Ist Israel ein verrückter Staat?

Nahostpolitik

Der frühere Schweizer Diplomat Kurt O. Wyss prangert in einem provokativen Buch die zionistische Politik gegenüber den Palästinensern an

Von Arn Strohmeyer, 14.10.2015

Diplomaten äußern sich zu politischen Streitfragen in der Regel eher zurückhaltend und staatstragend – eben „diplomatisch“, wobei persönliche Ansichten keine Rolle spielen dürfen. Eine rühmliche Ausnahme von diesem Grundsatz macht da der Schweizer Ex-Diplomat Kurt O. Wyss, der Jahrzehnte lang im auswärtigen Dienst seines Landes tätig war – u.a. auch in den Botschaften in Ankara und Damaskus. Er kennt also den Nahen Osten bestens aus eigener Erfahrung und weiß sehr genau, was er in seinem Buch „Wir haben nur dieses Land. Der Israel-Palästinenser-Streit als Mutter aller Nahost-Konflikte“ schreibt. Der Autor redet nicht um die Sache herum, seine Kritik an der israelischen Politik ist klar, eindeutig und gut belegt, und seine Sympathien gelten nicht den „Opfern“, die sich ständig als solche bezeichnen und daraus ihre unbeschränkte Handlungsfreiheit ableiten, sondern den wirklichen Opfern in dieser Auseinandersetzung: den Palästinensern.

Wyss fragt in einem Kapitel ganz ernsthaft, ob Israel ein „verrückter Staat“ ist. Das klingt provozierend, soll es sicher auch sein. Man muss aber gar nicht unbedingt Aussagen von Siedlern (der neuen mächtigen Schicht im israelischen Establishment) – wie der Autor es tut – heranziehen, die davon schwärmen, dass Israel „ein wahnsinniger Staat“ sein soll, damit die Leute „begreifen, dass wir ein wildes Land sind, gefährlich für unsere Nachbarn, nicht normal“, durchaus in der Lage, „die Ölfelder abzufackeln“ oder „den dritten Weltkrieg zu beginnen, einfach nur so.“ Sollte Günter Grass mit seinem Israel-Gedicht doch nicht so ganz Unrecht gehabt haben?

Der Autor lässt auch den früheren Außenminister Avigdor Lieberman zu Wort kommen.

Dieser Araberhasser kann offen dafür plädieren, die Palästinenser aus dem Westjordanland zu vertreiben – und auch die in Israel lebenden Palästinenser (immerhin 20 Prozent der israelischen Bevölkerung) gleich mit. Dieser Mann kann öffentlich bekennen, dass man den „Anderen“ (das sind nach israelischer Sprachregelung Araber und Palästinenser) Angst einjagen müsse, statt selbst in Angst leben zu müssen. Wie er sich das vorstellt, hat er hinzugefügt: „Israel muss ein für alle Mal verrücktspielen, um etwas zu ändern“, soll heißen: in der Region Ordnung schaffen. Ariel Sharon hat sich immer wieder ähnlich geäußert: „Sie [die „Anderen“] müssen Angst vor uns haben“, womit er das israelische Abschreckungskonzept rechtfertigte.

Solche Äußerungen gibt es von israelischen Spitzenpolitikern zu Hauf. So erklärte die als gemäßigt geltende israelische Außenministerin Tzipi Livni: „Israel ist ein Land, das durchdreht, wenn auf seine Bürger geschossen wird – und das ist gut so!“ Die Rechtsextremen, die früher in Israel als „Verrückte“ galten, sitzen heute im Kabinett von Benjamin Netanjahu an den Schaltstellen der Macht. Das Land ist deshalb auf einem sehr gefährlichen Weg. Das sehen auch einsichtige und aufgeklärte Israelis mit großer Sorge – wie etwa der frühere Präsident der Jewish Agency und Ex-Sprecher der Knesset Abraham Burg. Für ihn hat die „Erosion“ in der israelischen Gesellschaft schon begonnen. Wyss zitiert ihn mit der Worten: „Ihre [der extremen Rechten in Israel] kranke Sichtweise droht Israel zu zerreißen. Begriffe wie Vertreibung, Tod, Aushungern und Verfolgung gehören inzwischen zum politischen Dialog, und nicht einmal das Kabinett bildet darin eine Ausnahme. Ihre Stimmen sind laut und deutlich zu hören, oft vom Rednerpult der Knesset, wenn sie über Gaza, Judäa und Samaria und Südlibanon reden. Derselbe Geist, dieselben Worte und dieselbe Logik: Juden und Israelis sind zu Schlägern geworden.“ Und: „Oft habe ich das unbehagliche Gefühl, dass Israel gar nicht weiß, wie es ohne Konflikte leben soll. Ein friedliches, ruhiges Israel ohne plötzliche Ausbrüche von Ekstase, Melancholie und Hysterie wird es einfach nicht geben.“

