Rückfall in die Vormoderne

Nahostpolitik

Die israelische Soziologin Eva Illouz analysiert in ihrem neuen Buch, warum Israel keine liberale Demokratie ist und riskiert, die Zukunft zu verspielen

Von Arn Strohmeyer, 19.08.2017

Die israelische Soziologin Eva Illouz ist eine sehr progressive, „linke“ Wissenschaftlerin, die in der Kritik an der Politik ihres Staates kein Blatt vor den Mund nimmt. Dennoch bekennt sie, dass sie, eine überzeugte Zionistin zu sein. Diese Einstellung stellt sie gleich an den Anfang ihres Buches „Israel“: „Nicht nur haben die Juden ein Recht auf eine nationale Heimstätte, sie haben sogar ein größeres moralisches Recht darauf als die meisten anderen Völker, weil sie auf die längste und eine der leidvollsten Verfolgungsgeschichten der Menschheit zurückblicken.“ Sie sieht die Legitimität des Zionismus darin, den Juden zu Sicherheit und Würde zu verhelfen.

Die Antwort auf dieses Bekenntnis kann nur sein: Natürlich haben die Juden wie jedes andere Volk ein Recht auf Souveränität, Sicherheit, Würde und auf eine Heimstätte – aber haben sie dieses Recht auch auf Kosten eines anderen Volkes, das vertrieben und dezimiert und dessen Land geraubt werden musste, um den jüdischen Traum zu erfüllen? Hier liegt der nicht auflösbare Widerspruch in Argumentationen, wie sie auch Eva Illouz vertritt. Sie glaubt, ihn durch ein leidenschaftliches Bekenntnis zu den Werten des Universalismus auflösen zu können, indem sie fordert, dass Israel nur echte Legitimität und damit eine Zukunft haben kann, wenn es „ein universalistischer und säkularer Staat wird, der alle seine Bürger gleich repräsentiert und die Idee von unser aller Humanität verkörpert.“ Womit sie zugleich ja auch zugibt, dass es um die universalistischen Werte gegenwärtig in Israel nicht gut steht.

Sie vertritt also eine sehr positive Vision, zu fragen ist aber, ob Israel bei ihrer Realisierung überhaupt noch ein zionistischer Staat sein würde, ja ob es überhaupt noch Israel wäre, denn bei einer Gleichheit aller seiner Bürger wird der arabische Bevölkerungsteil mehrheitsfähig. Die politische Elite Israels ist sich dieser Gefahr durchaus bewusst und spricht ganz offen aus, „dass die Menschenrechte Israels Überleben gefährden würden.“ Sind die universellen Werte Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung also mit dem Zionismus vereinbar, wie Eva Illouz hofft? Oder stimmt, was der israelische Philosoph Omri Boehm konstatiert: „Zionismus und Humanismus sind unvereinbar.“

Trotz dieser widersprüchlichen Ausgangslage hat Eva Illouz ein hervorragendes Buch geschrieben, das die Symptome des sehr kranken Patienten Israel schonungslos aufzeigt und die Heilung – wie erwähnt – nur in einer rückhaltlosen Hinwendung zu den Werten des Universalismus sieht: „Mehr denn je müssen Israel und das Judentum heute das Erbe aufgeklärter Juden fortführen, indem sie den Universalismus zu Israels moralischem Horizont machen.“

Was aber sind die Symptome der Krankheit, die Israels Fortbestehen so unsicher machen? Eva Illouz bezeichnet das israelische Regime als einen vor allem von Religiosität, Nationalismus, Sicherheitswahn und militärischer Gewalt geprägten vormodernen Staat, den man nicht als eine liberale Demokratie westlichen Typs bezeichnen kann. Den Zionismus, dessen Ausgangspunkt die Befreiung und Emanzipation des jüdischen Volkes war, sieht sie als eine „Ideologie an, in deren Namen koloniale und gewaltsame Politiken gerechtfertigt werden“, der also seinen ursprünglichen, aus der Aufklärung kommenden Anspruch längst aufgegeben hat.

