Thema Gaza: Nachrichten aus der Hölle auf Erden

Nahostpolitik

Der palästinensische Politologe Bahihj Spiewak klagt in einem erschütternden Buch Israels Kriegsverbrechen in Gaza an

Von Arn Strohmeyer, 14.11.2015

Angesichts der Zerstörungen und des Leidens der Menschen im Gaza-Streifen fragt man sich, wie ein Staat, der den Anspruch hat, die westliche Zivilisation zu vertreten, ein solches Inferno anrichten kann wie in den zurückliegenden Überfällen auf dieses Gebiet, besonders aber in dem Krieg im Juli/August 2015, ohne sich anschließend im Geringsten um die Folgen zu kümmern, die irgendwann – das ist ganz sicher – auf Israel zurückschlagen werden. Da hilft auch die Rechtfertigung mit der „Selbstverteidigung“ nichts. Dem stehen zwei seit langem bekannte Argumente entgegen: Erstens die völlige Unverhältnismäßigkeit der israelischen militärischen Reaktion, denn die Raketen der palästinensischen Widerstandsgruppen haben in Israel – im Vergleich – kaum zu Zerstörungen und Verlusten geführt.

Die Palästinenser hatten 2138 Tote zu beklagen, darunter waren 1723 (81 Prozent) Zivilisten, 544 Kinder, 302 Frauen; 10 744 Menschen wurden verletzt, darunter auch viele Frauen (etwa ein Fünftel) und Kinder (ein Drittel). 16 002 Häuser wurden zerstört, davon 2358 vollkommen; 462 090 Personen wurden obdachlos; 61 Moscheen wurden zerstört und 324 Handels- und Industrieanlagen getroffen. Israel hatte 67 Tote zu beklagen, darunter drei Militärs. Nicht weniger erschreckend waren die Zahlen im Krieg von 2008/2009: 1419 Palästinenser kamen ums Leben (davon 507 Militärs und Polizisten, 1167 Zivilisten, 313 Kinder , 116 Frauen); 5300 Menschen wurden verletzt. Demgegenüber hatte Israel 14 Tote zu beklagen, davon 11 Soldaten und drei Zivilisten. Man muss hinzufügen: Viele Menschen in Gaza hätten nicht sterben müssen, wenn die Hilfe rechtzeitig gekommen wäre. Aber die israelische Armee bombardierte und beschoss auch Krankenhäuser, Ambulanzen und medizinische Helfer.

Der zweite Einwand gegen Israels „Selbstverteidigungs“-Argument ist völkerrechtlicher Natur. Israel ist auch im Gazastreifen (auch wenn es das bestreitet) nach wie vor Besatzungsmacht, denn es kontrolliert das Gebiet zu Lande, zu Wasser und von der Luft aus. Zu diesem Zweck muss das israelische Militär gar nicht in dem Gebiet anwesend sein. Nach Internationalem Recht gibt es aber kein Selbstverteidigungsrecht einer Besatzungsmacht gegenüber den von ihr Besetzten. Das kann es nur gegenüber einem anderen Staat geben, das ist der Gazastreifen aber nicht. Die Palästinenser haben sogar ein Widerstandsrecht gegenüber der Besatzungsmacht, soweit es nicht gegen Zivilisten ausgeübt wird.

Zwei gewichtige Argumente also gegen Israels Gewaltexzesse gegen ein wehrloses Volk, das nicht einen Panzer, Flugzeug oder Kanone besitzt. Aber mit humanitären Argumenten hat die israelische Führung nichts im Sinn, ihr geht es neben Rache und Vergeltung, um den Beweis ihrer Abschreckungsfähigkeit und das Testen neuer Waffen. Als Fernziel schwebt vielen Zionisten – etwa dem früheren Außenminister Avigdor Lieberman – die endgültige Vertreibung der Palästinenser vor, heute vornehm als „Transit“ umschrieben. So setzte sich der Likud-Abgeordnete Moshe Feiglin erst kürzlich dafür ein, die Bewohner des Gazastreifens in die Sinai-Halbinsel zu „transferieren“. (Berühmt wurde sein rassistischer Ausspruch: „Einem Affen kann man nicht die Sprache lehren und einem Araber nicht die Demokratie.“ Quelle: Wikipedia)

Was an Israels Vorgehen gegen die Palästinenser so erschreckt, ist, dass die „moralischste Armee der Welt“ keinerlei Rücksicht mehr auf Zivilisten nimmt, sondern dass diese Truppe ganz offensichtlich nicht zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten unterscheidet, was die oben genannten Zahlen in eklatanter Weise belegen. So heißt es denn auch in einer Stellungnahme der Armee: „Wenn aus einem Dorf Raketen abgefeuert werden, dann gilt dieses Dorf als Militärbasis. Die Armee wird unverhältnismäßig antworten. Das ist kein Vorschlag, sondern ein beschlossener Plan.“ (Haaretz 5.10. 2008)

Diese Art des rücksichts- und gnadenlosen Vorgehens auch gegen Zivilisten ist der Schwerpunkt des Buches „Die Hölle von Gaza. Erkundungen eines Infernos“ des palästinensischen Politologen Bahij Spiewak. Schon früher hatten verschiedene israelische Militärs ganz offen zugegeben, dass man direkt Krieg gegen die gesamte palästinensische Bevölkerung führe. Was bei dem unbeschreiblichen, irrationalen Hass auf dieses Volk nicht verwundert, dem man unterstellt, nur aus „Terroristen“ und „neuen Nazis“ zu bestehen. So neu wie oft dargestellt ist die Vorgehensweise der israelischen Armee allerdings nicht. Von der Nakba 1948 bis in die Gegenwart zieht sich die Blutspur dieser Armee.