Es liegt also etwas äußerst Tragisches und zugleich sehr Gefährliches in der Entwicklung dieses Staates, der von seiner Ideologie und Mentalität her nicht in der Lage ist, Zugeständnisse zu machen oder Kompromisse einzugehen, sondern nur die „Lösung“ der Gewalt kennt, weil immer die „Anderen“ schuld sind. Wyss beschreibt diesen sich immer wiederholenden Ablauf so: „Solange man von Gerechtigkeit spricht und die Bevorzugung Israels meint, solange muss sich das blutige Szenario immer wieder von neuem abspielen: Die Militärmaschinerie des jüdischen Staates schlägt von Zeit zu Zeit das als bedrohlich empfundene palästinensische und arabische Gegenüber mit samt seiner Bevölkerungsbasis in die Unterwerfung und schafft eine trügerische Ruhe, womit die Israelis durchaus leben können.“ Frieden so verstanden bedeutet nicht Übereinkommen auf gleicher Augenhöhe und Versöhnung mit dem „Anderen“, sondern deren völlige Unterwerfung – der Preis für diese Nicht-Lösung ist aber die immer währende Fortsetzung des Konflikts. Permanenter Unfrieden eben.

Kurt O. Wyss untersucht das Phänomen Israel und den Konflikt mit den Palästinensern gründlich von allen Seiten und unter allen Aspekten: seiner Geschichte, den Besonderheiten der israelischen Gesellschaft, seiner zionistischen Ideologie, seiner Sicherheits- und Militärpolitik sowie seiner inneren Entwicklungen. Allein dieser Teil des Buches macht seine Lektüre schon wertvoll. Der stärkste Teil des Textes ist aber die Darstellung der israelischen Außenpolitik und ihrer Auswirkungen auf die Region. Hier vermittelt der ehemalige im Nahen Osten tätige Diplomat die tiefsten Einsichten und Kenntnisse. Seine Ausführungen zu diesem Themenbereich sind insofern hoch aktuell, weil sie die derzeitige chaotische Situation dort bestens erklären, die der Westen – besonders die USA und Israel, aber auch die EU-Staaten – in der Region mit ihrer Gewaltpolitik geschaffen haben.

Wyss untersucht dabei immer ganz besonders die Rolle, die Israel bei dieser Entwicklung gespielt hat.

Gemäß dem alten zionistischen Prinzip „je zersplitterter der Feind desto besser für uns“ hat Israel von Anfang an versucht, die arabischen Nachbarstaaten zu schwächen, um so eine Neuordnung des Nahen Osten nach zionistischer Vorstellung zu erreichen. Der erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, hat sich öfter in dieser Weise geäußert, und Ariel Sharon hat das die „Wiederbelebung des Osmanischen Reiches“ genannt, womit er natürlich die israelische Hegemonie über die ganze Region meinte. Der erste israelische Außenminister, Moshe Sharett, hat überliefert, dass Ben Gurion und Moshe Dajan schon kurz nach der Staatsgründung den Libanon besetzen und dort ein den zionistischen Führern genehmes maronitisches Regime einsetzen wollten. Israels spätere Politik und Kriege dienten immer diesen expansionistischen Zielen.

