Der „Islamische Staat“ verdankt seinen Aufstieg vor allem den politischen Fehlern des Westens

Nahostpolitik

Die italienische Publizistin Loretta Napoleoni hat eine grundlegende Analyse des Phänomens IS vorgelegt/ Parallelen zur Entstehungsgeschichte Israels

Von Arn Strohmeyer, 15./16.02.2015

Wie war es möglich, dass eine bewaffnete Organisation, die praktisch vor drei Jahren unbekannt war, heute die mächtigsten Staaten der Welt herausfordert – nicht nur militärisch auf den Kriegsschauplätzen in Syrien und im Irak, sondern auch ideologisch, wobei sie die modernsten Kommunikationsmittel einsetzt? Auf diese Frage sucht die italienische Publizistin Loretta Napoleoni in ihre Buch Die Rückkehr des Kalifen. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens eine Antwort zu geben. Sie schwankt in ihrer Analyse des IS zwischen anerkennender Bewunderung und Ablehnung, verlässt aber nie die Ebene einer rationalen Analyse.

Das Staunen ist angebracht, denn der IS hat in kurzer Zeit ein großes Territorium erobert und darin das Modell eines rudimentären Staates errichtet. Dafür gibt es in der Gegenwart kaum ein anderes Beispiel. Die Autorin nennt als Gründe für den phänomenalen Aufstieg des IS mehrere Gründe. Vor allem aber: Mit der Globalisierung und der Entstehung eines multipolaren Weltsystems haben sich neue Möglichkeiten für jene eröffnet, die die Regeln des in dieser Konstellation veränderten Machtspiels durchschaut haben. Der Sturz Saddam Husseins, die unfähige Politik seines Nachfolgers Maliki, die religiösen Gegensätze zwischen Schiiten und Sunniten in den Griff zu bekommen sowie die gewaltsamen Reaktionen auf den Arabischen Frühling in Syrien hatten ein Machtvakuum geschaffen, das zahlreiche bewaffnete Gruppen nutzten. Aber während sie alle das egoistische Ziel verfolgten, die neu eroberte politische und wirtschaftliche Macht zum Zweck der Ausbeutung der Ressourcen und der Bevölkerung zu nutzen, ging der IS einen anderen Weg. Er verfolgte von Anfang an dasselbe Ziel wie einst die Gründer der europäischen Nationalstaaten, allerdings versteht er unter Nation nicht eine ethnische, sondern eine ethnisch-religiöse Einheit.

Was ihm bei der Realisierung seines Sonderweges vorrangig half, war eine im sunnitischen Islam äußerst attraktive Idee: die Wiedererrichtung des Kalifats. Für Menschen des westlichen Kulturkreises mag die Zugkraft dieser Idee schwer verständlich sein, für Muslime ist sie von großer Faszination. Denn sie verspricht, Schluss zu machen mit der lange währenden Herrschaft, Unterdrückung und Erniedrigung durch den westlichen Kolonialismus und seine Nachfolger. Die modernen arabischen Staaten entstanden erst 1916 durch die sehr willkürlichen Grenzziehungen der Kolonialmächte England und Frankreich (Sykes-Picot Abkommen). Diese Grenzen will der IS auslöschen und den Nahen Osten neu gestalten, wobei die Wiedererrichtung des Kalifats des 7. Jahrhunderts die starke Botschaft ist. Die Autorin schreibt: „Ungeachtet der Gewalt, die der Islamische Staat zur Errichtung dieses Konstrukts anwendet, übt der kosmopolitische und transzendente Charakter des modernen Kalifats auf Sunniten eine ebenso starke Wirkung aus wie die kollektive Erinnerung an das ursprüngliche Kalifat. Während Jahrzehnten predigten Islamisten und islamische Gelehrte, dass die Pracht und der Glanz des Kalifats erneut existieren würden, jener Himmel auf Erden.“ Das Kalifat verspricht Erlösung von den immer noch nicht verarbeiteten traumatischen Erniedrigungen des Kolonialismus und verheißt die Wiedererlangung des Selbstwertgefühls und der eigenen Würde, Erlösung aber auch von den mit dem Westen verbündeten korrupten arabischen Staaten.

Die Autorin erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass andere Staatsgründungen der Moderne sich ähnlich abgespielt haben – etwa die Israels und des Iran. Auch beim Entstehen dieser beiden Staaten spielten die religiös begründete Vergangenheit und ihre Verklärung eine große Rolle, wobei auch die Gewalt –die Nakba in Palästina, die Revolution im Iran – ein probates Mittel waren, um den Anspruch auf vergangene Größe durchzusetzen. Die Gewalt ist dabei – so die Autorin – eine Taktik, die Schrecken verbreiten und den Feind einschüchtern soll, um damit die Asymmetrie des Krieges auszugleichen, indem eine kleine Gruppe gegen eine gut ausgerüstete Armee kämpft – die Zionisten gegen die britische Armee im Palästina der 1940er Jahre und die schiitischen Revolutionäre gegen die persische Armee des Schah 1978/79.