Wo sieht Eva Illouz nun die Fehlentwicklungen dieses Staates im Einzelnen? Da ist zunächst die große Ungleichheit in der israelischen Gesellschaft, die für die Soziologin eine automatische Folge des Konzepts eines „jüdischen Staates“ ist, der auf einer jüdischen Identität beruht. Eine solche Staatskonstruktion musste zu einer Quelle tiefer Ungleichheiten nicht nur zwischen Juden und Arabern (Palästinensern) werden, sondern auch unter Juden selbst. Der Diskriminierung der orientalischen Juden (Mizrachim) widmet die Autorin, die selbst aus Marokko stammt, mehrere Kapitel ihres Buches. Mit Blick auf diese beiden Gruppen der israelischen Bevölkerung konstatiert sie, dass Israel ein Staat sei, der Rassismus zu einem nationalen Bestandteil seiner Amtsgeschäfte mache.

Dieser Rassismus findet sich auch im Staatsbürgerrecht wieder: Die Staatsbürgerschaft wird nicht nach universalistischen Kriterien (alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich) vergeben, sondern nach ethnisch-religiösen. Die Entscheidung, wer jüdischer bzw. israelischer Bürger ist und wer nicht, entscheidet das ultraorthodoxe Rabbinat, das auch die liberalen Richtungen des Judentums (Reformjuden) ausgrenzt. Die Palästinenser in Israel (ein Fünftel der Bevölkerung) sind Bürger niedrigeren Ranges, bekommen also nicht die volle Staatsbürgerschaft. Ziel einer solchen Politik des Rabbinats ist es, die „Reinheit“ des Judentums zu bewahren, denn die radikale Unterscheidung, Absonderung und Trennung von den Nichtjuden ist– so die Autorin – immer ein Schlüsselmotiv der jüdischen Theologie und seiner religiösen Praxis gewesen.

Wenn aber diese Strategien und Vorgehensweisen Jahrhunderte lang geeignet waren, das Überleben der in alle Welt zerstreuten Judenheit zu sichern, sind sie für einen modernen Staat völlig unangemessen, ja gefährlich, weil Israel den Schritt, den so gut wie alle westlichen Demokratien vollzogen haben, nicht geschafft hat: die Trennung von Staat und Religion. Eva Illouz fragt: „Warum aber ist die Trennung von Staat und Religion, eine Voraussetzung für den Schutz der ‚Gewissensfreiheit‘, für Demokratien so wichtig? Nun, weil ein Staat, der sich durch eine Religion definiert, implizit eine Gruppe über eine andere stellt und privilegiert. Unter Bedingungen religiöser Pluralität wird der Staat dann schnell zum direkten Instrument der Unterdrückung religiöser Minderheiten durch die religiöse Mehrheit. Ohne es zu wissen, institutionalisiert ein solcher Staat Diskriminierung und Rassismus und macht sie alltäglich.“

Aus der engen Verstrickung der Religion in die israelische Politik zieht die Autorin den Schluss, „dass das israelische Modell der Staatsbürgerschaft, in dem Religion und Staat nicht voneinander getrennt werden, gescheitert ist. Wenn der jüdische Staat zwanzig Prozent seiner Bevölkerung ausgrenzt, das liberale Judentum diskriminiert und ‚israelisch‘ nicht als zulässige Form von Staatszugehörigkeit anerkennen kann, dann ist mit seiner politischen Kultur etwas nicht in Ordnung.“

War die Absonderung der Juden von den Nichtjuden in der Diaspora also ein geeignetes und angemessenes Mittel des Überlebens, um sich auch vor dem Antijudaismus und dem Antisemitismus zu schützen, so passt eine solche Strategie nicht zu einem modernen Nationalstaat, weil dann paranoide Ängste und Misstrauen das Verhältnis zur nichtjüdischen Welt bestimmen („die ganze Welt ist gegen uns!“). Politik aus einer solchen Einstellung heraus zu betreiben, führt einen Staat in die internationale Isolation. Auch hier fällt Israel in die vormoderne Welt zurück. Es gleicht immer mehr einem jüdischen Stetl in der osteuropäischen Diaspora.

