„Methodisch betriebener Wahnsinn“

Nahostpolitik

Was Israel zu seinem gnadenlosen Vorgehen gegen Gaza antreibt untersucht Norman G. Finkelstein in seinem neuen Buch

Von Arn Strohmeyer, 28.03.2016

Alle paar Jahre schlägt Israels hoch gerüstete Kriegsmaschinerie wieder gegen den Gazastreifen los. In Israel beschreibt man diese grausamen Überfälle, die schon Tausende von Palästinensern das Leben gekostet und das Gebiet zu einem Trümmerfeld und Elendsquartier gemacht haben, mit einer zynisch-poetischen Metapher: „Es ist Zeit, in Gaza wieder mal das Gras zu mähen!“ Die schrecklichen Folgen einer solchen „Gartenarbeit“ sind den Israelis offenbar völlig gleichgültig. Sie, die in jedem kleinen Grenzscharmützel gleich einen neuen Holocaust wittern, empfinden gegenüber den Leiden anderer keiner Empathie. Die Folgen der israelischen Attacken sind strategisch gewollt: den Gazastreifen mit jeder militärischen Aktion ein Stück weiter zerstören und auf diese Weise die Bildung eines palästinensischen Staates verhindern. Dass diese israelische Rechnung wohl aufgehen wird, hat selbst die UNO bestätigt: Spätestens im Jahr 2020 wird dieses größte Freiluftgefängnis der Welt unbewohnbar sein.

Der amerikanisch-jüdische Politologe Norman G. Finkelstein untersucht in seinem neuen Buch „Methode und Wahnsinn. Die Hintergründe der israelischen Angriffe auf Gaza“ das israelische Vorgehen gegen den palästinensischen Küstenstreifen und seine Bewohner. Der Ablauf ist fast immer der gleiche: Selbst wenn mit der Hamas ein Waffenruhe-Abkommen (das auch eingehalten wird) vereinbart wurde, findet Israel einen Vorwand, die Hamas-Führer im Gazastreifen so zu provozieren (etwa durch willkürliche Verhaftungen oder die Ermordung von führenden Hamas-Funktionären), dass eine neue Gewalteskalation beginnt und Israel gegen den Streifen losschlagen, also wieder einmal das „Gras mähen kann.“

Finkelstein begründet, warum Israel gar kein Interesse an einer langfristigen Waffenruhe hat: „Eine solche Waffenruhe würde die Aufmerksamkeit auf den in Worten und Taten zum Ausdruck gekommenen Pragmatismus der Hamas lenken, den internationalen Druck auf das verhandlungsunwillige Israel steigen lassen und somit das strategische Ziel Israels untergraben, sich das Westjordanland einzuverleiben.“ Was bedeutet: Israel muss auch gerade dann losschlagen, wenn es eine ernst gemeint palästinensische Friedensoffensive abzuwehren gilt.

Israel hat noch ein anderes Argument für seine Angriffe auf den Gazastreifen: die Wiederherstellung seiner „Abschreckungsfähigkeit“. Das wurde besonders nach der Schlappe der israelischen Armee im Libanon-Krieg 2006 gegen die Hisbollah deutlich. Mit „Abschreckungsfähigkeit“ ist nicht gemeint, dass Israel in der Lage sein müsse, eine akute tödliche Bedrohung für seine eigene Existenz abzuwenden, sondern „Abschreckung“ bedeutet: Die Araber müssen so eingeschüchtert werden, dass sie niemals – egal, was Israel auch tut – gegen diesen Staat aufbegehren können. Ariel Sharon hat diesen Sachverhalt in dem kurzen klassischen Satz zusammengefasst: „Die Abschreckung ist unsere wichtigste Waffe – sie müssen Angst vor uns haben!

Dass die Wiedererlangung der „Abschreckungsfähigkeit“ gegen einen Gegner erzielt wird, der sich gegen Israels militärische Übermacht gar nicht wehren und mit seinen primitiven, selbst gebastelten und deshalb völlig zielungenauen Raketen nur symbolischen Widerstand leisten kann, ohne Israel dabei größere Verluste an Menschen oder materielle Zerstörungen zufügen zu können, interessiert dort nicht. Ganz im Gegenteil: Gaza wurde und wird immer wieder zum Angriffsziel, weil es weitgehend wehrlos ist. Auf diese Weise kann Israel jedem Risiko für die eigenen Armee, die ein konventioneller Krieg bedeuten würde, aus dem Weg gehen. Dass ausgerechnet die durch Israels ständige Überfälle und die seit 2007 andauernde völlige Abriegelung des Gazastreifens (Blockade) in Armut und Elend gestoßene Bevölkerung das Ziel und Opfer abgeben muss, Israels „Abschreckungsfähigkeit“ wiederherzustellen, ist an Zynismus nicht zu übertreffen, den Finkelstein zu Recht als „Rückfall in die Barbarei“ bezeichnet.