Die Autorin folgert: „Entgegen den Berichten westlicher Medien ist das Kalifat weder brutaler noch barbarischer als andere bewaffnete Organisationen der jüngsten Vergangenheit.“ Das kann keine Rechtfertigung für das brutale Vorgehen des IS sein, es ist aber ein Irrtum zu meinen, dass die westliche Zivilisation weniger gewaltbereit wäre. Man denke nur an die etwa eine Million Tote, die Amerikas völkerrechtswidriger Angriff auf den Irak 2003 zur Folge hatte. An blutigen Beispielen gibt es in der jüngsten Vergangenheit noch viele: Von den deutschen Mega-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg über die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki bis zu den Kriegen in Vietnam, Irak und Afghanistan. Und wenn der IS genozidal gegen die Schiiten vorgeht, die er des Glaubensabfalls beschuldigt, so sei an die Inquisition und ihre Ketzerverbrennungen im christlichen Mittelalter erinnert, die im Namen Gottes vollzogen wurden. Die Autorin schreibt: „In ähnlicher Weise inszeniert das Kalifat heute Enthauptungen und Kreuzigungen.“ Der IS versteht sein brutales Vorgehen als „religiöse Reinigung“, auch dies lässt sich durchaus mit dem fanatischen christlichen Fundamentalismus des Mittelalters vergleichen. Grund zum Hochmut hat das „Abendland“ also nicht.

Wenn der IS mit der Ausübung brutaler Gewalt die Ziele verfolgt, Angst unter seinen Feinden zu verbreiten und potenzielle Anhänger zu bekehren, so ist er damit durchaus erfolgreich. Denn dieses Propaganda-Instrument der Missionierung in den Händen einer siegreichen Armee sowie die Ideologie und Utopie des IS üben unter sunnitischen Muslimen eine globale Anziehungskraft aus, eben die utopische Vorstellung von einem Kalifat-Staat – einer korruptionslosen und unbestechlichen Nation, in der eine Atmosphäre der Brüderlichkeit herrscht und die in perfekter Harmonie mit Gott lebt. Bei der Erschaffung einer solchen politischen Ordnung im Nahen Osten mitzuwirken scheint das Hauptmotiv für junge Muslime (auch aus dem Westen) zu sein, sich diesem „Heiligen Krieg“ anzuschließen.

Die Erfolge des IS sind ernstzunehmen. Nicht nur dass er inzwischen ein Territorium von der Größe Großbritanniens beherrscht, er ist dabei, die Erfordernisse eines modernen Staates zu erfüllen. Neben der Territorialität verfügt er über eine gewissen Souveränität, auch wenn sie bisher nur intern anerkannt wird. Er sorgt in seinem Gebiet für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nach der Scharia und nimmt die Aufgabe wahr, für die nationale Sicherheit zu sorgen. Er versucht außerdem, einen Konsens mit der beherrschten Bevölkerung herzustellen, um so Legitimität zu erlangen. So bemüht sich der IS um den Wiederaufbau der sozialökonomischen Infrastruktur innerhalb des Kalifats, er baut Straßen und setzt zerstörte Wasser- und Stromleitungen wieder instand, für die Ärmsten erbringt er soziale Leistungen. Seine gut ausgerüstete Armee verfügt über mehr als 100 000 Kämpfer. Seinen Propagandakrieg führt er inzwischen mit den modernsten Mitteln der digitalen Technik und unter der vollen Nutzung der sozialen Medien. Die Lektionen der Propaganda, die anwendet, hat er auch im Westen gelernt.

Dass der IS es so weit gebracht hat, ist vor allem auch der politischen Blindheit des Westens – besonders der USA – geschuldet. Hier müssen vorrangig die Wirtschaftssanktionen genannt werden, die US-Präsident Clinton und der britische Premier Tony Blair über den Irak Saddam Husseins verhängt haben. Sie fanden im Westen wenig Beachtung, führten aber dazu, dass der moderne radikale Salafismus im Irak Fuß fassen konnte. Für die sunnitischen Massen, die unter diesen Sanktionen schwer zu leiden hatten, wurde diese Ausprägung des Islam zu einer Quelle des Trostes. Zudem strömten nach dem Sturz Saddam Husseins immer mehr Glaubenskrieger ins Land. Diese islamistische Radikalisierung in der Zeit der westlichen Wirtschaftssanktionen führte dazu, dass sich ein größerer konfessioneller Bürgerkrieg zusammenbraute, „der das Potenzial hatte, die gesamte muslimische Welt zu destabilisieren.“ (Loretta Napoleoni). Dem Westen war all dies genauso entgangen wie die Zunahme von Rebellen- und Widerstandsgruppen in Syrien. Man deutete die Radikalisierung im Irak und in Syrien lediglich als Erscheinungen des „religiösen Fanatismus“.