Eva Illouz nennt weitere Kriterien für unzeitgemäße israelische staatliche Institutionen, die Israels Anspruch widerlegen, eine liberale Demokratie zu sein. Israel ist im Grunde noch ein Feudalstaat, weil er drei Stände hat, die wie in der Feudalzeit nicht miteinander interagieren und über sehr unterschiedliche Rechte verfügen und damit einen ebenso unterschiedlichen Status haben: „Nichtjuden (in der Mehrzahl Araber), Juden, die beten und nicht kämpfen (Orthodoxe und Ultraorthodoxe, die in Jeschiwas studieren und ökonomisch gesehen unproduktiv sind), sowie Juden, die sowohl arbeiten als auch kämpfen (die orthodoxen Nationalisten, die arbeiten und kämpfen, haben im Übrigen mehr mit der betenden als mit der produktiven Klasse gemeinsam.)“ Diese Gruppen (ausgenommen natürlich die diskriminierten Palästinenser) verteidigen mit allen Mitteln den privilegierten Status ihres vormodernen Regimes mit seiner religiösen und ethnischen Exklusivität.

Eine weitere Gefahr für eine moderne Demokratie sieht die Autorin in der starken Stellung der Armee. Zwar herrschen in allen Streitkräften der Welt die Prinzipien von Befehl, Disziplin und Gehorsam, aber in Israel spielen sie durch das von Propaganda und Erziehung verstärkte Gefühl der Gefahr und der Bedrohung eine noch viel größere Rolle. Schon Kinder sind militärischem Drill unterworfen. Israel ist ein Militärstaat par excellence, was heißt, dass die Armee im Leben aller Israelis ständig präsent ist. Demokratische Normen sind dem Militär aber fremd. Eine Zivilgesellschaft, die diesen Namen verdient, so die Autorin, braucht aber Distanz zum Staat – eine Voraussetzung für die Ausübung der Bürgerrechte, für die Entwicklung des Moralbewusstseins und der Fähigkeit, sich mit der Politik und den Institutionen des Staates kritisch auseinanderzusetzen. Eine totale Identifikation mit dem Staat, die in Israel verlangt wird, ist mit den Prinzipien einer liberalen Demokratie nicht vereinbar.

In diesen Zusammenhang gehört auch die außerordentlich wichtige Rolle, die die Geheimdienste – etwa Mossad und Shin Bet – in Israel spielen. Sie unterliegen (ähnlich wie die Armee) keiner demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht, was bedeutet, dass ihnen unter dem Signum der Geheimhaltung alles erlaubt ist. Eva Illouz beschreibt die Gefahr, wenn solche Institutionen sich über Moral und Gesetze hinwegsetzen dürfen: „Menschen – selbst Staatsfeinde – außerhalb aller Rechtsstaatlichkeit zu töten, sendet zwei starke Signale an die Gesellschaft. Das erste besagt, dass der Staat das Recht, die Souveränität und die Macht hat, zu tun und zu lassen, was er will, dass er das Völkerrecht verletzen und die Staatsgrenzen missachten kann, um sich an seinen faktischen und potentiellen Feinden zu rächen. Der Staat verteidigt so eine primitive Form von Gerechtigkeit, die sich über Recht und Gerichte hinwegsetzt. Dadurch wird deutlich, dass er über der Staatsbürgergesellschaft steht, wenn wir darunter das verstehen, was Bürger vor willkürlicher Gewalt und Macht schützt.“