Israels Verteidiger bringen gegen den Raketenbeschuss der Hamas (oder anderer islamischer Gruppen) das Argument vor, dass dieser Staat ein „Recht auf Selbstverteidigung“ habe. Finkelstein, der die Raketen der Hamas als bestenfalls „frisierte Feuerwerkskörper“ bezeichnet. antwortet darauf mit einer militärischen und einem völkerrechtrechtlichen Gegenaussage. Sein militärisches Argument, das die eklatante Asymmetrie der Stärken beider Seiten im Jahr 2014 betont, lautet: „Die Hamas hatte keine Raketen in ihrem Arsenal, keine Verbündeten, von denen sie welche hätte beziehen können, [wegen der Blockade] keine Möglichkeit, welche in den Gazastreifen hineinzuschmuggeln, und keine Ressourcen, um selbst welche herzustellen. Von daher gehört die Vorstellung, die Hamas habe Tausende Raketen auf Israel abgefeuert (und weitere Tausende in geheimen Waffenlagern bereitgehalten), während Israel nur dank des wunderbaren [Luftabwehrsystems] Iron Dome von Verwüstung verschont geblieben sei, wohl ins Reich der Fabel.“

Finkelsteins völkerrechtliche Argumentation verdient es, hier ausführlich wiedergegeben zu werden, weil das „Selbstverteidigungs“-Argument gerade auch in Deutschland sehr viele Anhänger hat – sogar die Kanzlerin benutzt es ständig.

Der Autor sieht in der Aussage der „Selbstverteidigung“ einen grundsätzlichen Widerspruch: Denn wie kann Israel behaupten, sich selbst zu verteidigen, wenn es die Feindseligkeiten gegen Gaza ja selbst alle vom Zaun gebrochen hat?

Finkelstein argumentiert dann folgendermaßen: Nach dem Völkerrecht ist es einer Besatzungsmacht verboten, das Streben nach Selbstbestimmung gewaltsam zu unterdrücken, wohingegen es einem Volk nicht verboten ist, bei seinem Streben nach Selbstbestimmung Gewalt anzuwenden. In einem Rechtsgutachten von 2004 hat der Internationale Gerichtshof das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung ausdrücklich bestätigt und Israel dazu verpflichtet, das Selbstbestimmungsrecht dieses Volkes zu respektieren. Folglich kann Israel sich nicht das Recht anmaßen, das palästinensische Streben nach Selbstbestimmung gewaltsam zu unterdrücken.

Auch kann Israel mit Verweis auf die Tatsache, dass sich dieser Kampf um Selbstbestimmung im Rahmen einer Besatzung abspielt, nicht behaupten, ihm als Besatzungsmacht stünde es rechtmäßig zu, der Besatzung, solange sie besteht, Geltung zu verschaffen.

Finkelstein verweist in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes von 1971, die besagte, dass Südafrika das Recht verwirkt hatte, seine Besatzung Namibias fortzuführen, weil es sich weigerte, in redlicher Absicht über deren Aufhebung zu verhandeln.

Daraus folgt: Auch Israel hat es versäumt, in redlicher Absicht über ein Ende der Besatzung der palästinensischen Gebiete zu verhandeln. Gemäß dem Präzedenzfall Namibia ist auch die israelische Besatzung illegal. Sein einziges „Recht“, das Israel geltend machen kann, besteht darin, seine Besatzung unverzüglich zu beenden.

Finkelsteins weitere Argumentation: Zwar behauptet Israel, es habe das Recht, sich gegen den Hamas-Beschuss zu verteidigen, was aber Israel dabei in Wirklichkeit für sich beansprucht, ist das Recht, seine Besatzung fortzuführen. Würde Israel darauf verzichten, das palästinensische Streben nach Selbstbestimmung gewaltsam zu unterdrücken, ließe sich die Besatzung nicht länger aufrechterhalten, und der Beschuss Israels hätte ein Ende. Anders gesagt: Gäbe Israel seine Besatzung auf, würde sich eine Gewaltanwendung erübrigen. Die gebetsmühlenartige Beschwörung des israelischen „Rechts auf Selbstverteidigung“ dient nur der Ablenkung.

Die eigentliche Frage ist doch: Hat Israel das Recht, Gewalt anzuwenden, um an seiner illegalen Besatzung festzuhalten zu können? Die Antwort lautet nein.

Argumente, die man sich merken sollte, um der hohlen und stupiden Litanei von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ entgegentreten zu können.

Finkelstein ist ansonsten was die Lösung des Konflikts angeht, eher pessimistisch.

Militärisch ist Israel so überlegen, dass gewaltsamer Widerstand der Palästinenser keine Erfolgsaussichten hat. Auch die diplomatischen Chancen für eine Lösung schätzt er gering ein: „Die Palästinenser können sich von der Diplomatie nicht einmal ein ungerechtes Friedensabkommen erhoffen, geschweige denn ein gerechtes.“ Auch von einer Anklage beim Internationalen Strafgerichtshof hält er nichts, weil die Gesinnung dieses Gerichts eher Israel-freundlich sei.

Was bleibt? Finkelstein schlägt nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eine gewaltige, aber völlig gewaltlose Demonstration aller Bewohner des Gazastreifens vor den israelischen Grenzabsperrungen vor – die Kinder vorneweg.

Auf den Transparenten müssten Losungen stehen wie „Hört auf, uns die Luft abzuschneiden!“ und „Schluss mit der illegalen Gaza-Blockade!“ Eine schöne Idee, aber ob sie Israel zum Einlenken bringen würde, ist doch eher zweifelhaft.

Aber dieser Zweifel ist keine Kritik an Finkelsteins sehr wichtigem Buch, das ein unerlässlicher Beitrag zum Verständnis von Israels barbarischer Politik gegenüber den Palästinensern im Allgemeinen und dem Gazastreifen im Besonderen ist.

Norman, G. Finkelstein: Methode und Wahnsinn. Die Hintergründe der israelischen Angriffe aus Gaza, Laika Verlag Hamburg, ISBN 978-3-944233-62-8, 19 €