Die Antwort auf die Frage, wie der phänomenale Aufstieg des IS möglich war, muss also im Zusammenhang mit dem rasant fortschreitenden Zerfall des Nationalstaates in Syrien und im Irak gesehen werden, wozu der Westen seinen Teil durch seine Kriegspolitik, sein Nicht-Verstehen der Entwicklungen oder sein Engagement auf der falschen Seite beigetragen hat. Es ergaben sich zunächst konfessionelle Fronten, friedliche Proteste entwickelten sich dann zu Bürgerkriegen, die inzwischen längst zu modernen Stellvertreterkriegen geworden sind, die wiederum die reichen Golfstaaten finanzieren, um – wie im Fall Syrien – am Erzfeind Iran Rache zu nehmen, der mit Assad verbündet ist. Der IS profitierte von all dem und wusste die neue Lage geschickt zu seinem Vorteil zu nutzen.

Die Antworten, die die Autorin auf ihre Ausgangsfrage gibt, warum der IS erfolgreicher war als der Arabische Frühling, sind überzeugend. Sie argumentiert, dass der Arabische Frühling und der IS zwei Antworten auf dasselbe Probleme sind: die korrupten Regierungen in den Staaten des Nahen Ostens. Der IS ist dabei mit seiner professionellen und hierarchischen Struktur ein durchaus modernes Phänomen. Sein Projekt der Nationenbildung stellt aus westlicher Sicht die größte Gefahr bzw. Bedrohung dar, weil es die bisherige Staatenordnung des Nahen Ostens abschaffen will. Die Antwort des Westens und seiner Verbündeten, auf den Vormarsch des IS ausschließlich mit Bombardierungen aus der Luft und bald wohl auch mit dem Einsatz von Bodentruppen zu reagieren, hält die Autorin für ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, weil sie die Destabilisierung der Region nicht abwenden werden. Ganz im Gegenteil: Die Politik des Westens scheint dem antiken Hydra-Ungeheuer zu ähneln: je mehr Köpfe man ihm abschlägt desto zahlreicher wachsen sie ihm nach. Selbst bei einem Scheitern des IS sieht die Autorin kein Ende der Gewalt im Nahen Osten, weil dann andere bewaffnete Gruppen mit ähnlicher Zielsetzung an seine Stelle treten werden. Die Autorin folgert: „Das Versäumnis des Westens, sich diesem Problem zu stellen, wird für die Weltordnung verheerende Folgen haben.“ Sie empfiehlt deshalb: „So müssen wir uns der Tatsache stellen, dass es in der Region eine neue Macht gibt und dass der Stellvertreterkrieg sich als Bumerang erweisen wird. Entsprechend müssen wir an diese Macht mit anderen Mitteln als dem Krieg herantreten.“

Auf Israel und das Palästina-Problem geht sie in diesem Zusammenhang nicht ein. Aber man muss in diesem Zusammenhang an eine Kolumne von Uri Avnery erinnern. Er kam zu derselben Schlussfolgerung wie die Autorin: Ideen, und mögen sie uns „Abendländern“ noch so fremd erscheinen, sind immer stärker als Bomben. Er riet den politisch Verantwortlichen in seinem Land, das Faktum IS sehr ernstzunehmen und sehr bald mit den Palästinensern eine auf Dauer angelegte Friedenslösung abzuschließen, andernfalls bestände die Gefahr, dass auch Israel in den Strudel der Destabilisierung des Nahen Ostens mit hineingerissen wird.

Der Islamische Staat wird im Westen fast ausschließlich unter dem Aspekt seiner Gewaltexzesse gesehen, was dem „Abendland“ wiederum die Legitimation zum gewaltsamen Eingreifen verschafft. Loretta Napoleonis Analyse des IS und seiner Politik liefert Fakten und Interpretationen zum besseren Verstehen des Phänomens, sie warnt den Westen vor dem Rückfall in alte politische Fehler und zeigt Ansätze zu einem anderen Umgang mit dem „Kalifat“, die vielleicht eher eine Chance haben, der Gewalt im Nahen Osten Einhalt zu gebieten. Ihre Ausführungen verdienen allergrößte Aufmerksamkeit.

Loretta Napoleoni: Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens, Rotpunktverlag Zürich 2015, 18,90 Euro