Und weiter: „Zentrale Grundsätze der Demokratie werden so verletzt, da sich die Souveränität der Bürger nicht mehr im staatlichen Handeln niederschlägt, ganz im Gegenteil: Es ist der Bürger, der sich den Forderungen des Staates beugen muss. Das zweite Signal besteht darin, dass sich Gewalt als routinemäßige, akzeptierte Form der Problemlösung durch den Staat darstellt. Gewalt wird normalisiert, wird in Wirklichkeit sogar unsichtbar, weil sie zur Norm wird.“ In einem solchen System, in dem der „Andere“, der nicht zur eigenen Gruppe gehört, der „Feind“ ist, werden dann auch Folter und Misshandlungen zur Routine. Eine solche paranoide Denkweise, die die Welt in Gut und Böse aufteilt, verfolgt dann das einzige Ziel, „die Feinde auszumachen und zu vernichten“, schreibt Eva Illouz.

Rechtlosigkeit, Brutalität und Gewalt zeichnet auch die Siedlerbewegung im besetzten Westjordanland aus, die sich obendrein noch anmaßt, „jüdische Werte“ zu vertreten. Ihre gewalttätigen Übergriffe auf Palästinenser werden vom Staat Israel mitgetragen, denn Polizei und Armee schreiten in solchen Fällen nicht ein, sie schützen nicht die Angegriffenen, sondern die Siedler. Streitkräfte und Geheimdienste haben die rechtlose Gewaltausübung also längst zu Normen gemacht, so dass Eva Illouz schreiben kann: „All dies zusammen verdammt Israel dazu, zu einem jener Länder zu werden, die sich ihre eigene Gewalt nicht mehr bewusstmachen können. Vielen Israelis scheint ihre eigene Gewalt stets von Zauberhand gerechtfertigt und sogar moralisch.“ Die Autorin bescheinigt der Siedlerbewegung einen „primitiven Charakter“ und bezeichnet sie als die „finstersten Kräfte, die eine Gesellschaft ausbrüten kann.“

In den Augen dieser israelischen Soziologin stellt sich der Staat Israel doch etwas anders dar, als deutsche Medien und Israelanhänger ihn in der Regel beschreiben. Interessant ist, wie sie die größte israelische Regierungspartei – den Likud – charakterisiert: „Der neue Likud folgt der Logik von Chaos und Gewalt, wie man sie nur allzu gut aus der Geschichte der europäischen Parteien der extremen Rechten kennt. Er hofft, mit dem Schüren von Gewalt entweder Einschüchterung und Schweigen oder Gegengewalt heraufzubeschwören, die dann ihrerseits seine eigene Gewalt legitimiert und verstärkt.“ Eva Illouz ruft die Bürger ihres Landes dazu auf, sich einer „solchen Politik des Todes“ zu widersetzen.

Die Autorin setzt ihre ganze Hoffnung für die Zukunft auf eine progressive „Linke“, weil sie die einzige Stimme sei, die im Namen einer universalistischen Moral spreche. Diese moralische Vision sei der einzige Weg, der Israel aus seiner tiefen Krise in eine bessere Zukunft führen könne. Aber dieses Prinzip Hoffnung ist nur ein schwacher Trost, denn in Israel hat sich die Linke von der politischen Bühne vollständig verabschiedet, es gibt sie eigentlich gar nicht mehr. Und außerparlamentarische linke Kräfte (Menschenrechtsgruppen und NGO’s) führen am Rande der Gesellschaft auch nur ein Schattendasein, ja sie werden von der Mehrheitsgesellschaft als „Verräter“ angesehen. So ist zu bilanzieren: Eva Illouz hat in ihrem Buch eine glänzende Analyse der israelischen Realität vorgelegt, aber realistische Lösungsmöglichkeiten für die fast ausweglose Krise dieses Staates kann sie nicht anbieten. Aber das ist ja auch gar nicht die Aufgabe einer Wissenschaftlerin, sondern der Politik und die versagt vor dieser Aufgabe vollständig.

Eva Illouz: Israel, Frankfurt/ Main 2015, edition Suhrkamp 2683, ISBN 978-3-518-12683-7, 18.50 Euro