Plädoyer für die Überwindung des Zionismus mit jüdischen Werten

Nahostpolitik

Rolf Verleger unterzieht in seinem neuen Buch Israels Politik einer radikalen Kritik und hofft auf eine Erneuerung des Judentums

Von Arn Strohmeyer, 09.01.2018

Der deutsche Mehrheitsdiskurs über den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern leidet vor allem daran, dass jede Kritik an der brutalen und völkerrechtswidrigen Besatzung, der Unterdrückung eines ganzen Volkes und der sich permanent wiederholenden Bombardierung eingeschlossener Bevölkerungsgruppen sofort unter den Antisemitismusvorwurf gestellt wird. Das Ziel eines solchen Vorgehens, das immer mehr inquisitorische, denunziatorische, also rufmörderische Züge annimmt, ist neben der Verschleierung dieser Untaten die Aufrechterhaltung eines Idealbildes von Israel, das mit der Wirklichkeit dieses Staates wenig oder nichts zu tun hat. Einer, der sich seit Jahren darum bemüht, dieses Israelbild zu korrigieren und die Debatte in Deutschland in rationalere Bahnen zu lenken, ist der deutsch-jüdische Neurologe und Publizist Rolf Verleger, einer der mutigsten und kompromisslosesten Kritiker des Zionismus und Streiter für eine humane Lösung der scheinbar unendlichen Tragödie im Nahen Osten.

Rolf Verleger hat nun ein neues Buch vorgelegt, das die extremen Spannbreite des Judentums beleuchtet – eben Werte wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit auf der einen und radikaler Nationalismus auf der anderen Seite. Wobei es eben die Tragik Israels ist (und das ist immer wieder Verlegers Thema), dass der israelische Chauvinismus den humanen Anteil, den es im Judentum auch gibt, völlig verdrängt hat. Humanität gibt es im Zionismus nur gegenüber der eigenen Ethnie, nicht aber gegenüber den „Anderen“, den Palästinensern. Es ist der Kampf zweier Linien, die es im Judentum von Anfang an gegeben hat: die Spaltung in die Vertreter eines ethnischen Stammesdenkens (nationalistischer Partikularismus) oder weltoffener Universalismus.

Die jeweiligen Zeitumstände entscheiden darüber, welche Richtung gerade die Oberhand behält. Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Erich Fromm sah noch die universalistische Richtung klar im Vorteil: „Das radikale humanistische Denken kennzeichnet die Hauptentwicklungsstufen der jüdischen Überlieferung, während die konservative nationalistische Richtung das relativ unverändert Relikt aus älterer Zeit ist und nie an der progressiven Evolution des jüdischen Denkens und seinem Beitrag an den universalen menschlichen Werten einen Anteil hatte.“

Historisch stellt sich dieser Vorgang so dar: Im Alten Testament (Hebräische Bibel) überwiegt das ethnisch-politische Element mit einem durchaus kriegerischen Gottesbild im jüdischen Begriff von „Israel“ (so der Theologe Peter Bingel), denn Jahwe befiehlt „seinem Volk“ die gewaltsame Landnahme und die Ausrottung ganzer Völker. Die humanistisch-universalen Werte werden vor allem von den Propheten vertreten, später von Rabbinern wie etwa Hillel. Die politisch-ethnisch-kriegerische Seite des Judentums tritt nach den Niederlagen in den Kämpfen gegen die Römer für viele Jahrhunderte – die Zeit der Gesamtdiaspora von 70 bis etwa 1850 n.u.Z. – in den Hintergrund und erscheint erst unter Berufung auf die Hebräische Bibel mit dem eigentlich säkularen Zionismus und der fortschreitenden Kolonisierung des historischen Palästina und erst recht nach der Gründung des Staates Israel wieder auf der historischen Bühne.