Wyss belegt ausführlich, wie eng die Zusammenarbeit zwischen den amerikanischen Neocons (der politischen Richtung, der auch Präsident George W. Bush angehörte) und Israel war und dass beide keineswegs eine Friedenslösung für den Nahen Osten anstrebten, sondern die Umgestaltung der Region zu einer pax americana-hebraica zum Ziel hatten. Auch wenn Bush mit pathetischer Rhetorik vom „Kampf gegen den Terror“ und von der „Demokratisierung der muslimischen Welt“ sprach, war das nichts als eine Tarnung von Machtinteressen. Wyss schreibt: „Als Teil einer Hidden Agenda galt es, die amerikanische Erdölversorgung sicherzustellen, und gleichzeitig sollte mit der Eliminierung des Regimes von Saddam Hussein dem befreundeten Israel der stärkste arabische Widersacher aus dem Weg geräumt werden, gleichsam als Voraussetzung für Fortschritte im israelisch-palästinensischen Konflikt.“

Israels Regierung und das Oberkommando der Armee standen voll hinter dem Krieg, den die USA 2003 im Irak führten. Peter Scholl-Latour hat schon damals angemerkt, dass der israelische Generalstab besser über die amerikanischen Irak-Pläne informiert gewesen sei als die NATO-Verbündeten. Die Israelis rieten zum „robusten Vorgehen“ im Irak. Opferzahlen spielten dabei keine Rolle. Israel versprach sich vom Sturz Saddam Husseins eine „Lösung“ des Konflikts mit den Palästinensern, weil diese dann einen starken Verbündeten verlieren würden und zu der Überzeugung kommen müssten, dass sich Gewalt nicht lohne. Israel ist also immer dabei, wenn die USA im Nahen und Mittleren Osten Krieg führen, auch wenn es gar nicht mit interveniert.

Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg in Syrien. Ein Zerfallen dieses Staates in ein Patchwork ethno-religiöser Gemeinschaften wie im Irak schon geschehen, wäre ganz im Sinne Israels. Wyss schreibt: „Die Schwächung dieser beiden arabischen Hauptfeinde des jüdischen Staates, die von den USA auf Betreiben Israels im Irak militärisch erzwungen wurde und in Syrien mit verdeckter Unterstützung der Aufständischen gefördert wird, soll mittel- und längerfristig dem jüdischen Staat zugutekommen. Die hegemoniale Stellung Israels wird verstärkt, was wiederum die Vorherrschaft über die einer nationalen Selbstbestimmung beraubten Palästinenser zementieren helfen soll. Diese Vorstellungen zeigen den expansionistischen Weg, den Israel seit dem Sechstagekrieg von 1967 gegangen ist. Die Grundkonzeption zielt auf ‚Hegemonie’. Israel ist mittlerweile ‚so stark geworden, dass es die Destabilisierung der gesamten Region avisieren kann.“

An der chaotischen Situation im Nahen Osten, die vor allem die amerikanische Gewaltpolitik dort angerichtet hat und die sich durch die Flüchtlingsströme auch massiv auf Europa auswirkt, hat also auch Israel seinen Anteil – auch wenn es nur im Hintergrund wirkt. Ob Israel diese Rolle gut bekommt und zu seinem Nutzen sein wird, bezweifelt der Autor zu Recht. Frieden in dieser so leidgeprüften Weltgegend kann es nur geben, so seine Voraussage, wenn Israel Abschied nimmt von der bisher vorherrschenden strategischen Doktrin, die die jüdische Vormacht als allein gültige Richtlinie im regionalen Umfeld sieht. Mit anderen Worten des Autors: Die islamische Welt wird gegenwärtig nur negativ wahrgenommen, sie wird ständig zu der Einsicht gezwungen, dass Israel tun und lassen kann, was es will. Aber einer pax hebraica wird sich die arabische Welt nicht fügen.

Wyss hofft auf einen israelischen Michail Gorbatschow, der die erstarrten Strukturen des zionistischen Staates und seiner Ideologie auflösen und das Land zur Friedensbereitschaft führen kann. Das Erscheinen eines solchen „Erlösers“, der Glasnost und Perestroika bringt, setzt aber im Vorfeld zumindest in Teilen der israelischen Gesellschaft einen Paradigmenwechsel und einen Bewusstseinswandel voraus, der aber – sieht man von der kleinen Minderheit des „anderen“, humanistisch-universalistisch gesinnten Israel ab – nirgends in Sicht ist. Das ist aber kein Einwand gegen den Autor, der mit großem Mut ein wichtiges, weil sehr aufklärerisches Buch über Israel geschrieben hat, das man nur weiter empfehlen kann.

Kurt O. Wyss: Wir haben nur dieses Land. Der Israel-Palästinenser-Streit als Mutter aller Nahost-Konflikte, Stämpfli Verlag Bern, ISBN 978-3-7272-1259-8 (Das Buch ist nur als E-Buch beim Verlag erhältlich.)