Antisemitismus-Hysterie in Bremen: Aber niemand kann die Antisemiten konkret ausmachen

Nahostpolitik

Von Arn Strohmeyer, 18.09.2016

Wenn es nicht so ernst wäre, wäre es ziemlich lächerlich und eher eine Posse. Seit Jahren machen die Anhänger Israels in der Stadt – Die Deutsch-Israelische-Gesellschaft (DIG), die Jüdische Gemeinde, Vertreter von Parteien, die Antideutschen und auch die Bremer Medien – wachsenden Antisemitismus in der Stadt aus, die Stadt sei eine „Hochburg des Antisemitismus“, heißt es. Die Jüdische Gemeinde fühlt sich sogar bedroht – nur wer bedroht sie, muss man fragen? Von Attacken in diese Richtung ist nichts bekannt. So muss man denn nach wirklichen Gegnern mit der Lupe suchen. Da geraten die Nahostgruppen (früher waren es zwei, heute gibt es nur noch eine) und die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft (DPG) ins Visier sowie eine Gruppe, die bisher sehr friedlich eine BDS-Aktion durchgeführt hat. Es wird mit allen Mitteln versucht, Veranstaltungen dieser Gruppen – selbst wenn sie jüdische oder israelische Referenten eingeladen haben – zu verhindern. Natürlich hat man das auch mit der Nakba-Ausstellung versucht – aber ohne Erfolg.

In diesem Zusammenhang kam es einmal zu einer absurden Szene. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde demonstrierten vor dem Bremer Überseemuseum gegen eine Veranstaltung des israelischen Menschenrechtsaktivisten Reuven Moskovitz. Als dieser die gegen ihn gerichteten Schilder und Transparente sah, ging er auf die Bremer Juden zu und fuhr sie an: „Seid Ihr verrückt geworden? Ich lebe in Israel und weiß, was dort los ist. Ihr lebt hier im sicheren Bremen und habt keine Ahnung von den Vorgängen dort“

Es herrscht eine regelrechte Antisemitismus-Hysterie in der Stadt, zu der die Medien nicht unerheblich beitragen. So durften im Weser-Kurier mehrere Israel-Anhänger – so der Vertreter der Jüdischen Gemeinde, zwei Politiker der Grünen und der zweite Vorsitzende des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Los Angeles, Rabbi Abraham Cooper, – ihre warnende Stimme erheben und darauf hinweisen, wie weit es mit dem Antisemitismus in Bremen schon gekommen und wie nötig Gegenwehr sei. (Woher der Rabbi in Los Angeles wohl so gut über die Bremer Zustände Bescheid wusste?) Nur ein Vertreter der DPG kam im Weser-Kurier zur Wort. Die TAZ steht ohnehin den Antideutschen nahe.

Die Stimmung wurde auch von dem israelischen Kampagne-Journalisten Benjamin Weinthal kräftig angeheizt, der sich massiv einmischte und ultimativ die Absage von Veranstaltungen oder Raumvermietungen an „Antisemiten“ forderte. In der „Jerusalem Post“ (einer sehr rechten israelischen Zeitung) berichtete er mehrmals über die „antisemitische Hochburg Bremen“. Ständiges Angriffsziel dieser Kreise ist neben der BDS-Gruppe die Palästina-Mahnwache, zu der sich Bremer Persönlichkeiten, ohne eine feste Gruppe zu bilden, jeden Samstag vor dem Bremer Dom versammeln, um für die Freiheit und Selbstbestimmung der Palästinenser zu demonstrieren – was ja nicht ohne Kritik an Israels Politik geht, denn die ist nun mal für die völkerrechtswidrige Besetzung fremden Territoriums und für die Unterdrückung eines ganzen Volkes verantwortlich. Auf den Transparenten der Mahnwache stehen Parolen wie: „Kritik an Israels Politik ist kein Antisemitismus!“, „Wir fordern das Ende der Besatzung!“, „Israels Armee vernichtet die Lebensgrundlagen der Palästinenser“, „Gegen die Zerstörung von Häusern, Brunnen und Olivenhainen!“ sowie ein Zitat des früheren israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor: „Der Antisemitismus nimmt nicht zu, sondern die Sympathien für Israel nehmen ab!“. Außerdem wird eine große Landkarte gezeigt, auf der zu sehen ist, wie das Land der Palästinenser durch den israelischen Siedlungsbau immer mehr schrumpft. Alles antisemitische Parolen? Nein, schlichte Tatsachen.

Obwohl die Veranstaltungen der Kritiker der israelischen Politik und die samstägliche Mahnwache sehr friedlich ablaufen, erhöhten die Vertreter der Israel-Lobby ständig den Druck auf die politisch Verantwortlichen in der Stadt. Die Grünen brachten eine große Anfrage in der Bürgerschaft ein, die an den Senat gerichtet ist. Darin heißt es: „Auch in Bremen wächst die Sorge vor einem erstarkenden Antisemitismus […] Diese Befunde fordern dazu auf, antisemitischen Angriffen und Ressentiments entschieden entgegenzutreten – sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Einstellungsebene, bleibt viel zu tun.“ Die Grünen verlangen vom Senat detaillierte Auskünfte über antisemitische Strömungen, Aktivitäten und Straftaten und wollen wissen, was der Senat künftig dagegen zu tun gedenke. Die Antwort der Stadtregierung liegt noch nicht vor.