Durch diese Entwicklung – also die partikularistischen Anforderungen des Staates Israel und auch durch das Andenken an den Holocaust – ist der jüdische Universalismus verdrängt worden, der im 19. Jahrhundert durch die Emanzipation der Juden in den europäischen Gesellschaften dominant gewesen war. Die Abwendung vom Universalismus und der Prozess der Bildung eines radikalen Nationalismus ist heute in der israelischen Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass Vertreter der Menschenrechte und des Völkerrechts in diesem Staat (ähnlich wie in Deutschland, wenn es um Israels Politik geht) als „Verräter“ an den Pranger gestellt werden, was die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch „Israel“ zu der Bemerkung veranlasst, dass dies den moralischen Bankrott des organisierten Judentums und Israels bedeute.

Rolf Verleger sieht diese verhängnisvolle Entwicklung in Israel als engagierter Universalist genauso. Man spürt förmlich sein Leiden an diesem Staat, der für sich in Anspruch nimmt, für alle Juden der Welt zu sprechen, wenn er schreibt: „Heute werden solche klaren moralischen Vorgaben [etwa, dass Mord keine politische Waffe sein darf] für immer größere Teile des religiösen Judentums zum Auslaufmodell, zum Überbleibsel eines diasporabedingten Untertanengeistes. Dies ist aber eine Abkehr von den humanistischen Traditionen des Judentums.“

Über den zionistischen Staat Israel schreibt er: „Die Zionisten sehen mit Stolz, dass ein Teil ihrer Vision Realität geworden ist. Israel ist entstanden – ein Staat, in dem Juden die dominierende Mehrheit stellen. Leider ging dies auf Kosten des zweiten Teils der Vision: Israel ist nicht zu einem Staat geworden, der so ist wie andere. Denn kein anderes zivilisiertes Land auf der Welt hat ein System der ethnisch abgestuften Demokratie, mit Militärdiktatur und Einsperrung von Millionen Menschen. Nun geht es um Erhaltung des Status quo und Schutz vor der eingebildeten oder auch realen Bedrohung durch islamische Staaten aufgrund des ungelösten Palästinaproblems.“

Verleger beschreibt in seinem Buch etwas, das nur wenige Bücher über Israel/Palästina thematisieren. Er geht ausführlich auf die Geschichte der Juden im zaristischen Russland und in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution ein. Denn ohne die Kenntnis der religiösen und politischen Gruppen und Fraktionen der dort lebenden Juden, die das größte Kontingent der Einwanderung nach Palästina stellten, ist die Geschichte Israels gar nicht zu verstehen. Denn alle diese Organisationen, die schon auf russischem Boden eine so wichtige Rolle gespielt haben, finden ihre Fortsetzung im „jüdischen“ Staat Israel.

Neben den Rechts-Zionisten (Likud und andere Parteien im zersplitterten israelischen Parteiensystem), die das Projekt Groß-Israel betreiben, das Staatsgebiet auf das Westjordanland ausweiten und die dortige Bevölkerung verdrängen (sprich: vertreiben) wollen, sind vor allem die religiösen Nationalisten zu nennen. Deren Siedler-Ideologie, die Religion und Zionismus vereint, hat die Vision, dass die Erlösung durch die jüdische Besiedlung von Eretz-Israel erreicht werden kann. Verleger schreibt sarkastisch über diese Richtung: „Diese rassistische Ideologie der Apartheid im frommen Gewande ist nun also das Begeisterndste für das Judentum in seinem jüdischen Staat im 21. Jahrhundert.“

Verleger hält dieser menschenverachtenden Ideologie der Nationalreligiösen das humane Bekenntnis des deutschen Juden Leo Baeck aus dem Jahr 1905 entgegen: „Das Judentum hat den Mitmenschen geschaffen. Und damit auch den Begriff der Humanität, (…) des Verständnisses für das Leben des Nebenmenschen, der Achtung vor der Menschenwürde, der Ehrfurcht vor dem Göttlichen in allem, was Menschenantlitz trägt.“ Für diese extremistischen jüdischen Siedler-Chauvinisten hat Verleger nur die verächtliche Bemerkung übrig: Sie sind zur „Pest des Judentums“ geworden. Es gibt in Israel nur eine einzige Partei, die noch die Fahne der Menschenrechte im Parlament hochhält: die Linkssozialisten der Merez. Aber mit ihren fünf Prozent Wählerstimmen sind sie so gut wie unbedeutend im politischen Spiel des Landes.

