legale Selbst-Verteidigung“. Den Begriffen Hamas und Hisbollah muss grundsätzlich die Bezeichnung „radikal-islamische Terrororganisation“ hinzugefügt werden, die von Iran und Syrien unterstützt werden. Bei der Berichterstattung über Israel dürfen die „besetzten Gebiete, nicht eingehaltene UNO-Resolutionen, Menschenrechtsverletzungen, Genfer Konvention, Apartheid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht verwendet werden. In jedem Beitrag muss das „Existenzrecht Israels“ erwähnt werden (im Völkerrecht gibt es diesen Begriff allerdings überhaupt nicht), aber niemals darf man von einem „Existenzrecht der Palästinenser“ sprechen. Außerdem muss Israel immer als die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ beschrieben werden, wohingegen es sich bei den arabischen Staaten grundsätzlich um „rückständige arabische Diktaturen“ handelt.

Eine solche Berichterstattung und Kommentierung wird dem Konflikt Israels mit den Palästinensern in keiner Weise gerecht, ja sie übernimmt – vielleicht unbewusst – oft sogar den israelischen Rassismus gegenüber den Arabern.

Beispiel: Jedem Anschlag eines Palästinensers auf einen Israeli wird breiter Raum eingeräumt, ist zumindest eine Meldung wert. Töten Israelis Palästinenser, wird das in den seltensten Fällen erwähnt. Eine solche Berichterstattung entspricht der völlig einseitig auf Israel ausgerichteten deutschen Politik.

Dass diese aber eine große Mitschuld an der Notlage der Palästinenser und am Nicht-Zustandekommen einer gerechten Friedenslösung hat, steht außer Zweifel.

Weitsichtige und universalistisch denkende Juden blicken da sehr viel weiter.

So schrieb der frühere Direktor des American Jewish Congress und heutige Präsident des US-Middle East Project Henry Siegman einmal: „Wenn westliche Länder vor dem Hintergrund ihrer Schuld am Holocaust glauben, ihre Hinnahme eines solchen Ergebnisses [dass die Palästinenser angeblich schuld am Nicht-Zustandekommen eines Friedensabkommens sind und so ihre weitere Vertreibung berechtigt ist] sei ein Akt der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, so könnte es keinen größeren Irrtum geben. Die Palästinenser aufzugeben, kann keine Sühne dafür sein, die Juden Europas aufgegeben zu haben. Und es würde auch nicht der Sicherheit Israels dienen. Die Erwartung, unkritische Unterstützung werde zu einer größeren Bereitschaft Israels führen, für den Frieden Risiken auf sich zu nehmen, steht im Widerspruch zur Geschichte dieses Konflikts. Diese hat vielmehr gezeigt: Je kleiner der Widerspruch ist, den Israel von seinen Freunden im Westen erhält, desto kompromissloser wird sein Verhalten gegenüber den Palästinensern.

Wann wird ein deutscher Journalist den Mut haben, ähnliche Sätze zu schreiben?