Aber der Bremer Bürgermeister, Carsten Sieling, sah sich vor allem nach dem massiven Angriff des Rabbis aus Los Angeles genötigt, die Ehre der Stadt zu verteidigen. Er schrieb in einem Gastkommentar des Weser-Kurier: „In den vergangenen Wochen gab es vereinzelte Versuche, Bremen oder einzelnen Institutionen zu unterstellen, antisemitischem Denken und Handeln nicht entschieden genug entgegenzutreten. Dagegen verwahre ich mich im Namen des Senats, aber auch im Namen aller Bremerinnen und Bremer ganz ausdrücklich. Wer solche Behauptungen aufstellt, verfälscht nicht nur die Wirklichkeit, sondern er fügt unserem Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern großen Schaden zu.“ Da Sieling sich in einem Nebensatz auch dazu bekannte, dass Kritik an Israels Politik möglich sein müsse, rief diese Stellungnahme bei der Lobby nicht gerade Begeisterung hervor.

Nun lud die TAZ (Ausgabe Nord) zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Sind wir antisemitisch?“ ein, an der neben Bremer Lokalgrößen als bundesweit bekannte Experten der deutsch-jüdische Psychologie-Professor Rolf Verleger und Dr. Peter Ulrich vom Zentrum für Antisemitismus-Forschung in Berlin teilnahmen. Es wurden zunächst die üblichen Argumente ausgetauscht. Richtig munter wurde es aber, als der ehemalige Bürgerschaftsabgeordnete der Grünen, Walter Ruffler, aus dem Publikum heraus den TAZ-Moderator Benno Schirrmeister direkt ansprach: „Ich habe mir die Parolen, die diese Leute bei der Mahnwache tragen, angeschaut. Es waren eine ganze Reihe. Ich habe sie mir alle aufgeschrieben und sie sorgfältig durchgelesen. Ich persönlich habe nichts Antisemitisches in diesen Parolen finden können.“ Ruffler fügte hinzu, dass er den zweiten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Grigori Pantelejew, der sich ständig über ansteigenden Antisemitismus in Bremen beklage, um ein Gespräch gebeten habe, um die Vorwürfe zu konkretisieren. Pantilejew ist aus „Zeitgründen“ zu dem Gespräch aber nicht bereit. Ruffler hakte nach und fragte den TAZ-Moderator, wo denn der Antisemitismus in der Stadt in Erscheinung trete. Die bremischen Vertreter auf dem Podium und der Moderator konnten die Frage nicht beantworten.

Die Israel-Anhänger wichen in der Diskussion mangels konkreter Belege für Antisemitismus auf die Rufe einiger arabisch-stämmiger Jugendlicher bei der großen Bremer Demonstration gegen den Gaza-Krieg 2014 aus. Die Jugendlichen hatten „Kindermörder Israel!“ gerufen. Ob diese Jugendlichen hier allerdings ganz bewusst einen aus dem Mittelalter stammenden wirklich antisemitischen Topos benutzten, wie der DIG-Vorsitzende Dr. Hermann Kuhn behauptete, muss doch stark bezweifelt werden. Die jungen Leute hatten wohl eher die Bilder und Nachrichten im Kopf, die sie auf den arabischen Fernsehsendern gesehen hatten. Denn Israels Krieg forderte bei sehr geringen eigenen Verlusten 2145 palästinensische Tote, darunter 577 Kinder.

Über die Randerscheinungen bei diesen Demonstrationen, die meistens sehr friedlich verliefen, hatte der renommierte Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz damals angemerkt: „Ich sehe überhaupt keine neue Qualität. Ich würde auch gern die Wortwahl ‚antisemitische Ausschreitungen‘ hinterfragen. Es haben sich zum Teil seltsame Leute zusammengerottet. Einige haben blödsinnige Parolen gerufen. Das wird von Interessenten mit großem Widerhall als Wiederaufflammen des Antisemitismus dargestellt. Ich beobachte die Szene seit 30 Jahren. Seit 30 Jahren wird damit Politik und Stimmung gemacht.“ Benz sieht die größere Gefahr heute viel mehr in der Feindschaft gegenüber Muslimen. Die Islamophobie arbeite mit ganz ähnlichen Argumentationsmustern und Stereotypen wie der Antisemitismus. Gemeinsam sei diesen Vorurteilen die Einteilung in Gut und Böse sowie das Phänomen der Ausgrenzung: „Das Feindbild der Juden wird heute durch das Feindbild der Muslime ersetzt. Wieder geht es um die Ausgrenzung einer Minderheit. Es ist höchste Zeit, die Diskriminierungsmechanismen zu verstehen und schließlich zu verhindern.“ Solche Ansichten gelten bei Bremer Israel-Freunden sicher als reine Ketzerei, sind aber gerade angesichts der AfD-Erfolge hoch aktuell.

Es klingt schon komisch: Bremen – die „antisemitische Hochburg“, aber niemand kann die Antisemiten konkret ausmachen. Das Dilemma der Israel-Anhänger ist: Sie können einerseits ja nicht zugeben, dass Israels Politik heute der Hauptgrund für Kritik an diesem Staat ist, die dann schnell zum Antisemitismus wird. Und andererseits: Die wirklichen Antisemiten, die Juden hassen, weil sie Juden sind, und all die schändlichen Stereotypen auf sie anwenden, sind rar geworden oder sie treten nicht öffentlich in Erscheinung. Die Aktivisten, die Israels Politik kritisieren, berufen sich dabei aber auf die Menschenrechte und das Völkerrecht – also universalistische Prinzipien. Und wie soll man diese Kritiker der israelischen Politik dann als „Antisemiten“ angreifen? Bei der Hatz auf „Antisemiten“ in Bremen handelt es sich psychologisch gesehen um ein hysterisches Phänomen. Rolf Verleger bemerkt dazu trocken: „Ich denke, in der Stadt gibt es kein besonderes Antisemitismus-Problem, sondern ein besonderes Antisemitismus-Jäger-Problem.“