Der israelische Soziologe Baruch Kimmerling hatte sie schon vor Jahren als „Politizid“ bezeichnet und so definiert: „Die wichtigsten Werkzeuge [des Politizid] sind Mord, begrenzte Massaker, Eliminierung der Führung und der intellektuellen Elite, die physische Vernichtung der Infrastruktur und der Gebäude politischer Institutionen, Kolonisierung, künstlich erzeugte Hungersnöte, soziale und politische Isolation, Umerziehung und gebietsweise ethnische Säuberungen.“ Und er hatte hinzugefügt: „Mit Politizid meine ich einen Prozess, an dessen Ziel das Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe steht. Dieser Prozess kann auch eine teilweise oder vollständige ethnische Säuberung des ‚Landes Israel‘ beinhalten. Diese Politik wird das Wesen der israelischen Gesellschaft unausweichlich zerstören und die moralische Basis des jüdischen Staates im Nahen Osten untergraben.

Sieht man von der Zukunftsprophezeiung ab, so hat Kimmerling hier genau die Art und Weise des israelischen Vorgehens in den Kriegen gegen die Palästinenser beschrieben. Inzwischen ist aber, wie Spiewak belegt, die israelische Kriegführung, die keine Rücksicht auf Zivilisten nimmt, unter dem Namen „Dahiyah“ zur offiziellen Militär-Doktrin geworden. Dahiyah war ein moslemisches Wohnviertel im Süden Beiruts, das die Israelis im Krieg gegen die Hisbollah 2006 dem Erdboden gleich gemacht haben. Hunderte von Gebäuden wurden zerbombt, fast eine Million Menschen wurden obdachlos. Gemäß dieser Doktrin ging Israels Armee auch 2014 gegen den Gaza-Streifen vor und schuf so das, was der Autor die „Hölle“ und das „Inferno“ von Gaza nennt. Er zählt die Massaker im Einzelnen auf, die die israelische Armee dort angerichtet hat. Der Generalkommissar der UN-Flüchtlingsorganisation (UNRWA) in Gaza, Pierre Krähenbühl, sprach anschließend von einem „Schandfleck auf der Stirn der Menschheit. Die Welt soll sich schämen.“

Die Welt hat sich aber nicht geschämt.

Zwar beschloss eine Konferenz zum Wiederaufbau in Kairo mit der Beteiligung von 50 Staaten (vor allem Europäer, darunter auch Deutschland), viele Milliarden Dollar Finanzhilfe für das verwüstete Gebiet und seine jetzt in den Trümmern und im Elend dahinvegetierenden Bewohner bereitzustellen. Angekommen ist dort aber noch kein einziger Cent. Einmal weil Israel die Weiterleitung jeder Hilfe verweigert, und zum anderen weil die Europäer davor zurückschrecken, Geld in Projekte zu investieren, die Israel im nächsten Krieg mit Sicherheit wieder zerstören wird. Der Autor folgert: „Die israelische Kriegshysterie kann erst dann gebremst werden, wenn Israel von der Internationalen Gemeinschaft gezwungen wird, die Kosten des Wiederaufbaus zu bezahlen. Erst wenn die Tötung und Zerstörung unrentabel werden, hört der Krieg auf.

Es sieht nicht so aus, dass das in nächster Zeit der Fall sein wird. Kriege sind offenbar immer noch sehr profitabel. Gerade erst sind die USA und Israel dabei, einen neuen „Sicherheitspakt“ zu schließen, was ja bedeutet: Israel erhält das neueste Mordwerkzeug von seinem großen Verbündeten. Diesem Staat wird also auch weiterhin alles erlaubt sein! Wer nicht glauben will, welche Grausamkeit und welche Brutalität in dieser Zeit direkt unter unseren Augen möglich sind, sollte dieses Buch lesen. Vermutlich wird dann so mancher während des nächsten Krieges, den Israel nach der Dahiyah-Doktrin führt, auf der Straße nicht mehr für diesen Staat demonstrieren, weil er „Antisemitismus“ am Werke sieht. Bei der Lektüre dieses Buches fällt einem immer wieder Angela Merkels berühmt gewordener Satz ein, den sie 2008 in ihrer Rede vor der Knesset gesprochen und seitdem immer wiederholt hat, dass wir mit Israel die Gemeinsamkeit haben, dass wir dieselben Werte teilen…

Bahij Spiewak: Die Hölle von Gaza. Erkundungen eines Inferno, Laika Verlag, ISBN 978-3-944233-35-2, 11,90 Euro