An dieser Stelle sei ein kritischer Einschub erlaubt. Verlegers Engagement für die Realisierung humanistischer Werte in der Politik ganz allgemein, besonders aber im Konflikt Israels mit den Palästinensern ist natürlich vorbehaltlos zuzustimmen, mit was sonst könnte man dieser brutalen Politik entgegentreten? Die amerikanisch-jüdische Philosophin Judith Butler gibt aber zu bedenken, dass die Berufung auf ausschließlich jüdische Werte – wie Verleger es tut – ihre Problematik hat. Sie argumentiert, dass wesentliche jüdische Überlieferungen Widerstand gegen staatliche Gewalt und koloniale Vertreibung und Beherrschung nicht nur zuließen, sondern sie sogar verlangten. In diesem Fall könne man sich auf ein anderes Jüdisch-Sein berufen als das, in dessen Name der israelische Staat zu sprechen behaupte.

Judith Butler sieht die Kritiker der israelischen Politik, die sich auf jüdische Werte berufen, dennoch in einer Zwickmühle. Aus der Religion gewonnene Werte machten zum einen immer einen „Übersetzungsprozess“ durch, wenn sie in die Vernunftsphäre der Aufklärung übertragen werden. Sie sind also dort angekommen nicht mehr dieselben wie am Ursprung. Zudem schreibt sie: „Tatsächlich erweitert noch die Kritik des Zionismus, wenn sie exklusiv jüdisch ist, die jüdische Hegemonie im Nachdenken über diese Region und wird gegen ihren Willen Teil dessen, was wir den Zionistischen Effekt nennen können. Alles, was die jüdische Hegemonie in der Region erweitert, ist Teil des Zionistischen Effekts, ganz gleich, ob es sich als zionistisch oder antizionistisch begreift oder nicht.“

Mit anderen Worten: Jede jüdische Kritik an der zionistischen Politik verlässt nicht den zionistischen Rahmen. An anderer Stelle schreibt Butler: „Soll die Kritik am Zionismus jedoch effektiv und substanziell sein, muss dieser Anspruch auf eine Sonderstellung zugunsten fundamentalerer demokratischer Werte zurückgewiesen werden“. Verleger geht auf diese Problematik nicht ein, es wäre aber interessant, seine Position zu dieser Frage zu erfahren.

Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für einen anderen Staat Israel, aber auch ein anderes Judentum – eins, in dem die ethischen Werte wie Nächstenliebe, Respekt vor dem Anderen und Gerechtigkeit wieder volle Bedeutung haben. Die israelische Soziologin Eva Illouz sagt es ähnlich: „Mehr denn je müssen Israel und Judentum das Erbe aufgeklärter Juden fortführen, indem sie den Universalismus zu Israels moralischem Horizont machen.“ Das würde aber bedeuten, dass sich der Kampf der beiden Linien des Judentums – ethnischer Chauvinismus bzw exklusive Abschottung einerseits und Universalismus andererseits – zugunsten des letzteren entscheiden würde.

Anzeichen für eine solche Wende im Judentum gibt es nicht. Im Gegenteil: Die ideologische Spaltung in diese beiden Strömungen spitzt sich eher zu, wobei die Grenze nicht zwischen Religiösen und Säkularen oder zwischen Israelis und nicht-israelischen Juden verläuft, es gibt Überschneidungen aber die Spaltung ist dennoch radikal. Sie ist so radikal, dass man von einer tiefen Krise des Judentums sprechen kann – einer Krise, an der das Judentum – so der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug – zerbrechen kann.

Rolf Verleger hat ein äußerst informatives und aufklärerisches Buch zum Verständnis der jüdischen Krise der Gegenwart geschrieben, in dessen Mittelpunkt der Staat Israel mit seiner verhängnisvollen Politik steht. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch ein wichtiger Beitrag wird, die völlig verzerrten Koordinaten im deutschen Diskurs über Israel und das Judentum gerade zu rücken. Die Debatte hierzulande hat das bitter nötig.

Rolf Verleger: Hundert Jahre Heimatland. Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus, Westend-Verlag Frankfurt/ Main, ISBN 978-3-86489-186-1